Ganz wenig PV auf Gewerbedächern Netzbetreiber blockieren Potenzial von 400 AKW
14.10.2023, 14:33 Uhr Artikel anhören
Der Bundesverband Solarwirtschaft (BSW) schätzt, das bislang nur zehn Prozent der Gewerbedächer über eine Photovoltaik-Anlage verfügen.
(Foto: picture alliance/dpa)
Wenn auf deutschen Dächern eine Solaranlage in Betrieb geht, handelt es sich schätzungsweise in neun von zehn Fällen um ein privates Dach. Große Gewerbeflächen wie Lagerhäuser sind dagegen kaum bebaut. Das Potenzial von mehreren Hundert Atomkraftwerken wird verschenkt, obwohl sie nicht unter Denkmalschutz stehen, das Straßenbild verschandeln und die Betriebe in den meisten Fällen nicht einmal eine Baugenehmigung für eine PV-Anlage benötigen. Woran scheitert der Ausbau? Melchior Schulze Brock macht vorwiegend komplexe Verhandlungen mit Immobilienfonds und Netzbetreibern verantwortlich: Die einen hätten sich jahrelang nicht bewegt, die anderen jeden Netzanschluss zur Maßanfertigung gemacht, sagt der CEO des Solarunternehmens Enviria im "Klima-Labor" von ntv. "Das raubt Kraft und Zeit und bremst unseren Output." Doch jetzt kommt endlich Schwung in den Ausbau.
ntv.de: Sind Probleme bei der Installation von großen PV-Anlagen auf Gewerbedächern ein Einzelfall oder kommt das häufiger vor?
Melchior Schulze Brock: Große gewerbliche PV-Anlagen sind deutlich komplexer als Anlagen für den Einfamilienhausbereich, aber der Markt hat sich in den vergangenen Jahren professionalisiert. Anfangs haben Dachdecker Solarmodule mitverlegt. Inzwischen gibt es gute Angebote wie uns, die von A bis Z alles anbieten, sich aber an klare Regeln, technische Normen und Vorgaben halten müssen. Zum Beispiel müssen alle Arbeiten mit dem Verband der Deutschen Sachversicherer abgestimmt sein. Macht man das, ist das ein tolles Projekt. Aber ich würde unterstreichen, das weiß nicht jeder Anbieter en détail.
Und was macht man, wenn man einen der schlechten Anbieter erwischt hat und feststellt, dass bei der Installation Fehler gemacht wurden?
Diese Frage stellt man besser einem Juristen. Ich würde versuchen, aus dem Vertrag zu kommen und den Anbieter zu wechseln. Es gibt mittlerweile auch Planungsbüros und Ingenieurgesellschaften, die den Auswahlprozess für Unternehmen steuern.
Die wissen, wer die guten und wer die schlechten Anbieter sind?
Genau. Ansonsten ist es sinnvoll, während des Auswahlprozesses auf Referenzen zu achten und mit einem früheren Kunden zu sprechen. In unserem Fall beträgt die durchschnittliche Anlagengröße 300 bis 350 Kilowatt-Peak (kWp). Im Einfamilienhausbereich reden wir von acht kWp - das sind substanzielle Investitionen, mit denen man sich professionell auseinandersetzen muss.

Melchior Schulze Brock hat Enviria 2017 gegründet. Seitdem hat das Solarunternehmen mehr als 200 kommerzielle Projekte mit einer installierten Leistung von mehr als 70 MW entwickelt.
(Foto: Enviria)
Sie sagten, dass die Installation auf Gewerbeflächen deutlich komplexer ist. Welche Hürden gibt es denn? Vorgaben und Normen gelten ja auch beim privaten Dach.
Die Installation selbst ist auf dem Gewerbedach in vielen Fällen einfacher als im Familienhausbereich: Die meisten gewerblichen Dächer sind Flachdächer mit einer Folie oder Bitumenbahn als Dachhaut. Bei Einfamilienhäusern müssen sich Anbieter mit verschiedenen Ziegeltypen auseinandersetzen, das Dach penetrieren, Dachhaken setzen, teilweise Blechziegel anbringen. Das gibt es im gewerblichen Bereich nicht. Herausfordernder ist die Netzintegration, denn häufig speist man nicht über den Hausanschluss ein, sondern in das umliegende Mittelspannungsnetz oder über die Zähleranschlusssäule in unmittelbarer Nähe von Ortsnetzverteilern. Man muss viel beachten und mit den Netzbetreibern abstimmen. Die Netzintegration ist deutlich schwieriger.
Schwieriger als alle bürokratischen Hürden im privaten Bereich? Das klingt nicht besonders überzeugend.
Das ist die große Bremse. Für die meisten Solaranlagen braucht man im gewerblichen Bereich nicht mal eine Baugenehmigung, aber man muss für jedes Projekt ein Netzanschlussbegehren äußern und den Netzbetreiber nach einem möglichen Anschlusspunkt fragen. Der weist diesen Anschlusspunkt zu. Per Gesetz hat er dafür acht Wochen Zeit, in der Praxis dauert es oft länger. Erhält man einen nicht optimalen Anschlusspunkt, muss man weitere Gespräche führen oder die Anlage im schlimmsten Fall verkleinern. Bei der technischen Umsetzung müssen alle Schritte mit dem Netzbetreiber abgestimmt werden, gerade, was den Netz- und Anlagenschutz betrifft. Diese Interaktion frisst sehr viel Zeit.
Dazu kommt, dass Eigentümer und Stromabnehmer im privaten Bereich in der Regel identisch sind. Im Gewerbe gehört die Liegenschaft dagegen oft einem Immobilienfonds, das Gewerbe hat sich nur eingemietet. Will man eine PV-Anlage aufs Dach setzen, muss man sich also vertraglich auseinandersetzen und einigen.
Wie viel Zeit nimmt denn ein klassisches Projekt in Anspruch?
Im besten Fall erhalten wir die Netzanschlusszusage innerhalb dieser acht Wochen. Dann hängt es davon ab, in welche Spannungsebene wir einspeisen dürfen. Können wir bei kleineren gewerblichen Anlagen von unter 200 kWp die Niederspannungsebene nutzen, brauchen wir drei bis vier Monate bis zur Netzanbindung.
Und bei größeren?
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Wenn wir einen neuen Mittelspannungsanschluss herstellen müssen, weil keiner vorhanden ist, kann das bis zu einem Jahr dauern. Das ist den Lieferzeiten von Trafostationen geschuldet und auch der Abstimmung mit den Netzbetreibern. In Deutschland gibt es mehr als 850 verschiedene. Die arbeiten alle nach den gleichen technischen Anwendungsregeln. Diese übergeordneten Regeln müssen alle befolgen. Aber jeder Netzbetreiber legt sie anders aus. Deswegen ist jeder Anschluss mehr oder weniger maßgeschneidert. Das raubt Kraft und Zeit und bremst unseren Output. Wir könnten viel mehr machen, wenn ein Standard für alle Netzbetreiber gelten würde.
Dass PV die Zukunft gehört, ist ja nicht erst seit diesem Jahr bekannt. Trotzdem hört man keine Beschwerden von den Unternehmen.
Unser Markt hatte bisher wenig Aufmerksamkeit, weil es kaum große Player gab. Im Freiflächenbereich waren klassische Energieversorger mit der entsprechenden Lobby zuständig, da gab es offene Ohren an den richtigen Stellen. Im Einfamilienhausbereich gibt es mittlerweile auch große Unternehmen, die entsprechend angehört werden. Unser Segment hat eigentlich erst in den letzten zwölf bis 16 Monaten mehr Aufmerksamkeit erlangt, aber wir wissen, dass die Politik aktiv an Verbesserungen arbeitet. Es ist Bewegung drin. Das Wichtigste ist, dass das Potenzial begriffen wurde: Für jedes gewerbliche Aufdach ist Infrastruktur vorhanden, es gibt Abnehmer in unmittelbarer Nähe, es müssen keine Landschaften oder Agrarflächen versiegelt werden. Das ist für Unternehmen kaufmännisch auch die sinnvollste Möglichkeit, Strom herzustellen. Wenn ich meine Energie vor Ort produziere, muss ich keine Gebühren für die Netzdurchleitung zahlen und keine Umlagen für den Strom.
Aber das wäre es doch vor fünf Jahren auch gewesen. Warum fällt das Unternehmen mit großen Dachflächen erst jetzt auf? Warum hat sich keines über die Probleme bei der Umsetzung eines Solarprojektes beschwert?
Für die meisten Unternehmen sind Solaranlagen nicht das Kerngeschäft. Da liegt deren Fokus drauf. Bei uns ist die Nachfrage durch die zunehmende Bedeutung von ESG gestiegen. Aber am Ende des Tages entscheidet die wirtschaftliche Sinnhaftigkeit. Die ist heute gegeben, vor fünf Jahren war das begrenzt so. Damals wurden die ersten Anlagen auf kommunalen Liegenschaften errichtet und haben trotzdem keinen Strom geliefert, weil es für die Kommune günstiger war, den im Netz zu kaufen. Das hat sich geändert. Inzwischen bewegen sich auch die Eigentümer der Liegenschaften. Die großen Immobilienfonds haben vor zwei, drei Jahren sehr wenig gemacht. Wir sehen eine Kehrtwende.
Bei heise.de hat ein technischer Manager des Logistikunternehmens Hermes erklärt, dass sich PV auf dem Dach weiterhin nicht lohnt, weil es für Einspeisung zu wenig Geld gibt.
Das würde ich nicht unterstreichen, auch die Einspeisung ist profitabel. Das sind allerdings keine Renditen, die eine Abkehr vom Kerngeschäft rechtfertigen. Vorwiegend sollte es auch darum gehen, Strom vor Ort abzunehmen. Das lohnt sich. Die Einspeisung sollte auf den Überschuss ausgelegt sein. Dann ist die Anlage wirtschaftlich.
Sollten dann nicht grundsätzlich auf allen passenden Gewerbeflächen PV-Anlagen installiert werden? Vielleicht sogar verpflichtend, wenn eine große Lagerhalle gebaut wird? Bedarf an erneuerbarem Strom gibt es mehr als genug.
In den ersten Bundesländern gibt es solche Regelungen. Das begrüßen wir. Wir würden es gut finden, wenn diese Verpflichtung auf Sanierungen ausgeweitet würde, denn die Baustelleneinrichtung wäre schon vorhanden.
Wie viele Flächen bieten sich denn tatsächlich an? Der Hermes-Manager hat auch gesagt, dass ungefähr die Hälfte der Lagerhallen nicht die technischen Voraussetzungen erfüllen. Zum Beispiel soll die zulässige Dachlast ein Problem sein.
Natürlich muss man Themen wie den Dachzustand und die Statik abklopfen, aber der Großteil der Flächen eignet sich. Gerade im Bestand wurde früher mit deutlich höheren Schneelasten gerechnet, dadurch ist Luft für die Anlagen. Auf der Netzseite muss man eben nachrüsten und umbauen, aber das ist Teil einer Gesamtkalkulation und ergibt im Zusammenhang mit einer Solaranlage eigentlich fast immer Sinn.
Und das Potenzial ist dann insgesamt wie groß?
Es ist gar nicht so einfach, tragbare Statistiken zu finden. Wir wissen, dass es in Deutschland knapp zwei Millionen mehr Nicht-Wohngebäude (21) gibt als Wohngebäude (19). Außerdem schätzen wir, dass Nicht-Wohngebäude im Schnitt sieben- bis zehnmal größer als Wohngebäude sind. Das Potenzial ist also enorm. Wir wollen in diesem Jahr knapp eine Million Quadratmeter Aufdach-Anlagen installieren und uns im nächsten Jahr verdoppeln.
Und damit schaffen wir eine Leistung, die mehr als 400 Atomkraftwerken entspricht, wie es aus Ihrer Branche heißt?
Wir schätzen das Potenzial auf mehrere Hundert Gigawatt. Der Vergleich mit den Atomkraftwerken ist passend.
Mit Melchior Schulze Brock sprachen Clara Pfeffer und Christian Herrmann. Das Gespräch wurde zur besseren Verständlichkeit gekürzt und geglättet.
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Quelle: ntv.de