Diese Saison ist alles anders Warum Leverkusen Meister wird
21.12.2010, 15:58 Uhr
Dieses Team funktioniert.
(Foto: REUTERS)
Nein, in der Überschrift wurde kein "nicht" vergessen. Einen solchen Artikel zu schreiben wäre ja auch keine Kunst. Ganz im Ernst: Bayer 04 kann den Fußballern von Borussia Dortmund noch in die Parade fahren und den ersten Meistertitel der Vereinshistorie einfahren. Die Jagd ist eröffnet!
So, genug gelacht über den Titel dieses Artikels. Jeder vernünftig denkende Mensch weiß, dass man in Dortmund schon mal den Rathaus-Balkon für die Meisterfeier herrichten kann. Zehn Punkte Vorsprung hat der Fußball-Bundesligist auf den Drittplatzierten Bayer Leverkusen nach 17 Spielen. Was soll da noch passieren?
Und überhaupt: Bayer Leverkusen als die Mannschaft zu nennen, die den BVB noch vom Thron stürzen kann, ist ja der blanke Hohn. Obendrein sind die Zeiten, in denen der Werkself wenigstens erst auf den letzten Metern der Sprit ausging, sowieso vorbei. "Vizekusen" war gestern. In den letzten Jahren war es am Rhein schon nach der Hinrunde mit der Herrlichkeit vorbei, da nistet sich früher oder später eine handfeste Winterdepression ein.
Bayer hat gelernt
Ja, keine andere Mannschaft ist mit so vielen Traumata behaftet wie Bayer. In den Winterpausen der letzten beiden Jahre wurde dem Team von den Medien regelrecht eingetrichtert, der Einbruch sei nur eine Frage der Zeit. Aber vielleicht ist die finstere Vergangenheit gerade jetzt ein Vorteil, wäre es doch nur folgerichtig, wenn die Einbruchs-Veteranen vom Rhein aus den zahlreichen Tiefschlägen gelernt hätten. Zumindest sahen wir in der letzten Saison ein erstes vorsichtiges Aufbäumen gegen den Verlierer-Ruf – da blieb das Team nach der Winterpause immerhin noch sieben Spiele ungeschlagen.
Nein, Arturo Vidal scheut auch weiterhin keinen Zweikampf.
(Foto: REUTERS)
Erheblich dazugelernt hat auch der beste Leverkusener der Hinrunde, der chilenische Nationalspieler Arturo Vidal. Der war bisher mehr Heißsporn als Fixpunkt, sah in den vergangenen drei Spielzeiten in 84 Bundesligaspielen stolze 30 gelbe Karten und verabschiedete sich zwei Mal mit gelb-rot vorzeitig. Mit 14 gelben Karten war Vidal in der letzten Saison unangefochtener Spitzenreiter in der Verwarnungs-Statistik. In dieser Hinserie allerdings steuerte der 23-Jährige seiner imposanten Karton-Sammlung nur einen einzigen bei. An Bissigkeit büßte er trotzdem nichts ein – der Chilene ist zweikampfstark wie eh und je. Außerdem sprechen acht Tore (auch wenn sechs davon Elfmeter waren) und sechs Assists eine deutliche Sprache.
Erfahrung hilft
Im Gegensatz zum BVB, wo Nationalspieler Sebastian Kehl nach einem Sehnenriss noch einiges an Anlaufzeit brauchen wird, kann Leverkusen diese Saison neben hoffnungsvollen Talenten wie Sidney Sam oder Stefan Reinartz auf geballte Erfahrung setzen. Dabei gehören Spieler wie Simon Rolfes (28), Tranquillo Barnetta (25) oder eben Mittelfeld-Lenker Vidal noch lange nicht zum alten Eisen. In der Abwehr gibt der Finne Sami Hyypiä für gewöhnlich den Fels in der Brandung. Seinen Mangel an Schnelligkeit gleicht der 37-Jährige mühelos durch ein überlegenes Stellungs- und Kopfballspiel aus. Und wer mit dem FC Liverpool die Champions League gewonnen hat, den dürfte das Loser-Image seines Arbeitgebers sowieso nicht tangieren. Ähnliches gilt natürlich für Rückkehrer Michael Ballack, der definitiv weiß, wie sich Meistertitel anfühlen und wie man sie sich holt.
Über allen thront Trainer-Oldie Jupp Heynckes, dessen zwei Meisterschaften mit dem FC Bayern und der Gewinn der Champions League mit Real Madrid Erfolgsnachweis genug sein sollten und seinen Ansprachen bei den Spielern Glaubwürdigkeit verleihen. Keine Frage, wenn der Weltmeister von 1974 redet – und wie man von allen Seiten hört, tut er dies in jeder Lage mit einer ganz neuen Gelassenheit – hören alle gebannt zu.
Hungrig bis ins hohe Alter
Da ist aber noch ein Vorteil, der Bayer zum ernsthaften Titelaspiranten macht. So fielen Schlüsselspieler wie Michael Ballack und Stefan Kießling beinahe die komplette Hinrunde aus. Sie versprechen nicht nur eine weitere Qualitätssteigerung, sondern dürften nach ihren Verletzungen auch andere Probleme haben als die Leverkusener Enttäuschungen der Vorjahre. Kießling hat bei der WM Blut geleckt und will Bundestrainer Jogi Löw zeigen, dass er sich mit dem erweiterten Kader der Nationalelf nicht zufrieden gibt. Ballack ließ seine Rückkehr ins DFB-Team offen, würde es aber in jedem Fall genießen, durch seine Leistung die öffentliche Diskussion um das Kapitänsamt erneut anzuheizen.
Das Beispiel von Spielgestalter Renato Augusto zeigt, dass lange Auszeiten im Nachhinein belebend wirken können. Der Brasilianer wurde letzte Saison vom Verletzungspech verfolgt wie kaum ein anderer, kämpfte sich zurück und kann mit vier Treffern und drei Vorlagen in 961 gespielten Minuten auf eine sehr ordentliche Bilanz verweisen. Zur Belohnung winkt ihm nun das Debüt in der Nationalelf seines Heimatlandes. Verläuft die Rückkehr von Stefan Kießling und Michael Ballack in die Leverkusener Startelf ähnlich gut, sollte Dortmund sich nicht allzu viele Schwächephasen gönnen.
Zunächst müssen sich beide Profis jedoch dem harten Konkurrenzkampf im eigenen Team stellen. Auf Ballacks Position hat Leverkusen mit Lars Bender, Stefan Reinartz und Hanno Balitsch hochwertige Alternativen, die ihre Sache in der Hinrunde ordentlich gemacht haben. Simon Rolfes dürfte dort nach der Winterpause gesetzt sein und neben ihm macht der vielseitige Vidal die Sechser-Position nur frei, wenn er verletzt ist oder in der Offensive gebraucht wird. Stefan Kießling muss sich mit den zwei Hochkarätern Eren Derdiyok und Patrick Helmes auseinandersetzen. In jedem Fall wird der Konkurrenzkampf belebend wirken – und sollten die arrivierten Rückkehrer ihrer Form doch hinterherlaufen, hat man noch immer Alternativen.
Der BVB schlägt sich selbst
In Lauerstellung: Michael Ballack und Stefan Kießling.
(Foto: picture alliance / dpa)
Und noch etwas: Wenn Leverkusen so oft an den eigenen Nerven gescheitert ist, warum sollen die Dortmunder davor gefeit sein? So haben nur die wenigsten der Spieler, die das Durchschnittsalter des Borussia-Kaders auf 24,5 Jahre heben, auch tatsächlich Chancen auf die Startformation. Und die Frage, ob junge Spieler mit einer Sieglos-Serie ähnlich gut umgehen können, wie die international Erfahrenen, stellten sich viele schon bei den zuletzt obligatorischen Leverkusener Rückrunden-Einbrüchen der letzten Jahre. Zudem zeigt das Beispiel Hoffenheim, dass bei einer jungen Mannschaft, die in der Hinserie auftrumpft durchaus eine desillusionierende zweite Hälfte folgen kann. Der BVB geht nun mit zwei Rückschlägen in die Pause – dem Aus in der Europa League und der Niederlage gegen die Frankfurter Eintracht. Und wenn der Rückrundenauftakt beim Verfolger aus Leverkusen danebengeht, könnte das eventuelle Selbstzweifel nähren.
Tranquillo Barnetta im Hinspiel bei Borussia Dortmund (2:0 für Leverkusen).
(Foto: picture alliance / dpa)
Zudem wird die Konkurrenz im In- und Ausland medial sicher noch den ein oder anderen Spielerwunsch und damit Unruhe nach Dortmund senden. Unlängst kursierten Gerüchte, der FC Bayern habe eine Rückkaufoption auf Abwehr-Ass Mats Hummels. Real Madrid bekundete Interesse an Lucas Barrios und hat offenbar wieder Gefallen an deutschen Spielern gefunden. Und natürlich hält man auch in der englischen Premier League stets nach laufstarken Spielern Ausschau. Wir alle wissen, dass Männer das Multitasking nicht gerade erfunden haben – ein Spieler, der sich zu intensiv mit seiner (finanziellen) Zukunft beschäftigt, baut im Allgemeinen auf dem Rasen ab.
Fazit: Gewinnt die Werkself den Rückrundenauftakt gegen den BVB, würde sie nicht nur die Position des Konkurrenten schwächen, sondern auch die Zweifel an einer erneuten Halbserienkatastrophe denkbar schnell verstummen lassen. Die Qualität im Kader ist so hoch wie lange nicht, die Mischung aus Jung und Alt perfekt und gerade die Rückkehrer sollten vor Ehrgeiz brennen. Und seien wir doch mal ehrlich: Verdient hätten es die Leverkusener auf jeden Fall. Das werden selbst die ewigen Nörgler zugeben müssen, die einem Verein, der seit 1904 besteht und dessen nun (rechtlich geschützter) Spitzname "Vizekusen" in den Sprachgebrauch des deutschen Fußballs eingegangen ist, allen Ernstes die Tradition absprechen.
Quelle: ntv.de