"Ich hatte mal eine Gitarre" Meist hat man mehr, als man denkt


Alles aufschreiben, um die Dinge aus dem Kopf zu haben - das klappt nicht immer, aber oft. Also schreibt Doris Knecht "Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe".
(Foto: IMAGO/Zoonar II)
Dies ist die Geschichte einer Veränderung: Wenn die Kinder ausziehen, wird sie ihre große Wohnung aufgeben und eine bezahlbare kleinere finden müssen. Außerdem muss sie sich mit Ende 50 fragen, ob sie gescheitert ist in einer Gesellschaft, die immer schneller, höher, weiter will, und nie zurück.
... E-Gitarre. Ich hatte einmal Goldfische. Ich hatte einmal einen Schweden zum Freund. Ich fuhr mal einen alten VW-Bus, als ich Anfang zwanzig war, damit sammelte ich meine Freunde ein, und wir fuhren auf Festivals. Ich war mal mit einem schönen, langhaarigen Mann zusammen, der ein Motorrad hatte mit einer Frauenhand aus Bronze, die den Tacho hielt. Ich war mal in Norwegen, mit vierzehn, als Au-pair, einen Monat lang, aber vielleicht war es auch Dänemark. Es ist egal. Es ist alles so oder so nicht mehr wahr. (Auszug aus "Eine unvollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe" von Doris Knecht)
Ist sie eine Verliererin? Die Kinder ziehen aus, der Mann ist es längst, die Wohnung wird zu groß für eine einzelne Frau. Oder besser gesagt: Sie wird zu teuer. Zu teuer, weil der Unterhalt nun an die studierenden Kinder direkt geht und die Mutter Ende 50 feststellen muss: Was brauche ich wirklich, was bleibt, woran erinnere ich mich? An erstaunlich viel dann doch, zum Glück, denn man liest gern, wie Doris Knecht in "Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe" ihre Protagonistin Abschied vom alten Leben nehmen lässt.
Es ist zwar ein bisschen Jammern auf hohem Niveau, die Erzählerin muss weder fliehen noch plötzlich aus der Wohnung wegen Eigenbedarf oder Flut. Aber deswegen kann man ihre Verfassung auch so gut nachempfinden. Sie kann ganz in Ruhe ihre Sachen sortieren, ihr Leben. Es ist ein Ausmisten, auch im Kopf. Das tut ja bekanntlich gut. Es tut an manchen Stellen natürlich auch weh, denn man muss sich verabschieden, von Dingen, von Erinnerungen, von Gewohnheiten. Von einer Phase im Leben. Zum Beispiel von der Phase, als man als junge Familie in diese Wohnung einzog. Aber man darf sich auch verabschieden von der Phase, als das in der Ehe nicht mehr so doll geklappt hat und man zwischen den Scherben seines Lebens saß.
Ein heiteres Buch
Doris Knecht lässt ihre Erzählerin recht analytisch an die Dinge herangehen. Sie wundert sich manchmal über sich selbst, was ihr einfällt, und was nicht. Was wichtig war, und was nicht mehr. Manchmal wirkt das Leben de Erzählerin fast ein bisschen zu ereignislos in unserer schnellen, lauten Welt, aber dann stellt man als Leserin doch auch wieder erleichtert fest, dass nicht jeden Tag irgendwas Dolles passieren kann oder muss. Dass das Leben manchmal einfach so dahin plätschert. "Ich wollte einmal ein heiteres Buch schreiben", sagt die österreichische Schriftstellerin dann auch zur Begründung ihres neuen Romans. Ein Satz, den man vielleicht nur im Kontext mit ihren anderen Büchern versteht, die ein bisschen unheiterer sind.
Man erkennt sich an einigen Stellen wieder, und gleichzeitig beneidet man die Erzählerin hier und da um das, was sie dann doch hat, was hier aber nicht verraten werden soll. Denn ganz so arm dran, wie es anfangs den Anschein macht, ist sie nicht. Sie hat eine Flucht, eigentlich zwei, und wäre ich eine Freundin von ihr, dann würde ich sie einmal kurz schütteln und fragen: "Geht's noch?", "Wach auf!" Und ich bin mir sicher, die Erzählerin würde aufwachen, sehen, was sie hat, und viel zufriedener sein.
Bin ich unsichtbar?
Sicher, ihre Kinder ziehen aus, das schmerzt. Das bringt aber auch neuen Raum für andere Menschen. Spannend! Und außerdem hat sie ja den Hund. Allein deswegen werden die Kinder immer wieder kommen. Und: Sie hat ihre Eltern noch. Beide! Ja, kann sein, dass es schwierig war als einzelnes Kind neben zwei Zwillingspaaren - den schönen Schwestern - aufzuwachsen , sich unsichtbar zu fühlen, nicht erkannt; aber hat nicht jeder seine Rolle in einer Familie?
Also - wenn Sie Doris Knechts Liste lesen, dann werden Sie feststellen, dass Sie es a.) selbst ganz gut haben, und b.) Sie sich endlich mal ein paar Fragen beantworten werden, die Sie sich lange nicht gestellt haben. Zum Beispiel: "Wo ist eigentlich meine Gitarre?" Und Sie werden nach Wien wollen, auch wenn die Stadt keine Hauptrolle in Knechts Roman spielt. Es ist dieses Beiläufige, mit dem die österreichische Journalistin die Lesenden in ihren Bann zieht.
Quelle: ntv.de