"Herz der Finsternis" Ben Becker: "Mit einem Bein in der Apokalypse"
19.12.2024, 10:10 Uhr (aktualisiert)
Hat immer wieder die Kurve gekriegt: Ben Becker. Er selbst scheint darüber manchmal fast erstaunt zu sein.
(Foto: dpa)
Ben Becker ist für die Lesung der Originalerzählung von Francis Ford Coppolas filmischen Meisterwerk "Apocalypse Now" einfach die Idealbesetzung - nicht nur, weil er den Namen des Autors Joseph Conrad als Tattoo auf der Haut trägt, sondern auch, weil er von der Reise ins "Herz der Finsternis" mehr als jeder andere zu wissen scheint. In der Originalerzählung, die für Coppolas mehrfach Oscar-prämierten Film über den Vietnam-Krieg Pate stand, heuert der englische Kapitän Marlow auf dem Dampfer einer belgischen Handelsgesellschaft im Kongo an. Seine Mission: den schwarzen Fluss hinaufzufahren, ins Herz des afrikanischen Kontinents, wo der Handelsagent Kurtz sich ein eigenes Reich geschaffen hat, in dem er Gott spielt. In Beckers "Apokalypse" aber wird nicht nur der englische Kolonialismus und Rassismus am Ende der Herrschaft Queen Victorias angeklagt, sondern auch die gesamte europäische Welt, die seit dem 15. Jahrhundert Reichtum und Einfluss auf Kosten von Ausbeutung, Krieg, Gewalt und Flucht erlangt hat. Über seine außergewöhnliche, ausdrucksstarke Interpretation spricht Ben Becker mit ntv.de.
ntv.de: Ihre Lesung - "Die Apocalypse" ist aktueller denn je. Ist das nicht frustrierend? Dass die Menschheit anscheinend nichts lernt. Aus keinem Jahrhundert, aus keinem vorangegangenen Krieg, aus keiner anderen Katastrophe …
Ben Becker: Das ist überaus frustrierend, auf jeden Fall. Es ist nicht nur Europa, es ist überall auf der Welt apokalyptisch. Die Apokalypse ist global. Das ist traurig und tut mir weh. Sie kommt inzwischen vor allem tagtäglich zu uns nach Hause. Bei ntv.de wissen Sie ja, was das bedeutet. Berichterstattung von überall auf der Welt rund um die Uhr, man kann sich dem nicht mehr entziehen. Die Überschwemmungen in Pakistan kommen direkt ins Wohnzimmer gespült, der Krieg und die Hungersnöte ebenso. Wenn mir das nicht gefällt, dann kann ich zwar ein anderes Programm einstellen, aber die Informationen erreichen mich früher oder später ja doch. In dieser Form gab es Information früher nicht. Was nicht heißt, dass es diese Katastrophen nicht gegeben hat. Es wirft so viele Fragen auf …
Finden Sie diese Art von Berichterstattung schlimm, nervig oder nötig?
Ich frage mich manchmal, wie weit das noch zu verkraften ist. Wie weit das überhaupt noch in einem Schädel stattfinden kann. Ich mache mir da schon Sorgen um die Jugend, als Vater einer Tochter frage ich mich, wie weit das junge Menschen hemmt, Einfluss auf sie nimmt. Ob es Angst macht, Freude nimmt oder Lust, an dem, was uns eigentlich geschenkt ist an Schönheit des Lebens. Da wird einer ganzen Generation gerade der Teppich unter den Füßen weggezogen.
Geben Sie Ihrem Kind einen gewissen "Carpe Diem"-Spirit mit auf den Weg, bloß nichts auf "später" zu verschieben?
Ich glaube, das machen die Kids für sich selber. Ich glaube, da muss jetzt nicht der Papa kommen und sagen: "Hab' deinen Spaß!" Ich kann helfen, den Spaß zu finanzieren (lacht), und natürlich auch den Rat geben, rauszugehen, loszuziehen, und sie für sich sein lassen.
Sie lesen aus Joseph Conrads "Herz der Finsternis", da heißt es: Jeder Mensch hat seinen Zerreißpunkt. Wann ist dieser Punkt bei Ihnen erreicht?
Das weiß ich nicht so genau. Der Satz ist ja von Joseph Conrad. Ich glaube, dass jeder schon mindestens einmal nahe an seinem persönlichen Zerreißpunkt war oder noch hinkommen wird. Ich weiß nicht, was passiert, wenn man ihn überschreitet. Das ist mir zum Glück noch nicht passiert, auch wenn ich schon oft nahe dran war. Aber ich habe immer wieder irgendwie die Kurve gekriegt. Ich weiß nicht, wie kaputt man dann ist, wie weit man noch eine Berechtigung findet, weiterzumachen. Denn wenn man das erlebt hat, den Zerreißpunkt, dann heißt das auch, dass es einen ganz schön zermürbt hat.
Diese Zerrissenheit spürt man in Ihrer Kunst …
Ja, ich spiele damit, ich beschäftige mich damit und spiele durchaus gern mit dem Feuer. Mein richtiger Papa, also mein Erzeuger, nicht Otto Sander, hat mal zu mir gesagt, ich würde auf dem Drahtseil tanzen, das mache mich so interessant. Ist aber auch eine gefährliche Sache. Ich habe es bis heute geschafft - toi, toi, toi - nicht runterzufallen. Ab und zu abfangen musste ich mich, ich bin aber immer wieder hochgekommen. Dieses Hochkommen macht mir große Freude, denn da geht ja auch ein Faszinosum von aus. Nicht nur für mich als Künstler, sondern auch für die Zuschauer und alle, die Lust haben, meine Kunst zu erleben. Was ja endlich wieder losgeht nach so langer Zeit.
Hoffen wir, dass es so bleibt …
Schicken wir Herrn Lauterbach und Herrn Lindner einfach nach Sylt an eine Muschelbar, da können sie dann glücklich werden.
Die Apokalypse - fasziniert und schockiert. Stehen wir davor, oder sind wir schon mitten drin in der Apokalypse unserer Tage?
Wir stehen mit einem Fuß bereits drin. Das ist erschreckend. Dass die Bilder, die man davon hat, nun wahr werden. Ich bin ja so etwas wie ein kommunistischer Christ - ich habe mich irgendwann tatsächlich mal viel mit der Bibel beschäftigt, obwohl ich eigentlich doch mehr aus einem linken Haushalt komme und mich mehr mit Philosophie beschäftigt habe. Aber irgendwie scheint sich jetzt alles zu bewahrheiten, auf eine beängstigende Art und Weise. Ich als Künstler kann das nur beobachten auf meine kindlich-naive Art und Weise und den Versuch unternehmen, das künstlerisch zu verarbeiten und der Gesellschaft oder dem Theaterpublikum anzubieten. Und dem zahlenden Bildungsbürgertum meine Art der Verarbeitung mit auf den Weg zu geben. Was anderes, als eine Möglichkeit der Interpretation anzubieten, betreibe ich nicht. Sonst hätte ich auch in der Politik landen können. Und das bin ich zum Glück nicht (lacht).
Sie stellen die Dinge ja eher infrage …
Genau, und für die Art und Weise, wie ich das infrage stelle, da reicht mir im Fall von "Apokalypse" durchaus die Vorlage, der literarische Text. Ich muss keine Fahnen auf der Bühne verbrennen, oder meine ganz persönlichen Gedanken verbreiten. Die literarische Vorlage Joseph Conrads ist stark genug. Vor zwanzig Jahren habe ich den gelesen, wie ein kleiner Junge Abenteuerromane liest. Dass ich einem der größten Literaten des 20. Jahrhunderts begegnet bin, das konnte ich da noch nicht absehen. Das wurde mir erst später klar.
Was bekommt der Zuschauer, wenn er oder sie zu Ihnen in die Vorstellung kommt, zu einem Thema, das ja eher anstrengend als entspannend ist?
Schwierige Frage. Warum konfrontiere ich die Leute mit dieser bösartigen Realität, die ja im wirklichen Leben auch schon stattfindet? Zum einen fühle ich mich dazu als Künstler und als jemand, den seine Beobachtungen so sehr beschäftigen, geradezu gezwungen, dies auf die Bühne zu bringen. Und zum anderen entsteht daraus vielleicht etwas, was interessant ist, Freude macht, uns voranbringt. Was ich da draußen aber vor allem sehe, ist Schwachsinn, bloß nicht nachdenken und weg von der Konfrontation. Das kann ich bis zu einem gewissen Grad verstehen, es kann aber nicht meine Aufgabe sein, das mitzumachen.
Spüren Sie Druck?
Nein, aber ich frage mich manchmal schon: Warum mache ich es mir eigentlich so schwer?
Warum?
Es reizt mich, es fordert mich heraus. Auf dem Weg des Hinterfragens möchte ich mein Publikum gerne mitnehmen.
Mit Ben Becker sprach Sabine Oelmann
Termine 2022: Start ist am 11. Oktober im Münchener Prinzregententheater, dann geht's weiter am 8. November in Karlsruhe über Coburg, Kassel, Hannover, Berlin, Bad Reichenhall, Jena, Nürnberg, Ingolstadt, Hamburg. 2023 startet Becker am 5. Januar in Osnabrück und liest weiter bis 25. Februar in Potsdam.
(Dieser Artikel wurde am Sonntag, 09. Oktober 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de