Rückzug stärkste Leistung bisher Biles zeigt, wer Boss ist
28.07.2021, 11:00 Uhr
So stark hat Simone Biles noch nie performt: Die Turnerin macht mit ihrem Rückzug in Tokio einen Sprung der Stärke nach vorne. Biles zeigt, dass (mentale) Gesundheit über allem steht - und dass nur sie selbst über sich bestimmt. Ihr Vermächtnis wird dadurch noch größer.
"Win No Matter What", gewinnen um jeden Preis. So lautet das Narrativ in der erfolgsorientierten Gesellschaft der Vereinigten Staaten von Amerika. Vor dem Hintergrund des US-Gründungsmythos "Vom Tellerwäscher zum Millionär", des Self-Made-Millionärs, gilt aufgeben als Schwäche. Doch Simone Biles' Rückzug vom Kunstturn-Teamfinale und vom Start im Einzel-Mehrkampf bei den Sommerspielen in Tokio ist genau das Gegenteil: Er ist solch ein Schritt der Stärke wie keine ihrer unzähligen Gold-Leistungen zuvor.
Im Sport, besonders in der US-Sportwelt, wird gerne der Begriff "soft" benutzt. Soft ist nach diesem Verständnis eine Sportlerin oder ein Sportler, die oder der "keine Eier hat". Nicht hart genug für die auf Erfolg getrimmte Sportwelt ist. Diese abfällige Einordnung wird auch Biles treffen. Doch die Erfolgreichste aller Erfolgreichen hat ein Statement der Stärke gesetzt und die vielleicht härteste Entscheidung ihrer Karriere getroffen. Sie hat ihre Grenzen erkannt und daraus trotz all des Drucks und der Erwartungen, die auf ihr lasten, die Konsequenzen gezogen. Dafür gebührt ihr Respekt.
Nur Biles selbst ist Boss
Biles' Mentalität ist ihre wahre Größe. Damit gewann sie nicht nur vier Mal Gold bei den Olympischen Spielen und 19 Mal Gold bei Weltmeisterschaften und performte Sprünge und Darbietungen, die eigentlich unmöglich schienen. Die Ausnahmeathletin hört nun auch im richtigen Moment auf Körper und Psyche, anstatt einfach funktionieren und unbedingt noch mehr Gold gewinnen zu wollen. Biles beschützt sich - ein menschlicher Schritt, ein überaus starker Schritt. Und der einzig richtige und erforderliche.
Denn im Leistungssport, in dem hier fitgespritzt und dort mit Mittelchen nachgeholfen wird, sind Körper und Geist Mittel zum Zweck. Sie müssen funktionieren für den Erfolg. Klappt das mal nicht, wird nachgeholfen. Bremsen und innehalten? Keine Zeit. Biles präsentiert der globalen Sportwelt nun, dass dies sehr wohl möglich ist, welche Werte wirklich wichtig sind - und dass auch Superstars nicht immer funktionieren müssen. Dass auch die Allerbesten keine Maschinen sind, dass die Sportwelt manchmal ungesund ist - aber dass Gesundheit, mentale wie physische, über allem steht. Es ist ein großes Zeichen. Die Athletin beweist: Ein Schritt zurück bedeutet oft einen großen Sprung nach vorne.
Biles zeigt mit ihrer Entscheidung auch, wer der Boss ist. Und zwar nur sie selbst. Kein Verband, kein Erfolgsdruck, keine Medien können über sie bestimmen. Das passt zu der Weltklasseturnerin, die als personifiziertes "female Empowerment" gilt, als die weibliche Ermächtigung. In einer Gesellschaft, die sich immer noch weigert, den vollen Wert Schwarzer Frauen anzuerkennen, ist sie stark und selbstbewusst und hat keine Scheu, sich für sich selbst einzusetzen.
Biles' Vermächtnis nun noch größer
Solche selbstbestimmten Entscheidungen wurden (Schwarzen) Frauen historisch in Gesellschaft und Sport abgesprochen. Biles dient durch ihren Rückzug nach vorne nun erneut als Vorbild für Mädchen und junge Frauen und macht ihnen Mut, zu sich zu stehen und stolze Frauen und/oder Frauen of Color zu sein. Sie signalisiert ebenfalls, dass offene Kommunikation über das immer noch oft als Tabu geltende Thema psychische Erkrankungen wichtig ist und nimmt Menschen mit solchen Leiden Scham und Belastung.
Simone Biles hätte sechs Goldmedaillen gewinnen können bei den Spielen in Tokio. Gibt sie nun ihre einmalige Chance auf, sich in alle Rekordbücher einzutragen und sich unsterblich zu machen? Nein, ihr Vermächtnis wird durch ihre nun an den Tag gelegte Achtsamkeit für mentale Gesundheit noch viel größer. Denn Biles ist eine emanzipierte Athletin, die viel mehr als die Sportwelt bewegt - und nun sogar US-Gründungsmythen durchbricht. Mehr gewinnen geht nicht.
Quelle: ntv.de