WM-Analyse mit Hickersberger "Bei Pepe fallen einem die Haare aus!"
17.06.2014, 10:06 Uhr
Für Hickersberger eine der Schlüsselszenen des Spiels: die Rote Karte für Portugals Pepe.
(Foto: imago/Fotoarena International)
Wie viel ist der deutsche 4:0-Auftaktsieg gegen Portugal wert? Warum war die DFB-Elf so stark? Josef Hickersberger nimmt die Leistung der Löw-Kicker unter die Lupe. "Deutschland hätte noch mehr Tore schießen können", sagt der frühere Nationaltrainer Österreichs, den n-tv.de in Brasilien getroffen hat.
n-tv.de: Deutschland hat zum WM-Start gegen Portugal und Weltfußballer Cristiano Ronaldo mit 4:0 gewonnen. War das DFB-Team so stark - oder der Gegner so schwach?

Zwischen 1987 und 1990 sowie zwischen 2006 und 2008 war Josef Hickersberger Trainer der österreichischen Nationalmannschaft. In Brasilien ist er als WM-Experte vor Ort.
(Foto: imago sportfotodienst)
Josef Hickersberger: Weder noch. Das Ergebnis ist viel höher ausgefallen, als sich das auch die größten Optimisten im deutschen Lager vor dem Spiel denken konnten. Aber nach dem dummen Platzverweis von Pepe ging es eigentlich nur noch um die Höhe des deutschen Sieges. Bei diesen klimatischen Verhältnissen mit Hitze, hoher Luftfeuchtigkeit, dazu zwei Toren Rückstand und einem Spieler weniger spielen zu müssen, das kann keine Mannschaft der Welt wettmachen.
Hätte Deutschland noch mehr Tore schießen müssen?
Können auf alle Fälle. Ich weiß nicht, ob die Spieler im Hinterkopf hatten, mit den Kräften etwas hauszuhalten. Bei dieser Überlegenheit hätte schon noch der eine oder andere Treffer erzielt werden können.
Was war die Schlüsselszene des Spiels?
Da hat es zwei gegeben. Nach der Roten Karte für Pepe, die das Spiel vorentschieden hat, war noch einmal eine Chance für Portugal auf den Anschlusstreffer da, weil Deutschland auf Abseits gespielt hat. Aber nachdem diese Chance vertan war, war Portugal endgültig geschlagen.
Ist Pepe ein Spieler, der einem Trainer graue Haare wachsen lässt?
Da wachsen nicht nur graue Haare, da gehen einem die Haare aus. Man kennt ihn natürlich schon und weiß, dass er nicht nur ein Raubein ist, sondern auch ein Hitzkopf. Das hat er jetzt wieder einmal bestätigt. Ich befürchte, damit hat er Portugal schon in der Vorrunde das Genick gebrochen. Mir schien es aber, dass auch Cristiano Ronaldo und Coentrao mit Pepe aufgrund der roten Karte hart ins Gericht gegangen sind.
Das DFB-Team hat mit einer offensiven, durchaus riskanten Aufstellung begonnen. Hat Sie das überrascht?
Für mich war eigentlich ziemlich klar, dass Deutschland so spielen wird. Das hat sich in den letzten Tagen angekündigt. Bei Portugal hat es auch keine Überraschungen in der Mannschaftsaufstellung gegeben. Wenn Ronaldo fit ist, stellt er sich von selbst auf. Und auch den Rest des portugiesischen Teams hat Joachim Löw bestimmt so erwartet.
Cristiano Ronaldo kann durchaus besser spielen als in Salvador. Wie fit war der Weltfußballer?
Er war hundertprozentig fit, daran hat es nicht gelegen. Er hat auch im Alleingang sehr viel versucht, hatte einen sensationellen Freistoß aus großer Distanz gegen Ende des Spiels. Den schießt man nach 85 Minuten in dieser Hitze nicht so, wenn man Oberschenkelprobleme hat. Aber leider haben ihn einerseits seine Teamkollegen, insbesondere Pepe, im Stich gelassen. Und andererseits war ganz einfach die deutsche Gegenwehr zu stark. Vor allem Boateng hat ihm das Leben sehr schwer gemacht.
Die Frage nach dem besten deutschen Spieler erübrigt sich, oder?
Chapeau vor Thomas Müller. Drei Tore in einem Spiel, dann noch eine große Chance mit dem Kopf vergeben. Respekt! Er ist schon nach dem ersten Spiel auf dem besten Weg, seinen Torschützentitel aus Südafrika zu verteidigen. Gegen Portugal ist er mir auch erstmals so richtig als Leader in der Mannschaft aufgefallen, als er Boateng nach einer Rangelei mit Cristiano Ronaldo lautstark beruhigt hat - damit er nicht in Gefahr kommt, wie Pepe vom Platz zu fliegen.
Wer hat Ihnen neben Müller noch gefallen in der deutschen Mannschaft?
Mit gefällt immer Götze, der durch das Foul an ihm im Strafraum quasi die Führung besorgt hat. Im Mittelfeld Kroos, Lahm. Bei Khedira hat mir imponiert, dass er über 90 Minuten gegangen ist und vor allem zu Beginn des Spiels sehr große Laufarbeit verrichtet hat. Er hat immer wieder die Portugiesen bei Ballbesitz angebohrt und versucht, Druck auf sie auszuüben. Die Abwehr war sehr, sehr solide. Vor allem mit Mats Hummels, der sich dann leider verletzt hat.
Deutschland fragt sich immer, wer der deutsche Abwehrchef ist. Wer war das gegen Portugal?
Ich glaube, Mertesacker und Hummels bilden eine sehr gute Personalunion. Es stellt sich gar nicht die Frage, wer da der Chef in den Innenverteidigung ist.
Mesut Özil wurde in der 60. Minute ausgewechselt. Wann hätten Sie ihn vom Platz genommen?
Es war klar, dass er bei dieser komfortablen Führung irgendwann für Lukas Podolski oder Andre Schürrle Platz machen wird. Ich hätte ihn auch auf keinen Fall früher ausgetauscht, weil er sich sehr engagiert hat. Es ist ihm nicht alles gelungen, aber er hat sehr viel probiert, sehr viel riskiert auch mit seinen Pässen. Ich glaube, dass Mesut Özil in den nächsten Spielen noch viel stärker werden wird, dass er eine aufsteigende Form hat.
Er fällt also nicht aus der Stammformation, womit manche Experten schon vor dem Portugal-Spiel gerechnet hatten?
Nein, das glaube ich nicht.
Was wird Joachim Löw am Spiel gegen Portugal besonders gefallen haben?
Die drei Rekonvaleszenten, wie ich sie bezeichnen würde. Neuer im Tor, der fehlerlos agiert hat und anscheinend auch bei weiten Pässen überhaupt keine Probleme gehabt hat. Es wird ihm gefallen haben, dass Philipp Lahm hundertprozentig fit ist und Khedira aufsteigende Tendenzen zeigt. Mit fortschreitender Spielpraxis wird er immer besser werden. Ich glaube, das beruhigt Joachim Löw sehr.
Und was hat ihm nicht gefallen?
Nach einem 4:0-Sieg im Auftaktspiel wird er das eine oder andere Auge wahrscheinlich gern zudrücken. Es steht mir nicht zu, da irgendetwas zu kritisieren. Ich habe der deutschen Mannschaft einen so überzeugenden Sieg nicht zugetraut. Joachim Löw wird jetzt gut schlafen. Nach diesem Sieg gegen den vermeintlich stärksten Gruppengegner dürfte eigentlich die Vorrunde für Deutschland schon sehr positiv weiterlaufen.
Wie fällt Ihre Bewertung des Schiedsrichters aus?
Ich kann mir vorstellen, dass die Portugiesen mit der Schiedsrichterleistung nicht besonders zufrieden sind. Sie haben sich in einigen Situationen benachteiligt gefühlt. Beim Elfmeter haben sie heftig protestiert, einige Male wollten sie Gelbe Karten reklamieren. Von meiner Warte aus war es aber ein klarer Elfmeter. Aber insgesamt war die Schiedsrichterleistung eine der besseren Art. Ich habe bei dieser Weltmeisterschaft schon gravierende Fehler von Schiedsrichtern gesehen. Diesmal war er wirklich ok.
Wie ok war Thomas Müller gegen Portugal als "falscher Neuner"?
Für mich war er eigentlich keine "falsche Neun", dafür hat er zu viel, fast immer, in der Spitze agiert. Erst nach seiner Auswechslung hat Götze als "falsche Neun" gespielt. Aber das war dann nicht mehr entscheidend.
Angenommen, es sind alle fit: War die deutsche Startelf gegen Portugal die Stammelf für das weitere Turnier?
Die Engländer haben immer gesagt: Never change a winning team. Und das wird Joachim Löw wahrscheinlich auch im Moment nur machen, sollten irgendwelche Änderungen aus taktischer Natur notwendig sein. Aber ich gehe davon aus, wenn Mats Hummels fit ist, dass im nächsten Spiel gegen Ghana die gleiche Elf beginnt.
Mit Josef Hickersberger sprach Christoph Wolf
Quelle: ntv.de