Groteskes Spektakel Löws Team in der Einzelkritik
17.10.2012, 05:29 Uhr
Es ist nicht zu fassen. Bastian Schweinsteiger überlegt, was schiefgelaufen ist.
(Foto: dapd)
Erstmals in der 104 Jahre währenden Länderspielgeschichte gibt eine deutsche Fußballnationalelf einen 4:0-Vorsprung noch aus der Hand. Dabei ist die erste Stunde brillant, der Rest allerdings nicht nur für Bundestrainer Joachim Löw ein Desaster. Was bleibt, ist die Frage: Wie konnte das passieren?
Tore: 1:0 Klose (8.), 2:0 Klose (15.), 3:0 Mertesacker(39.), 4:0 Özil (56.), 4:1 Ibrahimovic (62.), 4:2 Lustig (64.), 4:3 Elmander(76.), 4:4 Elm (90.+3)
Deutschland: Neuer - Boateng,Mertesacker, Badstuber, Lahm - Kroos, Schweinsteiger - Müller (67. Götze),Özil, Reus (88. Podolski) - Klose
Schweden: Isaksson - Lustig,Granqvist, Jonas Olsson, Safari - Wernbloom (46. Källström), Elm - Larsson (78.Sana), Ibrahimovic, Holmen (ab 46. Kacaniklic) - Elmander
Schiedsrichter: Pedro Proenca(Portugal)
Zuschauer: 72.369
Das war jetzt nicht so clever. Im vierten Qualifikationsspiel auf dem Weg zur Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien spielen Deutschlands Fußballer die Schweden eine mitreißende Stunde lang schwindelig und feiern eine Doppelpassorgie. Die Mannschaft von Bundestrainer Joachim Löw zeigt eine der besten Leistungen seit dem Viertelfinale bei der Weltmeisterschaft 2010, als Deutschland in Südafrika mit 4:0 gegen Argentinien gewann. So steht es an diesem Dienstagabend im nicht ganz ausverkauften Berliner Olympiastadion nach exakt 57 Minuten ebenfalls 4:0. Was dann aber geschieht, gleicht einem grotesken Schauspiel. Während die Schweden ihre Aufholjagd starten, verlieren die deutschen Spieler allesamt Überblick und Nerven. Und schauen fassungslos zu, wie die Gäste in der zweiten Minute der Nachspielzeit tatsächlich noch das 4:4 erzielen.
Ein sichtlich mitgenommener Bundestrainer musste hinterher einräumen: "Wir haben alle so eine Situation noch nicht erlebt. In der Kabine herrscht Totenstille, alle liegen auf den Bänken und sind total sprachlos." Eine Erklärung für das Desaster hatte Joachim Löw nicht, abgesehen von der Erkenntnis: "In den letzten 30 Minuten haben wir unheimlich viel falsch gemacht." Jedenfalls kündigte er an: "Das soll uns eine Lehre sein für alle Zeiten, dass man solche Dinge auch konsequent zu Ende bringt." Es mag ihm ein schwacher Trost gewesen sein, dass auch sein schwedischer Kollege nicht so recht wusste, wie er das Spiel erklären sollte. Natürlich sei er unheimlich stolz auf seine Mannschaft, sagte Erik Hamrén. "Trotzdem ist es ein komisches Gefühl hier zu sitzen mit einem 4:4." Fußball, schob er dann noch nach, sei schon ein lustiges Spiel.
Immerhin konnte er sich vorstellen, dass das für den deutschen Kollegen und seine Spieler keine angenehme Nacht wird. "Es muss schrecklich sein für sie." Und er sagte: "Du kannst einer Gewinner sein, auch wenn du ein Spiel verlierst." Er meinte damit, dass er seine Spieler nach dem Rückstand zur Pause aufgefordert habe, nicht zu resignieren und noch einmal alles zu geben. "Das war es, was ich sehen wollte." Unabhängig vom Resultat. Was er nicht sagte: Du kannst aber auch unentschieden spielen - und trotzdem verlieren. Die deutschen Spieler in der Einzelkritik.
Manuel Neuer: Als hätte er es vorher gewusst. "Man darf nie abschalten und muss in den wenigen Situationen, in denen man gefordert ist, voll das sein", hatte der 26 Jahre alte Torhüter des FC Bayern München vor diesem denkwürdigen Spiel im Interview mit dem verbandseigenen Magazin "DFB aktuell" gesagt. Viermal schossen die Schweden in Manuel Neuers 35. Partie für die deutsche Fußballnationalmannschaft den Ball auf sein Tor. Viermal war er drin. So oft wie noch nie in seiner Länderspielkarriere. Das ist für einen, der sich vorher gewünscht hat, endlich einmal kein Gegentor zu kassieren, keine gute Bilanz. Zumal er sich am Ende von der allgemeinen Hibbeligkeit anstecken ließ und alles andere als die Souveränität ausstrahlte, die ihn sonst so auszeichnet.
Jerome Boateng: Weil der Dortmunder Marcel Schmelzer ausfiel und Bundestrainer Joachim Löw seinen Kapitän Philipp Lahm auf die linke Abwehrseite beorderte, kam der 24 Jahre alte Münchner als Rechtsverteidiger zu seinem 28. Länderspiel. Und das in seiner Heimatstadt Berlin. Da dürfte es auch keine Rolle gespielt haben, dass er eigentlich lieber in der Innenverteidigung spielt. Es hätte ein großer Abend für ihn werden können. Übte sich zu Beginn der Partie im Flankenschlagen - und machte das gar nicht so schlecht. Aber was zählt das alles, wenn man am Ende des Tages Teil einer Abwehr ist, die sich in einer knappen halben Stunde viermal geschlagen geben muss? Rhetorische Frage. Nichts natürlich. Auch wenn am Bruch im Spiel das komplette Team beteiligt war.
Per Mertesacker: Was hat er sich gefreut. 28 Jahre ist der Innenverteidiger von Arsenal London alt, die Partie in Berlin war sein 84. Länderspiel - und als er nach 39 Minuten sein zweites Tor für die DFB-Elf erzielt hatte, rannte er zur Bank und ließ sich feiern, als wolle er sagen: Seht her, geht doch! Noch 66 Treffer, und ich habe Gerd Müllers Rekord eingestellt. Am Ende aber lag auch er sichtlich verzweifelt auf dem nassen Rasen des Olympiastadions. Und wird sich gefragt haben, wie das passieren konnte. Dass ausgerechnet er beim dritten Treffer der Schweden zu spät kommen musste. Und beim vierten überhaupt nicht im Bilde war.
Holger Badstuber: Es hätte ein großer Abend für den 23 Jahre alten Abwehrspieler des FC Bayern werden können. Da verletzt sich mit Schmelzer der linke Außenverteidiger, und Badstuber darf in seinem 30. Länderspiel dennoch auf seiner Lieblingsposition in der Mitte verweilen. Hatte vorher gesagt, dass er sich auf den schwedischen Superstar Zlatan Ibrahomivic freut. Und ließ ihm beim ersten Tor für Schweden einfach laufen. Auch bei den Gegentreffern Nummer zwei und Nummer drei stand er nicht unbedingt dort, wo er hätte stehen sollen. Aber wie sagte Joachim Löw hinterher so schön: "Die Defensive hängt immer an der gesamten Mannschaft."
Philipp Lahm: Der Münchner half, weil des Bundestrainers Lieblingsverteidiger passen musste, in seinem 94. Länderspiel am linken Ende der Viererabwehrkette aus, obwohl er seit geraumer Zeit, auch und noch länger beim FC Bayern, ja rechts spielt. Ist dem 28 Jahre alten Kapitän aber egal, schließlich kann er es überall. Vor der Partie hatte er der "Süddeutschen Zeitung" noch erklärt, was genau jetzt Joachim Löw mit seiner Kritik an Schmelzer gemeint hat: "Er wollte sagen, dass hinten rechts und hinten links grundsätzlich die Alternativen fehlen, das ist ja auch so, nicht umsonst wechsele ich ständig von rechts nach links. Aber das hat nichts mit Marcel zu tun." Auch nichts mit Marcel hatte es zu tun, dass die deutsche Abwehr binnen einer halben Stunde vier Gegentreffer hinnehmen musste, obwohl Lahm doch gewechselt war. Der war hinterher ratlos. "So was ist natürlich schwer zu erklären." Sein Fazit: "Wenn man 4:0 führt und es geht 4:4 aus, dann ist was schiefgelaufen." Hört, hört.

Schafft keine Ordnung: Toni Kroos.
(Foto: dpa)
Toni Kroos: Der 22 Jahre alte Mittelfeldspieler des FC Bayern sprang für den verletzten Madrilenen Sami Khedira ein und kam so zu seinem 34. Länderspiel. Er tat das mit der Empfehlung zweier sehenswerter Treffer beim 6:1 gegen Irland in Dublin am vergangenen Freitag. Auch in Berlin spielte er gut, mal grob geschätzt so 60 Minuten. Danach mag so mancher gedacht haben, ob nicht gerade Khedira einer gewesen wäre, der es noch am ehesten geschafft hätte, für Ordnung zu sorgen. Kroos war es jedenfalls nicht. Und sonst? "Das ist ehrlich gesagt schwierig zu erklären. Da sieht man, was passieren kann, wenn es scheinbar entschieden ist und man einen Schritt weniger macht. Schweden hat gekämpft, das 4:1 und 4:2 hätte Warnung genug sein können, aber wir haben den Schalter nicht mehr umlegen können. 60 Minuten hat alles geklappt, dann denkt man, es geht von alleine. Das war der Fehler, das darf uns nicht passieren."
Bastian Schweinsteiger: Auf den 29 Jahre alten Chefstrategen trifft in seinem 97. Länderspiel das zu, was auch für seine Mitstreiter gilt. Als es gut lief, also in der ersten Stunde, glänzte auch der Münchner an der Seite seines Vereinskollegen Kroos im defensiven Mittelfeld. Und als die Schweden dann aufdrehten, war auch er nicht in der Lage, dem Chaos Einhalt zu gebieten. Das wiegt umso schwerer, als dass er einer derjenigen ist, von denen viele genau das aber erwarten. Zum Beispiel er von sich selbst. Könnte gut sein, dass jetzt wieder irgendjemand daherkommt und ihn Chefchen nennt. Abgesehen davon sagte er das, was hinterher alle so oder so ähnlich sagten: "Natürlich ist das unerklärlich. So etwas habe ich noch nie erlebt. Es darf nie im Leben passieren, dass wir nach 4:0 noch Punkte hergeben. Es ist darauf zurückzuführen, dass jeder sich zu sicher gefühlt und einen Schritt weniger gemacht hat. Wenn man das zusammennimmt, kann man auch gegen Schweden noch Gegentore kassieren."
Thomas Müller: Der 23 Jahre alte Münchner legte in seinem 37. Länderspiel auf dem rechten Flügel los wie nichts Gutes und schoss gleich nach zwei Minuten den Ball an den Pfosten des schwedischen Tores. War an drei der vier deutschen Tore als Vorbereiter beteiligt. Je länger die Partie allerdings dauerte, desto mehr verfestigte sich der Eindruck, dass das mit dem Toreschießen wieder nichts wird. Irgendwie hat dieser Müller kein Glück. Da mag es ein schwacher Trost gewesen sein, dass es am Ende für die gesamte Mannschaft nicht rund lief. Nach 67 Minuten musste er raus, für ihn kam der 20 Jahre alte Dortmunder Mario Götze ins Spiel und zu seinem 19. Länderspieleinsatz, was mit seiner Rückennummer korrespondierte. Als er kam, führte die deutsche Mannschaft noch mit 4:2.
Mesut Özil: Einen Tag nach seinem 24. Geburtstag zeigte der Madrilene in seiner 43. Partie im Trikot des DFB, dass er Fußball spielen kann und von daher in der Mittelfeldzentrale gut azfgehoben ist. Keine neue und auch keine überraschende Erkenntnis, aber immer wieder schön anzuschauen. Aber eben nur, wir hatten es erwähnt, eine Stunde lang, da kann seine Leistung noch so brillant gewesen sein. Nicht nur bei seinem seiner sehenswerten Direktabnahme zum vierten deutschen Tor oder bei seinem genialen Hackentrick nach der Pause im Strafraum des Gegners, sondern auch als ständig bereite Anspielstation. Als es ernst wurde und es darum gegangen wäre, einen immer knapper werdenden Vorsprung, wenn schon nicht souverän, so doch wenigstens irgendwie über die Zeit zu retten, war Özil keine große Hilfe.
Marco Reus: Nach seinem Doppelpack in Irland glänzte der 23 Jahre alte Dortmunder in seinem 13. Länderspiel als Torvorbereiter. Legte grandios los und spielte großartig weiter, immer aktiv, setzte bei Ballverlust stets nach, griff früh an und versprühte solch eine Freude am Spiel, dass er für sich in Anspruch nehmen kann, als das derzeit größte Versprechen der deutschen Mannschaft zu gelten. Als ein Spieler, der den Unterschied ausmachen kann. Nur gegen die Schweden war das letztlich wenig wert. Wobei an dieser Stelle, so unpopulär das auch sein mag, kurz darauf hingewiesen sei, dass die deutsche Mannschaft immerhin nicht verloren hat. Reus kassierte übrigens zwei Minuten vor dem Ende der Partie seine zweite Gelbe Karte in dieser WM-Qualifikation. Und muss nun im März nächsten Jahres nicht mit nach Kasachstan. Für ihn kam in der 88. Minute Lukas Podolski. Da führte die deutsche Mannschaft noch mit 4:3.
Miroslav Klose: Wir hätten viel darauf gewettet, dass sich er 34 Jahre alte Teamsenior nach der Pause in der Kabine bleibt. Schlicht und ergreifend aus Respekt vor Gerd Müller. Denn in der ersten Halbzeit seines 126. Länderspiels hatte der Klose seine Tore Nummer 66 und 67 erzielt. Und hat damit nur noch eins weniger auf dem Konto als der Mann, den sie früher, als das noch salonfähig war, den Bomber der Nation nannten. Abgesehen davon war Klose einer derjenigen, denen es noch am wenigsten anzukreiden ist, dass am Ende alles derart aus dem Ruder lief. Oder wie der Bundestrainer es im schockähnlichen Zustand kurz nach der Partie formulierte: "Aus dem Ufer gelaufen."
Quelle: ntv.de