
Der britische Premierminister David Cameron will einen Sonderstatus für das Vereinigte Königreich.
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Nach dem Brexit-Votum zeichnen sich harte Verhandlungen zwischen London und Brüssel ab. Die Briten wollen einen "besseren Deal" mit der EU. Am liebsten: Alle Vorzüge Europas ohne Gegenleistung.
Der britische Premierminister David Cameron hat den Schuldigen für das Brexit-Desaster längst gefunden. Migration sei die "treibende Kraft" hinter dem Nein der Briten im EU-Referendum gewesen. Er hätte die Abstimmung gewinnen können, wenn die EU ihm bloß in diesem Punkt entgegengekommen wäre, meinte Cameron auf dem EU-Gipfel in Brüssel. Natürlich wolle er nach dem Austritt "so enge Beziehungen wie möglich" zur EU. Dafür müsse Brüssel aber akzeptieren, dass eine Mehrheit der Briten den freien Zuzug von EU-Ausländern ablehnt.
Mit dieser Ausgangslage stehen Brüssel und London harte Scheidungsverhandlungen bevor. Migration wird dabei der Knackpunkt sein. Denn mit den angenehmen Seiten der EU - freier Austausch von Waren, Dienstleistungen und Kapital - hat London keinerlei Problem. Es ist die Sorge vor Überfremdung, die die Briten in den Brexit getrieben hat. Deshalb fordern sie nun Ausnahmen bei den Zuwanderungsregeln.
Der britische Gesundheitsminister Jeremy Hunt und mögliche Nachfolger von Premierminister Cameron hat bereits einen Namen für diese Haltung gefunden. Er träumt im britischen "Telegraph" von einer "Norwegen Plus"-Option, einem "besseren Deal" mit Sonderrechten für Großbritannien. Auch Hunt geht es dabei vor allem um Einwanderung. "Der EU droht der Zusammenbruch, falls sie nicht ihre Freizügigkeitsregeln ändert", schreibt der Gesundheitsminister.
"Norwegen Plus": Deckname für Sonderrechte
"Also muss unser Plan sein, sie zur Reform zu bewegen, damit Raum für die 'Norwegen-Plus'-Option für uns entsteht - voller Zugang zum Binnenmarkt gepaart mit einem sinnvollen Kompromiss bei der Freizügigkeit." Es ist ein Deckname für eine denkbar einfache Formel: Alles soll so bleiben wie es ist. Die Briten exportieren weiter ihre Waren nach Europa. Doch Polen sollen bitte nicht mehr kommen.
Norwegen dient als Vorbild, weil das Land zwar am Binnenmarkt teilnimmt, sich in einigen Bereichen aber Ausnahmen gesichert hat: Seine Fischerei- und Landwirtschaftspolitik macht es allein. Trotzdem akzeptiert das Land auch die Freizügigkeit. Und zahlt ins EU-Budget ein - pro Kopf übrigens etwa genauso viel wie Großbritannien. Das erwähnen die Brexit-Befürworter freilich nicht.
Deshalb ist fraglich, ob das Bild passt. Und ob Großbritannien mit dem Modell wirklich mehr Unabhängigkeit gewinnt. Denn alle Änderungen an den Binnenmarktregeln müsste London künftig mehr oder weniger akzeptieren - oder es riskiert den Marktzugang. So ist es auch bei Norwegen und der Schweiz, die nicht Teil der EU, aber Teil des gemeinsamen Marktes sind: Sie müssen im Prinzip das schlucken, was Brüssel ihnen vorsetzt.
Norwegen übernimmt die Brüsseler Regeln automatisch, die Schweiz handelt mühsam verschiedene Abkommen in den betroffenen Branchen aus. Aus Brüsseler Sicht schwächt der Brexit Großbritannien deshalb: London zahlt genauso viel, muss weiter alle EU-Regeln übernehmen, darf aber nicht mehr mitbestimmen.
Die Hoffnung auf ein "Plus"
Hunt und die Brexit-Befürworter machen jedoch eine andere Rechnung auf. Sie erwarten, dass Brüssel den Briten anders als der Schweiz oder Norwegen entgegenkommt. "Wenn sie die Situation freundschaftlich und zügig beenden wollen, was sowohl in ihrem als auch unserem Interesse liegt, müssen sie einen 'Norwegen-Plus'-Deal auf den Tisch legen", schreibt Hunt im "Telegraph".
Eine gewisse Chance gibt es dafür. Schließlich sind beide Länder längst nicht so wichtig wie Großbritannien, die fünftgrößte Wirtschaft der Welt. Die Hoffnung ist, dass Großbritannien als Schwergewicht Brüssel deswegen ein weiteres "Plus" abringen kann.
Das hat schon einmal geklappt: In den 80er Jahren holte Premierministerin Margaret Thatcher den sogenannten Briten-Rabatt für London heraus. Seitdem zahl das Vereinigte Königreich weniger EU-Beiträge als andere Länder. Doch bei der Grundsatzfrage der EU-Mitgliedschaft dürften die Dinge wohl etwas anders liegen.
Denn wenn die EU die Ansteckung anderer Länder mit dem Brexit-Fieber verhindern will, muss sie Großbritannien bestrafen, damit andere nicht dem Vorbild der Insel folgen. Angela Merkel hat sich gegen die britische "Rosinenpickerei" schon in Stellung gebracht. Auch der französische Präsident Francois Hollande macht Front gegen britische Sonderrechte. Es sei ausgeschlossen, dass Großbritannien vom freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Kapital profitiere, gleichzeitig aber die Freizügigkeit von Personen einschränke: "Es sind die vier Freiheiten oder keine". Bevor London die Scheidungspapiere nach Brüssel schickt, dürfte es also wohl noch eine ganze Weile dauern.
Quelle: ntv.de