WM-Analyse mit Hickersberger "Da ist man kurz vor einem Herzinfarkt"
14.07.2014, 16:22 Uhr
Kroos köpft in die falsche Richtung und legt den Ball für Higuain auf - einer der vielen Herzschlagmomente in diesem Finale.
(Foto: AP)
Deutschland krönt sich zum Weltmeister - genauso gut hätte aber auch Argentinien gewinnen können, meint WM-Experte Josef Hickersberger. Er erklärt, warum Toni Kroos fast die tragische Figur wurde, und was Joachim Löw richtig gemacht hat.
Herr Hickersberger, Deutschland war nach dem Schlusspfiff des WM-Finals ein einziger großer Autokorso. Stand Ihnen in Wien auch der Sinn danach?
Nein! Ich bin keiner, der auszuckt und hupend mit dem Auto und der Deutschlandfahne durch Wien fährt. Das ist nicht meine Art. Ich wohne auch in einer ruhigeren Wohngegend und habe von Hupkonzerten und Autokorso in Wien nichts mitbekommen.
Haben Sie innerlich ein bisschen gehupt?
Ich war schon auf Deutschlands Seite und habe ein gutes Glas Rotwein nach dem Sieg getrunken. Und ich bin überzeugt, dass sich die überwiegende Mehrheit der Österreicher genauso gefreut hat wie ich, dass unser Nachbar in Südamerika als erste europäische Mannschaft einen WM-Titel geholt hat.
Kurz vor dem Anpfiff des WM-Finals musste sich Sami Khedira verletzt abmelden, für ihn spielte der junge Christoph Kramer. Was haben Sie gedacht, als Sie davon gehört haben?
Der erste Gedanke war: das ist eine entscheidende Schwächung. Aber die deutsche Mannschaft hatte bei der WM schon einen so großen Glauben an sich selbst entwickelt gehabt, dass sie sich auch dadurch nicht beirren ließ.
Nach 32 Minuten musste auch Kramer verletzt raus. Hat es Sie überrascht, dass Bundestrainer Joachim Löw dann mit Andre Schürrle so offensiv gewechselt hat?
Dieser Wechsel war mutig und er hat der Mannschaft auch gezeigt: Wir wollen dieses Spiel unbedingt gewinnen und versuchen, unseren Fußball durchzusetzen. Das war eine positive Entscheidung. Zwar riskant, aber schon richtungsweisend für den weiteren Verlauf der Begegnung. Weil Deutschland nach einem nicht sehr überzeugenden Beginn immer besser ins Spiel gefunden hat. Mit seiner Dynamik nach vorne war Schürrle, der vorher als Joker schon sensationelle WM-Leistungen geboten hatte, ein großer Gewinn fürs deutsche Spiel.
Vorher war Deutschland noch nicht richtig im Finale angekommen. Was hat Argentinien besser gemacht als Brasilien, das zu diesem Zeitpunkt schon 0:5 hinten lag?
Es war doch klar, dass Deutschland im Finale gegen Argentinien nicht mehr so spielen kann wie gegen Brasilien, das mit seiner Spielart und seiner Spielanlage ja zum Toreschießen eingeladen hat. Die Argentinier waren taktisch sehr gut auf Deutschland eingestellt. Da ist es ganz einfach schwierig und harte Arbeit, bis man sich durchsetzen kann.
War also alles wie erwartet?
Überrascht hat mich, wie gut Argentinien sein Umschaltspiel aus einer verstärkten Abwehr in der ersten Spielhälfte umgesetzt hat. Argentinien hat nicht nur gut verteidigt, nicht nur reaktiv gespielt, sondern phasenweise auch versucht, das Spiel zu bestimmen und Deutschland über die Höwedes-Seite ganz große Probleme bereitet. Wenn Argentinien die zwei schweren Fehler im deutschen Spiel durch Kroos und Hummels ausgenützt hätte, wären sie Weltmeister geworden.
Nach dem Viertelfinale zwischen Brasilien und Kolumbien haben Sie vom Kampfgeist geschwärmt, aber ein wenig Fußball vermisst. Wie fanden Sie die Mischung im Endspiel?
Es war ein würdiges WM-Finale zweier hervorragender Mannschaften, die ausgezeichneten Teamspirit hatten, die sich im Lauf der WM auch durch schwächere Spiele durchgekämpft haben. Aber es war auch ein faszinierender Fight. Nach 50, 60 Minuten war für mich klar: Wer das erste Tor schießt, wird gewinnen. Da war es dann ein erbitterter Kampf. Für ein WM-Finale war es phasenweise aber ein ausgezeichnetes Spiel.
Welchen Anteil hatte Schiedsrichter Nicola Rizzoli daran?
Er hat ein sehr intensives Spiel souverän über die Zeit gebracht und viele schwierige Situation sehr, sagen wir, menschlich beurteilt. Viele werden sagen, er hätte zwei, drei Rote Karten zeigen müssen, für Höwedes oder Mascherano. Aber da bin ich anderer Meinung, damit hätte er den Ausgang des Finales beeinflusst. Ich glaube, es wäre ungerecht, den Schiedsrichter jetzt nur regeltechnisch zu beurteilen.
Dank Lukas Podolski wissen wir seit dem deutschen Halbfinal-Aus 2006 gegen Italien, dass im Fußball manchmal der Bessere gewinnt. Jetzt ist dieser Podolski Weltmeister geworden – mit der besseren Mannschaft?
Ich würde Deutschland nicht als bessere Mannschaft des Finales bezeichnen. Aber Podolski war diesmal in der besten Mannschaft des Turniers. Es hat natürlich auch überragende deutsche Einzelleistungen gegeben. Aber der WM-Erfolg war ein Erfolg der Mannschaft, des Teamgeistes, des gesamten Kaders inklusive Jogi Löw und seinem Betreuerteam. Das war ein Paradebeispiel dafür, wie eine Mannschaft, die vorher auch viel Unbill erlitten hat, dann während des Turniers zusammenwächst und sich den Titel wirklich verdient.
Ab welchem WM-Spiel haben Sie dem DFB-Team den Titel zugetraut?
Nach dem Spiel gegen Brasilien.
Das ist ja doch relativ spät.
Das stimmt. Zu Beginn der WM war ich überzeugt davon, dass Deutschland mit vier Innenverteidigern nicht Weltmeister werden kann, dass keine Mannschaft das kann. Nach der Umstellung mit Philipp Lahm als rechtem Außenverteidiger war die rechte Seite der DFB-Elf dann WM-reif, und das haben Sie dann auch gegen Brasilien überragend gespielt. Das war auch taktisch die halbe Miete für den WM-Titel.
Die deutsche Mannschaft ist nach dem Halbfinalrausch gegen Brasilien als turmhoher Favorit ins Endspiel gegangen. Wäre eine Finalniederlage der größte Favoritensturz gewesen seit Ihrer Niederlage mit Österreich gegen die Färöer am 12. September 1990?
Also das … (lacht) Nein, auf keinen Fall! Diese Spiele kann man überhaupt nicht vergleichen, das wäre völlig ungerecht und eine falsche Einschätzung der argentinischen Nationalmannschaft. Argentinien hat im Finale seine mit Abstand beste Turnierleistung gebracht und konnte Deutschland durchaus Paroli bieten.
War aus deutscher Sicht letztlich der eine Ruhetag mehr spielentscheidend?
Ich glaube nicht. Argentinien hat körperlich einen fitten Eindruck gemacht hat. Es war eher das geniale Tor von Mario Götze. Ein Tor, wie man es sich technisch perfekter gar nicht vorstellen kann. Dazu bedarf es überragender Koordination und einer überragenden Technik. Es ist für Götze glaube ich das Tor seines Lebens. Auch wenn er jetzt erst am Anfang einer großartigen Karriere steht, wird dieses Tor für ihn schwer zu übertreffen sein.
War Götze auch ihr Spieler des Finals?
Das waren für mich Bastian Schweinsteiger und Philipp Lahm. Sie waren die Spieler, an denen sich alle anderen aufrichten konnten. Es war imponierend für mich, wie die Beiden das deutsche Spiel geprägt haben. Schweinsteiger ist ein besonderer Typ, in einem normalen Bundesligaspiel hätte er sich auswechseln lassen. Aber er wollte diesen Titel unbedingt und deswegen hat er halt die Zähne so zusammengebissen, wie er es getan hat, und ist dafür auch belohnt worden.
Toni Kroos hatte diesmal Probleme. Seine auffälligste Szene war die unfreiwillige Kopfballvorlage für den Argentinier Higuain. Was denkt man als Trainer da?
Da ist man kurz vor einem Herzinfarkt. Dann denkt man sich: Gott sei Dank hat Higuain diese Chance nicht genutzt. Denn es wäre schon eine persönliche Tragödie geworden für Kroos, wenn er nach seinem überragenden Turnier ausgerechnet im Finale so ein Tor verschuldet und Deutschland damit vielleicht auf die Verliererstraße kommt. Das wäre eine Katastrophe gewesen.
Was bedeutet dieser Triumph für den Trainer Joachim Löw?
Er hat mit diesem WM-Titel alle Zweifler an seinen Fähigkeiten eines Besseren belehrt. Diesen Titel trotz dieser widrigen Umstände in der Vorbereitung zu gewinnen, das muss eine unglaubliche innere Genugtuung für Jogi Löw sein. Das war das Nonplusultra für Deutschland. Das war es, was dieser Generation von Spielern gefehlt hat und auch Jogi Löw. Er steht jetzt auf einer Stufe mit Sepp Herberger, Helmut Schön, Franz Beckenbauer. Es gibt keine größere Auszeichnung für einen Trainer in Deutschland, als in einem Atemzug mit diesen Legenden genannt zu werden.
Bei der WM haben talentierte DFB-Spieler wie Holger Badstuber, Ilkay Gündogan oder Marco Reus gefehlt, die perspektivisch zurückkehren. Kann Deutschland das neue Spanien werden?
Das wird die nächste Europameisterschaft zeigen. Ich traue es ihnen zu, aber es ist sehr schwierig, über einen längeren Zeitraum auf allerhöchstem Niveau zu spielen. Deutschland hat das Potenzial dazu. Wenn auch das nötige Glück in engen Spielen dazukommt, dann kann das DFB-Team so wie Spanien in den letzten Jahren den europäischen und den Weltfußball dominieren.
In Deutschland wird Joachim Löw für seine Wandlung vom Künstler zum Pragmatiker gefeiert. Inwiefern teilen Sie die Einschätzung, dass die Abkehr vom Ideal des schönen Fußballs zentral war für den WM-Triumph?
Ich finde nicht, dass es eine Abkehr vom schönen Fußball war. Es war ganz einfach zu Beginn der WM eine pragmatische Lösung, weil sich Schweinsteiger, Khedira und auch Klose erst mit Fortdauer des Turniers die nötige Fitness erwerben konnten. Das war der Hintergrund dieser eher pragmatischen Lösung Viererkette mit vier Innenverteidigern. Und dann ist die Umstellung von Jogi Löw zur rechten Zeit in der K.o.-Phase gekommen.
Aber es gibt Aussagen von Löw, die noch gar nicht so alt sind, dass er nicht nur gewinnen, sondern auch schönen Fußball spielen lassen möchte.
Gibt es einen schöneren Fußball als ihn Deutschland im Halbfinale gegen Brasilien gespielt hat? Kann ich mir nicht vorstellen.
Gegenfrage: Gibt es unschöneren Fußball als beim Sieg gegen Algerien?
Ok, das war eine ganz schwache erste Spielhälfte mit unglaublichen Eigenfehlern. Aber in der zweiten Halbzeit hat Deutschland das Spiel gegen einen taktisch hervorragend eingestellten Gegner gedreht und letztendlich verdient gewonnen. Mannschaft und Trainer haben daraus die richtigen Schlüsse gezogen, und das hat zum Erfolg geführt.
Wer kann sich glücklicher schätzen: der deutsche Fußball, dass er Joachim Löw als Weltmeistertrainer hat. Oder Löw, dass ihm Fußballer wie Lahm, Schweinsteiger, Neuer, Götze zur Verfügung stehen?
Sowohl als auch. Deutschland kann sich glücklich schätzen, dass Löw zu diesem Zeitpunkt Trainer der deutschen Nationalmannschaft ist. Löw kann sich glücklich schätzen, mit dieser Spielergeneration arbeiten zu können.
Sollte Löw weitermachen?
Unbedingt. Seine Aufgabe ist trotz des WM-Titels noch nicht zu Ende.
Mit Josef Hickersberger sprach Christoph Wolf
Quelle: ntv.de