Deutscher Trainer auf dem Zenit Wie Roger Schmidt Benfica Lissabon wiederbelebt hat
29.05.2023, 20:13 Uhr
Roger Schmidt kann alles, sogar fliegen.
(Foto: picture alliance/dpa/AP)
Sein erstes Jahr bei Benfica Lissabon krönt Roger Schmidt mit dem Gewinn der 38. Meisterschaft. Was er im Anschluss erlebt, beeindruckt ihn spürbar. Der 56-Jährige erfährt in Portugal eine für ihn außergewöhnliche Wertschätzung. Zumindest in Deutschland war das nie so.
Eine solche Wucht hat Roger Schmidt noch nie erlebt. Der 56-Jährige kennt natürlich den Marquês de Pombal, einen der zentralsten Plätze in Lissabon, aber so wie tief in der Nacht zum Sonntag kennt er ihn nicht. Zehntausende Benfica-Fans stehen auf dem gigantischen Kreisverkehr, und in diesem Moment schauen sie gebannt auf ihren deutschen Trainer. "Rrrrroger, Rrrrroger, Rrrrroger", sie rufen seinen Namen, sie wollen jetzt seine Worte hören. Da steht Schmidt also mit dem Mikrofon, er lächelt etwas verhalten und dankt den Anhängern für ihre Unterstützung.
Nicht nur einmal benutzt er das Wort "unglaublich", er wirkt sichtlich überwältigt, schon nach ein paar Sekunden übergibt er das Wort an Präsident Rui Costa. Wirklich begreifen kann Schmidt die Bedeutung des Gewinns der 38. Meisterschaft erst nach wenigen Stunden Schlaf am nächsten Tag. "Ich habe so etwas noch nie gesehen. Das muss etwas Einzigartiges oder mindestens eine der besten Meisterfeiern Europas sein", schwärmt der Ex-Coach von Bayer Leverkusen.
Es passt gewissermaßen zu seinem ersten Jahr als Trainer von Portugals Rekordmeister. Denn so etwas wie ihn Lissabon ist für ihn tatsächlich neu. Schon nach wenigen Monaten eroberte er mit seinem imposanten Offensivfußball und einer noch imposanteren Erfolgsserie die Begeisterung der Fans, mit dem ersten Meistertitel seit 2019 schaffte er es in ihre Herzen. Der vom Wesen her eher zurückhaltende Sauerländer erfährt bei Benfica eine Verehrung, wie er sie noch nie in seiner Karriere erfahren hat.
Als Roger Schmidt nicht vom Platz gehen wollen
Nicht nach der bis dahin einzigen Meisterschaft seiner Laufbahn 2014 mit Red Bull Salzburg, wo nicht mal ansatzweise eine Stimmung wie am Wochenende in Portugals Hauptstadt herrschte. Auch nicht in China oder bei der PSV Eindhoven, wo er sich im vergangenen Sommer mit dem Pokalsieg verabschiedet hatte. Und erst recht nicht in Deutschland, obwohl bis heute in Leverkusen nicht wenige vom besten Trainer seit mehr als zehn Jahren sprechen. "Schmidt hat außergewöhnliche Kenntnisse der physischen, technischen und psychologischen Anforderungen dieses Sports. Er war die perfekte Wahl", lobte am Montag der ehemalige Benfica-Profi Álvaro Magalhães in der Sportzeitung "A Bola".
Aber warum existiert dieses Bild von ihm nicht in Deutschland? Bis heute reicht ein Blick auf seinen Wikipedia-Eintrag, um Antworten darauf zu finden. Klar, zum einen war und wird Schmidt nie ein Entertainer wie Jürgen Klopp sein, also einer, der die Öffentlichkeit allein mit der Wucht seiner Worte für sich einnehmen kann. Zum anderen aber ist da eben dieser Wikipedia-Unterpunkt namens "Kontroversen", der zwei Vorfälle aus seiner Zeit bei Bayer auflistet.

Die Kontroverse beim Spiel gegen Dortmund wurde zum Problem für Roger Schmidt (3.v.r).
(Foto: picture alliance / Sven Simon)
Im Februar 2016 war Schmidt beim Bundesliga-Spiel gegen Dortmund nach einer Reklamation auf die Tribüne verwiesen worden. Er wollte diese Strafe aber nicht akzeptieren und blieb einfach am Seitenrand stehen. Bis Schiedsrichter Felix Zwayer das Spiel für mehrere Minuten unterbrach. Monate danach legte er sich mit dem damaligen Hoffenheim-Coach Julian Nagelsmann an und wurde wieder auf die Tribüne verwiesen. Diesmal ging er direkt. Das Bild des provokanten Starrkopfes hatte sich in den Köpfen vieler Beobachter da aber längst festgesetzt.
Schmidt hatte Schwierigkeiten, damit umzugehen. Schon in den Anfangsmonaten seiner Zeit in Leverkusen entwickelte sich ein kompliziertes Verhältnis zu manchen Journalisten. In der Liga begeisterte seine Mannschaft schnell mit dem für ihn typischen Pressingfußball, auf den Pressekonferenzen wirkte er trotzdem immer mal wieder angespannt oder gereizt. Er weiß das alles und hat daraus gelernt, und natürlich ist der Roger Schmidt von heute ein anderer als der von 2014 bis 2017 unter dem Bayer-Kreuz.
Nicht einmal der Kapitän kannte Roger Schmidt
Doch das etwas verzerrte Bild von ihm in Deutschland ist vor allem wegen ebenjener "Kontroversen" geblieben. In Portugal ist das anders, weil die allermeisten Benfica-Fans ihn vor einem Jahr nicht mal kannten. Selbst Kapitän Nicolás Otamendi hatte keine Ahnung, wen sein Klub im Sommer 2022 verpflichtet hatte. Am Samstagabend, nach dem entscheidenden 3:0 im Saisonfinale gegen Santa Clara, lagen der argentinische Weltmeister und sein Trainer sich dann sekundenlang in den Armen.
"Roger Schmidt: Der Trainer, der die Revolution im Estádio da Luz angeführt hat", titelte das "Journal das Notícias" im Anschluss. "Roger Schmidt: Der ruhige Reformator", schrieb der Schriftsteller Bruno Vieira Amaral am Montag in einem Gastbeitrag der "Tribuna Expresso". Amaral erinnert an die Zweifel, die Schmidts Verpflichtung vor einem Jahr begleiteten. Plötzlich kam da dieser Deutsche, den kaum jemand auf dem Schirm hatte, was sollte dieser Schmidt schon über den Fußball in Portugal wissen? Und dann diese stoische Ruhe, mit der er die Partien seiner Mannschaft am Spielfeldrand verfolgte.
Aber Schmidt benötigte nur wenige Wochen, um die Skepsis zu beseitigen. Er formte eine Mannschaft, welche die Fans mit ihren Sturmläufen begeisterte. Lediglich eine kleine Schwächephase von Anfang bis Mitte April erlaubte sich sein Team, ansonsten liest sich die Bilanz dieser Saison beeindruckend: Bester Angriff (82 Tore), beste Defensive (20 Gegentore), längste Erfolgsserie (13 Spiele ohne Niederlage). Schmidt hat einen Club wiederbelebt, der nach eigener Wahrnehmung vor einem Jahr am Boden lag. Vier Jahre ohne Meisterschaft sind für einen Verein wie Benfica eine (viel zu) lange Zeit.
Schlüsselspieler Grimaldo wechselt in die Bundesliga
Der Gewinn dieses Titels ist auch ein persönlicher für ihn, der als Trainer lange Zeit ein Suchender war. Schmidt arbeitete in den unterschiedlichsten Ländern und Ligen, seine Trainerstationen lesen sich wie die eines Erlebnisreisenden. Wirklich angekommen scheint er aber erst jetzt. Vom Wochenende kursieren Videos von ihm, wie er auf die Meisterschaft mit verschiedenen Bieren anstößt. Mal nimmt Schmidt einen Schluck aus einer riesigen Flasche, mal hält er eine Dose in der Hand.
Die Benfica-Fans feiern ihn für diese Bilder, bis heute wurden sie im Internet zigfach angeschaut. Im portugiesischen Wikipedia-Eintrag von ihm existiert der Unterpunkt "Kontroversen" übrigens nicht mal. Natürlich genießt Schmidt diese Wertschätzung. Und wenn es nur aus dem Grund ist, dass er sie bisher noch nie erlebt hat. Aber er ist auch lange genug im Geschäft, um sich nicht darauf auszuruhen.
Schmidt weiß, dass die Zukunft Veränderungen bringen wird. Aufstrebende Top-Talente wie Gonçalo Ramos, António Silva oder João Neves haben schon jetzt den Blick internationaler Spitzenvereine auf sich gezogen. Linksverteidiger Alejandro Grimaldo, Benficas bester Vorlagengeber in der abgelaufenen Spielzeit, hat bereits einen Vertrag bei Bayer Leverkusen unterschrieben. Wie sein Team in der kommenden Saison aussieht, ist zum jetzigen Zeitpunkt völlig unklar. Darum war Schmidt bereits am Wochenende bemüht, die jetzt aufkommenden Erwartungen für das nächste Jahr zu bremsen.
Als ein Journalist ihn am Sonntag auf ein Zitat seines Sohnes anspricht, wonach er als Trainer den Benfica-Fans den Traum von der 40. Meisterschaft erfüllen will, muss Schmidt schmunzeln. "Ich habe das nicht gehört. Aber ich glaube nicht, dass er das ernst gemeint hat", sagt er mit Blick auf seinen Sohn. "Wie ich schon gesagt habe: Es lohnt sich im Fußball nicht, zu weit nach vorne zu schauen."
Quelle: ntv.de