Radioaktives Wasser fließt ins Meer Arbeiter kämpfen gegen das Leck
03.04.2011, 19:54 Uhr
Arbeiter in Fukushima versuchen, den Staub am Boden zu binden.
(Foto: dpa)
Sie übernachten auf dem AKW-Gelände, essen Notfall-Rationen und sind radioaktiver Strahlung ausgesetzt. Die Arbeiter im Atomkraftwerk Fukushima 1 leisten Schwerstarbeit. Derzeit versuchen sie, ein Leck in Reaktor 2 zu stopfen. Bisher erfolglos, nach wie vor sickert radioaktives Wasser ins Meer. Die japanische Regierung spricht bereits von einer "langen Schlacht". Der Wind dreht derweil Richtung Tokio.
Die rund 400 Arbeiter am havarierten Atomkraftwerk Fukushima 1 arbeiten unter katastrophalen Bedingungen. "Wenn es nötig ist, übernachten sie in einem Gebäude auf dem AKW-Gelände", sagte der Pressesprecher des Betreibers Tepco, Yoshimi Hitosugi, der ARD. "Ernähren müssen sie sich leider mit Notfall-Rationen." Wie Hitosugi betonte, tragen die Arbeiter Dosimeter und sind radioaktiver Strahlung unterhalb festgelegter Werte ausgesetzt. 80 bis 90 Prozent seien Tepco-Angestellte. Die anderen kämen etwa von der Feuerwehr oder Reaktor-Herstellerfirmen. Sie arbeiteten im Schichtsystem.
Die Arbeiter von Fukushima 1 versuchen derzeit vergeblich, ein Leck in einem Kabelschacht des Turbinengebäudes von Reaktor 2 zu stopfen. Daraus sickerte weiter radioaktives Wasser ins Meer. Wie japanische Medien berichteten, setzten die Arbeiter zuletzt wasserabweisende Kunststoffe ein. Diese Versuche schlugen ebenso fehl wie vorhergehende Anstrengungen, den 20-Zentimeter-Riss mit Beton abzudichten.

Aus einem Leck im Turbinengebäude von Reaktor 2 fließt radioaktives Wasser ins Meer.
(Foto: REUTERS)
Tepco hatte am Vortag nach Angaben des Fernsehsenders NHK bestätigt, dass aus dem Leck Wasser mit einer Strahlung von mehr als 1000 Millisievert pro Stunde ins Meer laufe. Greenpeace-Experte Wolfgang Sadik bezeichnete die gemessenen Werte als "lebensbedrohlich". Der Atombetreiber rief daraufhin Experten aus Tokio zur Hilfe, meldet die Zeitung "Yomiuri Shimbun". Ein Vertreter der japanischen Atombehörde erklärte, Tepco müsse das Leck nun "ein für allemal" schließen. Kommende Woche sollte eine 136 mal 46 Meter große schwimmende Plattform vor dem Atomkraftwerk eintreffen. In deren Wassertanks können rund 10.000 Tonnen radioaktiv verseuchtes Wasser aus den Reaktorgebäuden gepumpt werden.
Wind dreht Richtung Tokio
Nach Einschätzung der Regierung könnte aus Fukushima 1 noch monatelang Radioaktivität entweichen. Es werde möglicherweise mehrere Monate dauern, bis die Lecks gestopft seien, sagte der japanische Regierungssprecher Yukio Edano nach Angaben der Nachrichtenagentur Kyodo. Ein Berater von Regierungschef Naoto Kan, Goshi Hosono, sagte dem Fernsehsender Fuji TV, es sei mit einer "langen Schlacht" in Fukushima zu rechnen. Es werde wahrscheinlich noch "mehrere Monate" dauern, bevor der Austritt von Strahlung aus den beschädigten Reaktoren gestoppt werde. Besonders die mehr als 10.000 in Abklingbecken gelagerten gebrauchten Brennstäbe stellten weiterhin eine Gefahr dar.
Nach Angaben des Deutschen Wetterdienstes (DWD) wird drehender Wind in den nächsten Tagen radioaktive Partikel aus dem zerstörten Atomkraftwerk Fukushima nach Tokio wehen. Der DWD rechnet damit, dass Partikel bis Mittwoch die Millionenmetropole erreichen. Bislang trug der Wind die strahlenbelasteten Teilchen auf den Pazifik hinaus. Zunehmender Nordwestwind treibe sie aber jetzt vom Meer aus Richtung Tokio, sagte ein DWD-Sprecher. Weil es trocken bleiben soll, gehen die Experten davon aus, dass kein radioaktiver Niederschlag fällt.
Heftige Kritik an Regierung
Zur heftig kritisierten Informationspolitik des Energiekonzerns sagte Tepco-Sprecher Hitosugi: "Wir geben mehrmals am Tag Pressekonferenzen. Die Daten der Boden- und Meerwasserverseuchung werden nach der Untersuchung und der Bewertung sofort veröffentlicht." Vorwürfen, Tepco habe zu spät Hilfe aus dem Ausland angefordert, entgegnete der Sprecher: "Bis jetzt ist mir keine Meldung bekannt, dass die Arbeiten an den Reaktoren aufgrund mangelnder Hilfe behindert wurden." Für Notfälle wie gestörte oder unterbrochene Stromverbindungen oder Tsunami-Schäden sei beispielsweise trainiert worden.
Der Gouverneur der Präfektur Fukushima, in der das AKW steht, rügte die Informationspolitik der nationalen Atomaufsichtsbehörde. Die Angaben zur Radioaktivität landwirtschaftlicher Produkte aus der Region seien zu spät veröffentlicht worden, sagte Yuhei Sato nach einem Bericht der Nachrichtenagentur Kyodo. "Können Sie die Zahl der Prüfer nicht erhöhen?", fragte Sato. "Die Leben der Bauern stehen auf dem Spiel. Die Frage ist, ob sie morgen leben können." Ein Beamter der Behörde entgegnete lediglich: "Ich habe verstanden." Anschließend habe er Journalisten erklärt, es gebe nicht genügend Materialien für die Tests in der Präfektur.
Die Bevölkerung ist auch wegen der radioaktiven Verstrahlung der Umwelt besorgt. Bei Gemüse und Meeresfrüchten aus der Umgebung der Atomruine wurden laut Kyodo radioaktive Substanzen gemessen, die jedoch unterhalb der gesetzlichen Grenzwerte lagen. Auch in Meeresfrüchten vor der Küste der Nachbarprovinz Ibaraki sei Cäsium gefunden worden - aber auch dort hätten die Messwerte deutlich unter der gesetzlichen Grenze gelegen.
Der japanische Außenminister Takeaki Matsumoto hatte am Samstag bei einem Kurzbesuch von Bundesaußenminister Guido Westerwelle der internationalen Gemeinschaft "größte Transparenz" bei der Aufklärung der Reaktorkatastrophe versprochen. Ministerpräsident Kan war am selben Tag erstmals in das Krisengebiet gereist und hatte den Überlebenden der Katastrophe und den Helfern Unterstützung zugesagt.
Leichen den Angehörigen übergeben
Die im zerstörten Atomkraftwerk gefundenen Leichen der 24 und 21 Jahre alten Angestellten wurden derweil ihren Angehörigen übergeben. Die an den Toten gemessene radioaktive Strahlung habe kein Problem dargestellt, berichteten japanische Medien unter Berufung auf Tepco. Ihre Leichen hätten zahlreiche äußere Wunden aufgewiesen. Die Männer starben demnach wohl im Block 4 an Schock nach Blutverlust infolge von Megabeben und Tsunami. Die Leichen waren bereits am 30. März als erste Tote seit dem Tsunami auf dem AKW-Gelände gefunden worden.
Mehr als 25.000 japanische und US-Soldaten setzten in der Unglücksregion eine dreitätige Suchaktion nach Leichen fort. Die Soldaten entdeckten an den ersten beiden Tagen der Suche jedoch nur 176 weitere Leichen. Die Gesamtzahl der Toten und Vermissten durch die Katastrophe vor drei Wochen liegt bei mehr als 27.500. In der Hafenstadt Minamisanriku starteten die Behörden eine Massenevakuierung. 1100 Menschen, die durch die Tsunamikatastrophe obdachlos wurden, mussten wegen der schwierigen Unterbringungs- und Versorgungslage in andere Städte verlegt werden.
Experten gehen davon aus, dass der Atomunfall auch Auswirkungen auf die internationalen Klimaverhandlungen haben wird. Seit dem Unfall in Japan fragten sich viele Länder, die verstärkt auf Atomenergie hatten setzen wollen, ob dies eine gute Entscheidung sei, sagte der EU-Verhandlungsführer bei den Klimaverhandlungen, Artur Runge-Metzger, in Bangkok. Dort begann unter UN-Ägide eine neue Runde von Gesprächen zum Klimaschutz. Atomenergie sei eine Energieoption, die sehr wenig klimaschädliche Gase freisetze, sagte Runge-Metzger. Daher hätten mehrere Schwellenländer, deren Ausstoß von klimaschädlichen Gasen in den vergangenen Jahren aufgrund ihrer Wirtschaftsentwicklung stark angestiegen sei, verstärkt auf Atomenergie setzen wollen. Dies werde nun aber wieder in Frage gestellt.
Quelle: ntv.de, dpa/AFP