Joaquin Phoenix in "Inherent Vice" Wer sich erinnern kann, hat's nicht erlebt
11.02.2015, 15:53 Uhr
Kein Privatdetektiv aus dem Bilderbuch: Doc Sportello (Joaquin Phoenix) ermittelt in "Inherent Vice".
(Foto: 2014 WARNER BROS. ENTERTAINMENT INC. AND RATPAC-DUNE ENTERTAINMENT LLC)
Doc Sportello taumelt bekifft von Hinweis zu Hinweis, er will eine Entführung aufklären. Er trifft Nazi-Rocker, Cops und Zahnärzte und wird doch nicht schlau daraus. "Inherent Vice" handelt vom letzten Rausch der 60er Jahre und ist ziemlich groovy.
Die Vorschusslorbeeren sind natürlich gewaltig: Paul Thomas Anderson gehört zu den besten Regisseuren, die Hollywood derzeit zu bieten hat. Mit "Magnolia", "There Will Be Blood" und zuletzt "The Master" hat er großartige, intensive Filme vorgelegt. Dass er sich nun wagt, erstmals einen Roman von Thomas Pynchon zu verfilmen, passt gut ins Bild.

"Inherent Vice" hat ein hochkarätiges Ensemble: Hier Joaquin Phoenix als Sportello mit Reese Witherspoon.
(Foto: 2013 Warner Bros. Entertainment Inc.)
Pynchon ist einer der bekanntesten Autoren des vergangenen Jahrhunderts - allerdings nur vom Namen her. Über seine Person war lange gar nichts und ist inzwischen nur sehr wenig bekannt. Der Mann ist ein literarisches Phantom, dabei hat er mit "Die Enden der Parabel" einen der wichtigsten Romane der Postmoderne vorgelegt.
Andersons Film "Inherent Vice - Natürliche Mängel" nimmt sich allerdings einen späten Roman Pynchons vor, erschienen 2009, der zudem als zugänglich gilt - nach den Maßstäben von Pynchon. Der Film-Noir-Krimi ist trotzdem ein schräger Rausch geworden, der Trip von Doc Sportello. Joaquin Phoenix spielt den Privatdetektiv und wie immer ist es eine Freude, ihm zuzusehen, wie er hinter der Figur verschwindet, hinter den wirren Haaren und den monströsen Koteletten.
Immobilienhai und Nazi-Rocker

Sportellos Ex-Freundin ist die klassische Femme fatale, die den Privatdetektiv in den Fall hineinzieht.
(Foto: 2015 Warner Bros. Entertainment Inc.)
Sportello ist ein Hippie, er hat nichts gemein mit Berufskollegen wie Humphrey Bogart oder Tom Selleck. Ständig raucht er Dope, zieht sich andere Drogen rein oder hängt einfach auf seinem Sofa ab. So ist der Film ein benebelter Gang durch die späten 60er Jahre. Das fröhliche, zukunftsweisende Jahrzehnt neigt sich seinem Ende zu und macht Platz für den amerikanischen Horror der 70er.
Seine Ex-Freundin Shasta Fay Hepworth (Katherine Waterston) verwickelt Sportello - ganz die klassische Femme fatale - in einen Fall um ihren neuen Geliebten, den mächtigen Immobilienmogul Mickey Wolfmann (Eric Roberts). Dieser wurde angeblich entführt und in eine Irrenanstalt gebracht. Haben seine Leibwächter von der Arischen Bruderschaft etwas damit zu tun? Sportello begibt sich auf die Suche, nur um bald neben der Leiche des Chefs der Rockergruppe aufzuwachen.

Cop Bjornsen (Josh Brolin, r.) setzt Sportello unter Druck.
(Foto: 2013 Warner Bros. Entertainment Inc.)
Nun hat er nicht nur einen ungelösten Fall vor sich, sondern auch die Polizei im Nacken, in Form des harten Detectives Bigfoot Bjornsen (Josh Brolin). Die Cops sind überaus misstrauisch geworden gegenüber Hippies. Die Manson-Morde liegen noch nicht lange zurück und jede Ansammlung bekiffter Typen könnte eine Sekte sein. Doch Sportello ermittelt weiter und stolpert immer tiefer hinein in den Entführungs-Fall und in den Drogenrausch, bis nicht mehr klar ist, was er tatsächlich erlebt und was Halluzination ist. Aber wie war doch das Motto der 60er: Wer sich erinnern kann, hat's nicht erlebt.
Der 1970 geborene Anderson hat ein sehr gutes Auge für diese Zeit, entsprechend atmosphärisch ist sein Film - man achte nur mal auf die Geräusche, die er wie schon in seinen früheren Filmen einsetzt. Nach "There Will Be Blood", der um die Wende zum 20. Jahrhundert spielt, und "The Master", der die frühe Nachkriegszeit portraitiert, schreibt Anderson mit "Inherent Vice" seine eigene amerikanische Geschichte fort. Wieder ist es eine Epoche des Wandels: Erst war es die Entdeckung der Macht des Erdöls, die die USA veränderte, dann die Nachkriegsdepression. Nun ist es das Ende des "Summers of Love".
Man kann an Sportellos Augen sehen, wie müde das Land ist nach einem Jahrzehnt voller Wachstum, Optimismus, Rausch und Sex. Es ist ein böses Erwachen, mit brutalen Rockern, obskuren esoterischen Sekten, Drogenbanden und einem Zahnarztsyndikat namens "Golden Fang". Sportello taucht ein in diese Welt von Gewalt, billigem Sex (es gibt ein "Muschilecker-Spezial") und Drogen, schwankt von einem Hinweis zum nächsten und kommt seinem Ziel doch nie näher.
Hochkarätiges Ensemble
Den meisten Zuschauern dürfte es ebenso schwerfallen, der Handlung zu folgen. Eine Masse an Figuren, Namen und Handlungssträngen begleiten Sportellos Ermittlungen: Es gibt einen angeblich toten Saxofonisten (Owen Wilson) und seine Frau (Jena Malone), Sportellos neue Geliebte, die Staatsanwältin Penny Kimball (Reese Witherspoon), seinen Kumpel Sauncho (Benicio del Toro) und seine Bekannte Sortilège (Joanna Newson). Es gibt den Black-Panther-Aktivisten Tariq (Michael K. Williams), dem ein Neonazi Geld schuldet, den durchgeknallten Zahnarzt Dr. Blatnoyd (Martin Short) und viele weitere Figuren, denen der Privatdetektiv während seiner Ermittlungen begegnet und die alle irgendwie miteinander verbunden sind. Das ist typisch für Pynchon und funktioniert in einem Roman besser als im Film.
Aber natürlich unterstreicht diese Verwirrung den Zeitgeist der späten 60er. Man muss sich einfach darauf einlassen. "Inherent Vice" besticht ohnehin vor allem durch seine Hauptfigur, diesen so charmanten wie verpeilten Kiffer, der sich selbstbewusst seinen Weg bahnt, und überzeugt durch das hochkarätige Ensemble. Der Film lebt von seinen großartigen Bildern, von der Sprache und vom schrägen Witz, den viele Szenen offenbaren: Wie Josh Brolin mit seinem Bürstenhaarschnitt sein Bananeneis am Stil isst, fasst ganz gut zusammen, welche Bedeutung die 60er für die sexuelle Befreiung gespielt haben. Ein guter Grund, das Ende dieses Jahrzehnts noch einmal zu feiern.
"Inherent Vice" startet am 12. Februar in den deutschen Kinos.
Quelle: ntv.de