100. Geburtstag von Fritz Walter So viel mehr als nur eine Fußball-Legende
31.10.2020, 05:36 Uhr
So kennen ihnen die meisten: Fritz Walter mit dem WM-Pokal.
(Foto: imago/Ferdi Hartung)
Mit dem "Wunder von Bern" schrieb Fritz Walter Sportgeschichte. Zu seinem 100. Geburtstag verneigt sich der deutsche Fußball noch einmal vor dem Idol von Generationen. In einer Zeit, in der Stars austauschbar wirken, erscheint er als seltene authentische Figur.
Das blasse Rindsleder ist hart geworden mit der Zeit. Wie aus Beton liegt einer der Fußbälle der legendären Weltmeisterschaft von 1954 im Stadionmuseum von Kaiserslautern. "Das Runde von Bern", wie ein Museumsmitarbeiter das handgenähte Spielgerät augenzwinkernd nennt, zeugt vom wohl wichtigsten Moment deutscher Sportgeschichte: dem Weltmeistertitel in der Schweiz. Neun Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg gab der Triumph einer ganzen Nation ein neues Selbstwertgefühl. Und er machte Spielführer Fritz Walter zu einer beständigen Identifikationsfigur des deutschen Fußballs.
Am 31. Oktober wäre das Idol von Generationen 100 Jahre alt geworden. "Ich habe ihn als großen Fußballer, aber vor allen Dingen als großartigen Menschen in Erinnerung", meinte einmal einer, der es wissen muss: Horst Eckel, 88 Jahre alt, ist der letzte lebende Spieler der Weltmeisterelf von 1954. Fritz Walter war sein Trauzeuge und behandelte den zwölf Jahre jüngeren Mitspieler zeitlebens wie einen Sohn. Heute stehen beide in Bronze vor dem Stadion in Kaiserslautern auf dem Betzenberg, mit drei weiteren Weltmeistern von 1954. "Es war immer sehr schön, mit ihm zusammen zu sein", erzählte Eckel.
Wer das Phänomen Fritz Walter verstehen will, muss ins pfälzische Kaiserslautern reisen. Hier wurde der Ausnahmesportler als ältester von fünf Söhnen am 31. Oktober 1920 geboren und nach Kaiser Friedrich I. Barbarossa benannt, der einst am Ort eine Festung bauen ließ. Fritz Walters Vater führte die Gaststätte des 1. FC Kaiserslautern - damit schien das Schicksal des Jungen früh besiegelt. Noch zu seinen Lebzeiten wurde die FCK-Arena nach ihm benannt: Fritz-Walter-Stadion. Als er am 17. Juni 2002 starb, trugen die "Roten Teufel" tiefschwarz. Kaiserslautern ist die Bedeutung des berühmten Sohns längst bewusst.
"Jeder wollte Fritz Walter sein"
"Fritz Walter ist trotz seiner Erfolge immer auf dem Boden geblieben und hat seiner Heimat wie auch seinem Verein stets die Treue gehalten", sagt Oberbürgermeister Klaus Weichel. "Das sind Tugenden, die heute nicht mehr selbstverständlich sind und die ich bewundere." Aktuell spielt der finanziell angeschlagene Verein in der 3. Liga. Von 1928 bis 1959 trug Fritz Walter das rote Trikot der Lauterer. In 384 Spielen schoss er 327 Tore. Fünfmal führte er die nach seinem Bruder Ottmar (1924-2013) und ihm benannte Walter-Elf in ein Endspiel um die deutsche Meisterschaft.
In der heute grellbunten Welt des Fußballs mit seinen Scheichs, Oligarchen und Mäzenen wirkt Fritz Walter oft wie ein Fossil aus grauer Vorzeit. Im Stadionmuseum in Kaiserslautern wird das ganz augenfällig. Zwischen großen Holzkisten mit FCK-Reliquien steht sein Schreibtisch mit Brille sowie der Koffer, den er bei der WM 1954 dabei hatte. In einer Vitrine thronen Fußballschuhe von damals, sie erinnern an klobige Bergsteigerstiefel. Und der Ball liegt dort, offiziell eins von nur 50 Spielgeräten der WM 1954.
Das eindrucksvollste Exponat des Museums wirkt aber wie irrtümlich hier abgestellt. Es ist ein Kanaldeckel aus der Uhlandstraße - heute Heinrich-Heine-Straße - unweit des Wohnhauses von Fritz Walter. Als Kind war für ihn die Gully-Öffnung der "Kanälchers" das Fußballtor. Kurt Beck war beim "Wunder von Bern" fünf Jahre alt. "Wenn wir als Kinder auf der Straße gekickt haben, wollte jeder Fritz Walter sein. Die Verehrung war damals tief in einem drin", erzählt der frühere Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz noch heute spürbar bewegt. Beck war es auch, der den Fußballer im Jahr 2000 zum Ehrenbürger des Bundeslandes ernannte - ein Titel, den sonst niemand trägt.
Eine seltene authentische Figur
Als Fritz Walter Weltmeister wurde, war Rheinland-Pfalz keine zehn Jahre alt. Das Bindestrich-Land war erst nach dem Zweiten Weltkrieg aus Teilen der preußischen Rheinprovinz sowie Bayerns und Hessens gegründet worden. "Fritz Walters herausragende Leistungen waren nach der Nazi-Diktatur und nach dem Krieg ein ganz wichtiges Ereignis", sagt Beck. Nicht nur der sportliche Sieg habe die Menschen ermutigt, sondern auch die Art, wie freundschaftlich man dem sportlichen Gegner begegnen könne. "Auch hier hat er immer noch eine Vorbildfunktion."
In Erzählungen werden Fritz Walter manchmal nahezu biblische Züge angedichtet. Einige sehen ihn als eine Art Moses, der den deutschen Fußball nach dem Weltenbrand des Zweiten Weltkriegs in eine neue Ära des Hoffendürfens geführt habe. Andere bezeichnen ihn als Verkörperung des Wirtschaftswunders, manche als kauziges Symbol einer Arbeiterfamilie. Inmitten dieser Legendenbildung wird eins deutlich: In einer Zeit, in der Stars oft als austauschbar kritisiert werden, erscheint Fritz Walter als seltene authentische Figur. Das sieht auch Michael Herberger so, der Urgroßneffe von Weltmeistertrainer Sepp Herberger. "Es gibt diese Sehnsucht zu den ursprünglichen Werten des Fußballs schon ein Stück weit", sagt der Musikproduzent in Mannheim.
"Und zum 100. Geburtstag von Fritz Walter stehen diese Fragen erneut im Raum." Michael Herberger hat Walter noch persönlich getroffen. "Ein sehr geselliger und netter Mensch." Fritz Walter hatte sogar sein eigenes Wetter. "Fritz-Walter-Wetter" herrschte, wenn es regnete. Wie im Finale 1954, als Trainer Herberger vor dem 3:2 über Ungarn die dunklen Wolken als gutes Omen deutete: "Dem Fritz sei Wedder." Walter hatte sich im Krieg mit Malaria angesteckt und spielte bei Nässe besser als bei Wärme - sagt man.
"Spiel seines Lebens" mitten im Krieg
Das Glück war Fritz Walter nicht in die Wiege gelegt worden. Nach der Schule begann er erst eine Ausbildung zum Bankkaufmann. Und kaum hatte seine Fußballkarriere begonnen, wurde er 1940 zur Wehrmacht eingezogen. Fünf Jahre später sollte er aus einem Gefangenenlager nach Sibirien transportiert werden, doch die Wachsoldaten erkannten den Kicker. Das entscheidende Match mit der Lagerpolizei bezeichnete Walter später als "Spiel seines Lebens", das ihn wohl vor dem Tod im Lager bewahrte. Im Oktober 1945 kehrte er nach Kaiserslautern zurück. Es folgte die bedeutendste Phase der FCK-Geschichte.
Walter holte Titel und erzielte Treffer zum Teil mit akrobatischen Einlagen. Beim "Jahrhunderttor von Leipzig" wuchtete er 1956 den Ball grotesk verrenkt mit der Hacke ins Netz. Angebote aus dem Ausland lehnte Walter ab: "Dehäm is dehäm." 1948 heiratete er Italia Bortoluzzi, die bei der französischen Militärregierung als Dolmetscherin arbeitete - was in Rheinland-Pfalz für Aufsehen sorgte. Nach 53 Ehejahren starb Italia Walter Ende 2001 und ihr Mann Fritz ein halbes Jahr nach ihr.
Fast 20 Jahre später steht der Kleinwagen von Italia Walter immer noch fahrtüchtig in einer Garage in Alsenborn. In der Gemeinde rund 15 Kilometer nordöstlich von Kaiserslautern hatten sich die Walters 1967 einen privaten Rückzugsort geschaffen. Vom Garten des weißen Bungalows aus reicht der Blick weit ins Pfälzer Land. "Ist das nicht herrlich?", fragt Barbara Lutzi. Mit ihrem Mann Bernd bewohnt sie seit dem Tod der Walters das Anwesen - und fährt Italias Auto. Die Ehepaare waren eng befreundet, Barbara und Bernd Lutzi zogen demnach auf Wunsch der Walters ("Damit das Haus erhalten bleibt") ein.
Das Auto fährt bis heute
Das Ehepaar renovierte das Haus am Waldrand von Alsenborn gründlich. Ein neues Dach schützt nun den in die Jahre gekommenen Bungalow vor Regenwasser. Das Schwimmbad wurde zum Wohnbereich umgebaut. 2004 eröffnete das Gelände als Museum. Tausende Besucher spazierten seitdem am Tor mit den Initialen von Fritz und Italia Walter vorbei - bis Ende 2018. "Wir haben das Erbe vom Fritz und von der Italia sehr gerne verwaltet", sagt Barbara Lutzi. "Aber jetzt ist es genug." Die 75-Jährige sitzt auf einer Holzbank in einer Ecke im Garten. Das Wetter ist noch einmal überraschend mild geworden. Ein leichter Herbstwind treibt Blätter über die Steinplatten.
"Hier saß der Fritz in den letzten Jahren, wenn der FCK gespielt hat. Er war viel zu nervös, um die Übertragung im Radio zu hören", erzählt Barbara Lutzi. Italia habe ihm die Ergebnisse aus dem Haus zurufen müssen. "Und wenn wir zusammen im Stadion waren, hat er gesagt: "Dreht euch ab und zu um, um zu schauen, ob ich noch lebe. So nervös war der Fritz."
Knut Hartwig weiß, wie es ist, Fritz Walter zu sein. Der Schauspieler verkörpert die Ikone des deutschen Sports im preisgekrönten Film "Das Wunder von Bern" von Regisseur Sönke Wortmann aus dem Jahr 2003. "Ich hatte Vorfreude und fast Ehrfurcht", erzählt Hartwig. "Es ist einem ja bewusst, dass man eine der bedeutendesten Fußballerfiguren darstellen darf. Das ist natürlich mit großem Respekt verbunden." Bei manchen Filmvorführungen gaben ihm Menschen, die Fritz Walter persönlich kannten, ergriffen die Hand, erzählt Hartwig.
"Das war fast beschämend, obwohl ich nichts dafür konnte. Ich habe gesehen, was das in Menschen ausgelöst hat, wenn sie über Fritz Walter gesprochen haben." Der Fußballer sei ein geerdeter, verwurzelter, den Menschen zugewandter, bescheidener Typ gewesen. "Das kommt in Schilderungen von Zeitzeugen immer wieder heraus." In Kaiserslautern wurde Fritz Walter geboren, und hier ruht der Ausnahmesportler auf dem Hauptfriedhof in einem Ehrengrab. Mächtige Kiefern spenden an diesem sonnigen Oktobertag etwas Schatten. In der Nähe plätschert eine Quelle namens Friedensbrunnen.
Die Sportwelt verneigt sich
"Stärker als der Tod ist die Liebe", steht auf dem Grabstein von Fritz und Italia Walter, darunter ein Foto der beiden. Auf einem stilisierten Fußball befindet sich daneben die geschwungene Unterschrift von Fritz Walter. Während der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 war das Grab eine Pilgerstätte für Fans aus aller Welt. Ohne den Einsatz von Fritz Walter wäre die Kommune mit rund 100.000 Einwohnern damals vermutlich kein WM-Standort geworden. Erlebt hat er das Turnier nicht mehr.
Zu seinem 100. Geburtstag verneigt sich die Sportwelt jetzt noch einmal vor dem Star ohne Allüren. Hinter dem Grabstein aus italienischem Marmor stehen bereits die Ständer für die Kränze. Auch DFB-Präsident Fritz Keller wird den Ehrenspielführer sicher würdigen - nicht nur, weil Fritz Walter sein Patenonkel war. Auf der einen Seite der nostalgische Blick auf die "Helden von Bern", auf der anderen Seite die selbstbewussten Vertreter einer neuen Spielergeneration: Der Fußballmensch Walter eint noch einmal die unterschiedlichsten Gruppen. Fast wie zu Lebzeiten.
Quelle: ntv.de, Wolfgang Jung, dpa