
Der Nachbau einer V2-Rakete: Auch über sie schrieb Pynchon, verwendete dabei im Original deutsche Wörter wie "Brennschluss".
(Foto: picture alliance / dpa)
Es gibt kaum Fotos von ihm und doch genießt er eine kultartige Verehrung. Pynchon schreibt über die Licht- und Schattenseiten der USA oder über Erektionen, die von deutschen V2-Raketen ausgelöst werden. Nun dürfen Fans hoffen, mehr über ihn zu erfahren.
Er ist der wohl mysteriöseste Autor der Welt - und zweifelsohne ein Genie. Fotos von ihm gibt es kaum, Informationen über ihn sind rar. Selbst in "Die Simpsons" wurde er mit einer über den Kopf gezogenen Papiertüte dargestellt. Trotzdem - oder vielleicht auch deswegen - hat US-Romanautor Thomas Pynchon eine riesige Anhängerschaft. Zu dieser zählen auch viele Schreibende. Im Jahr ihres Nobelpreis-Gewinns sagte die österreichische Autorin Elfriede Jelinek: "Ich kann doch den Nobelpreis nicht kriegen, wenn Pynchon ihn nicht hat! Das ist gegen die Naturgesetze. Ich wünsche, das festgehalten zu haben."
Viele Legenden ranken sich um den mittlerweile 85 Jahre alten Pynchon. Journalisten lauern ihm seit Jahrzehnten auf, um einen Schnappschuss von oder ein Video mit ihm zu machen. Diejenigen, die es schafften, zogen ihre Aufnahmen aus Respekt oder nach Absprachen später wieder zurück - CNN entschied sich in den 90er Jahren dazu, den Autor nicht eindeutig zu zeigen. Einem Paparazzo soll Pynchon im selbigen Jahrzehnt entgegengebrüllt haben: "Nimm deine verf*** Pfote von mir!"
Forschung zu Pynchon ab 2023
Nun können Fans hoffen, etwas aus dem Leben des zurückgezogen lebenden Pynchon zu erfahren - und zwar aus ureigenem Willen des Autors. Die "Huntington Library", eine Bildungs- und Forschungseinrichtung nahe Los Angeles, teilt mit, das Archiv des Autors mit Materialien von den 1950er Jahren bis in die jüngste Zeit erworben zu haben - samt Entwürfen zu all seinen acht Romanen, handschriftlichen Notizen und Briefkorrespondenz. Das Pynchon-Archiv befindet sich derzeit in einem Bearbeitungsprozess, soll aber noch 2023 Forschern und Forscherinnen zugänglich gemacht werden.
Auch wenn Fans von Pynchon - zumindest zunächst - nicht selbst die Materialien in Augenschein nehmen dürfen, ist zu erwarten, dass mehr und mehr Details aus dem Leben des mysteriösen Autors bekannt werden. Für die Literaturwelt ist das gelinde gesagt eine Sensation.
Rushdie durfte einst mit Pynchon dinieren
Die meisten Fans kennen Pynchon nur durch eine Handvoll Fotos aus seiner Jugend. Samt seiner auffällig hervorstehenden Schneidezähne - oben im eingebundenen Tweet zu erkennen. Die erhielt er sich wohl auch im Alter. Denn nach einem gemeinsamen Abendessen beschrieb Starautor Salman Rushdie Pynchon einst folgendermaßen: "Thomas Pynchon sieht genau so aus, wie Thomas Pynchon aussehen sollte. Er ist groß, er trägt Holzfällerhemden und Jeans. Er hat weiße Haare wie Albert Einstein und die Vorderzähne von Bugs Bunny."
Pynchon prägte Rushdie - und viele andere. Er wurde zum Zentralgestirn der postmodernen Literatur, welche geschickt Fiktionen mit wahrer Geschichte und Realitäterfahrungen mischt, meist gespickt mit einem Hauch (oder einer Tonne) Ironie - und einer kritischen Haltung gegenüber der Welt.
Wenige Wegmarken eines Lebens
Ein paar Eckdaten sind über Pynchon bekannt: Er kam 1937 in Long Island, New York, auf die Welt und studierte an der Cornell-Universität Physik und dann englische Literatur. Dort besuchte er ein Seminar des Schriftstellers Vladimir Nabokow. Zwischendurch leistete er zwei Jahre Dienst bei der US Navy - ein Matrosenfoto von Pynchon aus dieser Zeit ist bekannt. Später arbeitete er wenige Jahre als technischer Redakteur beim Luftfahrtkonzern Boeing und schottete sich dann ab den frühen 1960er Jahren von der Öffentlichkeit ab.
1963 erschien dann auch sein erster Roman - mit dem kryptischen Titel "V." Er beginnt auf den ersten Seiten gleich mit einem Mann, der jemandem beim Versuch beobachtet, "in den Tankstutzen eines 54er Packard Patrician zu pissen". Mit ähnlich illustren Einfällen und einer ewigen Suche nach "V." - das mehrmals als Frau erscheint - setzt sich der Roman dann fort. Auch Pynchons folgender Roman "Die Versteigerung von No. 49" ist eine Schnitzeljagd nach Hinweisen. Der 1973 erschienene Roman "Die Enden der Parabel" wird als Hauptwerk von Pynchon angesehen. Es spielt in den letzten Jahren des zweiten Weltkriegs, vorwiegend in London. Einer der Hauptprotagonisten ist Tyrone Slothrop, der mithilfe pawlowscher Konditionierung darauf konditioniert wurde, eine Erektion zu bekommen, sobald sich eine deutsche V2-Rakete nähert.
Doch Pynchons Romane, auch die folgenden fünf, in irgendeiner Weise inhaltlich zusammenzufassen, ist schwierig. Sie behandeln alles und nichts. Am zugänglichsten ist vielleicht noch die Detektivgeschichte "Inherent Vice", die 2014 mit Joaquin Phoenix verfilmt wurde. In "Die Enden der Parabel" spinnt sich eine rätselhafte Beschreibung an die nächste, der mit raketeninduzierten Erektionen durch London wandernde Tyrone Slothrop ist lediglich einer von über 400 Charakteren.
Pynchons Sohn erklärt die Wahl
So rätselhaft die Romane, so rätselhaft der Autor. Fans werden hoffen, durch den Erwerb der "Huntington Library" in den kommenden Jahren noch etwas mehr von Pynchon zu erfahren. Gleichzeitig werden sie froh sein, dass dieser sich zwar der Welt öffnet, aber so ganz nicht ins Rampenlicht rückt. Der Pressemitteilung zum Archiverwerb ist kein Foto Pynchons beigestellt. Auch kommentiert er nicht selbst.
Der Sohn des Autors, welcher der Öffentlichkeit bereits bekannt war und das Archiv für seinen Vater zusammenstellte, wird hingegen zitiert: "Als 'The Huntington' auf uns zukam, waren wir von ihren Luft- und Raumfahrt- und Mathematikarchiven begeistert und besonders von ihrer außergewöhnlichen Kartensammlung angezogen", erklärt Jackson Pynchon. "Als wir vom Umfang und der Genauigkeit ihrer unabhängigen wissenschaftlichen Programme erfuhren, die außergewöhnliche Ressourcen für die akademische Forschung in den Geisteswissenschaften bereitstellen, waren wir zuversichtlich, dass das Pynchon-Archiv sein Zuhause gefunden hatte."
Auch das ist kein Wunder. Mathematik, Karten, Wissenschaft - all dies durchzieht die Romane von Pynchon. Sein Archiv umfasst, wie die "Los Angeles Times" schreibt, ganze 48 Kartons mit Materialien. Ob sie der "Huntington Library" von der mysteriösen Postorganisation Tristero geliefert wurden, die Pynchon einst in einem seiner Romane mythenhaft und in typisch verschwörerischer Manier beschrieb, ist indessen nicht bekannt.
Quelle: ntv.de