Perfektion und absurde Dominanz Die Sensations-Chinesen
06.08.2021, 17:53 Uhr
Brutal beeindruckend.
(Foto: REUTERS)
Wohl keine andere Goldmedaille wäre bei diesen Olympischen Spielen schwerer zu gewinnen gewesen als die im Mannschaftswettbewerb der Tischtennis-Herren. Seit Jahrzehnten sind die Chinesen dominant. Doch was sie in Tokio zeigen, das ist irgendwie nicht von dieser Welt.
Vielleicht hat Dimitrij Ovtcharov in seinem Leben nie besser Tischtennis gespielt als im Einzel-Halbfinale gegen Ma Long. In einer epischen Schlacht hatte Deutschlands Topspieler dem vermutlich besten Spieler aller Zeiten einen gnadenlosen Kampf angeboten. An Dynamik, Spannung und Drama war dieses Duell in den 14 Tagen von Tokio nicht zu überbieten. In keiner anderen Sportart. Am Ende eines wahnsinnigen Spiels musste sich Ovtcharov nur knapp geschlagen geben. Er musste aber wieder einmal anerkennen: Dieser Ma Long, der ist eine Sensation.
Das bittere an dieser Erkenntnis: Ma Long ist kein Einzelfall. Zumindest kein chinesischer Einzelfall. Denn da ist ja auch noch dieser Fan Zhendong, der Weltrangliste-Erste. Beide bestritten (natürlich) im Tokyo Metropolitan Gymnasium das Duell um Gold. Ma Long hatte den besseren Tag erwischt. Er hatte seinen Gegner sogar beherrscht. In den 4:2-Sätzen hatte er sich zum Champions gespielt. Wer von dieser Sportart nicht fasziniert ist, der muss einfach nur diesen Beiden zuschauen. Am besten, wenn sie sich gegenüberstehen. Dass ein Team, das von diesen Ikonen des Tischtennis angeführt wird, auch der absolute Top-Favorit auf Gold im Mannschafts-Wettbewerb ist, das muss man eigentlich nicht aussprechen. Und die Wahrheit an der Platte ist eigentlich noch krasser: Kein Titel war für andere Nationen utopischer als dieser.
Als letzte (verzweifelte) Instanz auf dem Weg zum Olympia-Triumph stellte sich nun Deutschland der Dominanz der Chinesen in den Weg. Netter Versuch. Mehr nicht. Mit 3:0 hämmerten Fan Zhendong, Ma Long und Xu Xin sich den Weg zur Titelverteidigung frei. Im Doppel hatten Timo Boll und Patrick Franziska keine Chance. Ma Long und Xu Xin waren einfach zu gut. Sie waren viel zu gut. Im zweiten Satz gestatteten sie den Deutschen nur drei Punkte. Das ist eine mächtige Ansage. Mit 3:11 ging auch der finale Satz in der Partie zwischen Ovtachrov und Fan Zhendong zu Ende. Dabei hatte sich der 32-Jährige wieder nichts vorzuwerfen. Vielleicht spielte Ovtarchrov nicht so sensationell wie im Einzel-Halbfinale, aber er spielte wieder einmal herausragend gut.
Ovtcharovs kleiner Triumph über China
Wieder und wieder lieferten sich die Beiden Ballwechsel, die eigentlich unmöglich sind. Meist mit dem besseren Ausgang für den Weltranglisten-Ersten. Dessen aggressive Rückhand zwang Ovtcharov häufig direkt in die Defensive, er musste (zu) oft reagieren, statt zu agieren. Wenn er mal Druck aufbauen konnte, dann machte er meistens den Punkt. Deutschlands Spitzenspieler und Bronze-Champion lag nach Sätzen sogar 2:1 vorne. Aber Zhendong führt eben nicht ohne Grund die Liste der Besten aktuell an. "Vielleicht haben mir am Ende ein paar Körner gefehlt", überlegte Ovtcharov, der mit sechs Medaillen bei Olympischen Spielen mehr hat als jeder andere Spieler der Geschichte - alle Chinesen eingeschlossen.
Überragend spielte auch Boll im letzten Einzel gegen Ma Long. Vielleicht machte Boll sein bestes Spiel in Tokio. Den dritten Satz holte er sich, nachdem er mit mutigen Attacken zwei Matchbälle abgewehrt hatte. Was für eine beeindruckende mentale Stärke. Aber Ma Long ließ nicht eine Sekunde nach, er legte sich Boll zurecht, zwang ihn weit weg von der Platte, um dann gnadenlos seine schmerzhaften (Winner)-Stiche zu setzen. Den sechsten Matchball nutzt er. "Er ist nicht umsonst zweifacher Einzel-Olympiasieger", sagte der 40-Jährige.
Aber was will man machen, wenn man auf Gegner trifft, die einfach übermenschlich sind? Sich am besten einfach über Silber freuen. "Wir haben ein großes Turnier gespielt, auch im Finale. Wir haben unsere kleine Chance gehabt. Wir sind sehr stolz auf dieses Turnier und mit der Silbermedaille mehr als zufrieden", sagte Trainer Jörg Roßkopf. "Wir haben wieder bestätigt, dass wir die zweitbeste Nation der Welt nach den Chinesen sind." Boll, die ehemalige Nummer eins der Welt, der in China den Status eines Superstars hat, bekannte: "Direkt nach dem Finale waren wir enttäuscht, klar. Aber wir haben uns nicht vorzuwerfen. Respekt an die Chinesen, sie haben von Beginn an Vollgas gegeben." Auch Patrick Franziska, zu dessen Einzel es erst gar nicht kam, ließ keinen Gold-Frust aufkommen: "Wir sind alle sehr stolz. Die Zeremonie war sehr emotional, da musste ich ein paar Tränchen wegdrücken."
Eine Niederlage mit Ansage
Tatsächlich war es ja eine Niederlage mit Ansage gewesen. Alles andere als der Olympiasieg für China wäre eine Sensation gewesen. Und vermutlich noch mehr als das, wenn man Sensation denn steigern könnte. "Unser Team hat den chinesischen Drachen gekitzelt, mutig gegen ihn gekämpft, konnte ihn letztlich aber leider nicht zähmen", sagte DTTB-Präsident Michael Geiger. Wie absurd die Dominanz der Asiaten ist, lässt sich auch statistisch belegen: Seit der Premiere des Teamwettbewerbs 2008 in Peking haben die "Drachen" alle 17 Spiele gewonnen - davon 15 mit 3:0 und zwei mit 3:1.
In Paris in drei Jahren wollen die Deutschen die nächste Gold-Attacke starten. "Das wird immer unser Ziel bleiben. Der Glaube war noch nie größer als vielleicht heute, aber man muss schon anerkennen, dass sie sehr stark waren und auch zu stark waren", befand Franziska. "Aber ich denke, dass das das ganz große Ziel im Tischtennis ist und auch ein Ziel, das wir noch gemeinsam erreichen wollen." Mit Boll, dem dann schon 43 Jahre alten Boll? "Bis zu den nächsten Olympischen Spielen ist es noch lange hin. Mal schauen", sagte er. "Ich möchte auf keinen Fall jemandem den Platz wegnehmen, wenn ich nicht mehr leistungsmäßig dazugehöre." Boll weiß indes so gut wie kaum jemand anderes: Nur mit einem perfekten Spiel ist eine Mannschaft aus China zu schlagen. Eine sensationelle Leistung reicht nicht. Was für eine frustrierende Erkenntnis.
Quelle: ntv.de