"Wir müssen Arbeit neu denken" Nagelschmidt tritt zur Nachtschicht an
19.07.2020, 17:31 Uhr
"Arbeit" - ein Roman für alle Nachtschichten. Wirklich alle.
(Foto: imago images / Winfried Rothermel)
"Arbeit", der neue Roman von Thorsten Nagelschmidt, wird gerade mit viel Wehmut gefeiert. Ach, diese wunderbare Zeit, damals, vor ein paar Monaten, als wir noch um die Häuser gezogen sind. Man kann die großartigen Porträts der Sanitäter, Drogendealer, Taxifahrer, dieser vielen Nachtarbeiter, die die langen Kreuzberger Nächtemöglichmachen, die Berlin erst sexy machen, auch anders lesen - nämlich mit der Scham derjenigen, die diese Dienste einfach selbstverständlich in Anspruch nehmen. Wie sollte man also "Arbeit" lesen? Am besten Thorsten Nagelschmidt selber fragen. Der Autor, Grafiker, Sänger und Texter der Punk-/Alternative-Rock-Band "Muff Potter" hat in seinem Leben nicht nur selber vieles ausprobiert, sondern für seinen jüngsten Roman unzählige Interviews geführt und in der Nacht gearbeitet.
ntv.de: Was ist beim Lesen von "Arbeit" angebracht? Party-Wehmut oder Scham?
Thorsten Nagelschmidt: Das Buch ist mit Sicherheit nicht als Hommage gedacht. Eher leuchte ich mit einer Taschenlampe in die dunklen Ecken.
Die Nostalgie hängt sicher auch mit dem Veröffentlichungszeitpunkt zusammen: "Arbeit" ist während des Lockdowns herausgekommen.
Ich habe befürchtet, dass "Arbeit" wegen der Corona-Zeit ein komplettes Desaster wird. Dreieinhalb Jahre Arbeit umsonst. Aber verschieben hätte sich auch nicht richtig angefühlt, obwohl mein Verlag mir das angeboten hat. Als die Buchhandlungen dann deutschlandweit wieder öffneten, besserte sich meine Laune. Jetzt gibt es vereinzelt wieder Veranstaltungen, im Stream, aber auch mit Publikum.
Du hast in dem Buch mit Drogendealern und Flaschensammlern auch ungewöhnliche Tätigkeiten als Arbeit identifiziert. Wie kam es dazu?
Mir geht es beim Begriff Arbeit erstmal ganz wertfrei um Tätigkeiten, die man vornimmt, um die Miete zu bezahlen und Brot auf dem Tisch zu haben - das gilt dann für den Polizisten genauso wie für den Taschendieb oder den Drogendealer. Als ich in den Nullerjahren nach Berlin kam, hätten viele die Begriffe Berlin und Arbeit kaum zusammengebracht. Da hieß es noch, in Berlin würden alle nur feiern. Hedonismus, Laissez-faire. Das erschien mir aber damals schon recht kurz gedacht - denn meistens müssen nun mal welche arbeiten, damit andere feiern können.
Andere von dir beschriebenen Jobs, wie die Sanitäter oder sogar die Lieferdienste, gelten dagegen mittlerweile als "systemrelevant" und wurden zeitweise beklatscht. Welchen würdest du beklatschen?
Keinen. Das empfinde ich als mindestens paternalistisch, wenn nicht sogar ein Hohn. Ich habe neulich ein Graffito gesehen: Lohn statt Lob. Das sehe ich auch so. Am schlimmsten finde ich das Klatschen, wenn es aus der Politik kommt. Mit so einem 200-Euro-Einkaufsgutschein von oben herab tätscheln, "hier, kauf' dir was Schönes", an den Arbeitsbedingungen und der Bezahlung aber nichts ändern wollen, das ist Zynismus. Wir müssen den Wert von Arbeit neu begreifen. Aktuelles Beispiel ist der Tönnies-Fall, wo es nur darum zu gehen scheint, dass das Virus bloß nicht auf die "normale" Bevölkerung überspringt. Ich persönlich habe selber ein sehr ambivalentes Verhältnis zur Lohnarbeit. Nichts gelernt, keine Ausbildung, nichts studiert. Ich hatte zwar jede Menge furchtbare Jobs, aber ich wusste immer, ich mache das jetzt, damit ich meine Musik machen kann, schreiben kann. Seit 2005 kann ich von meiner Kunst leben, da bin ich sehr dankbar für.
Gab es bei dir nie die "Geh doch zu Onkel Werner in die Werkstatt"-Diskussion?
Ich war schon sehr früh sehr renitent, ein Punk-Kid. Deswegen hat meine Mutter nicht geglaubt, dass sie mir da viel erzählen kann, aber sie hat darunter gelitten, das weiß ich. Ich komme aus einer Arbeiter-/Angestellten-Familie, war der erste mit Abitur und das war schon eine Enttäuschung, dass ausgerechnet der Junge "nichts draus macht". Den Eindruck hatte ich natürlich überhaupt nicht, ich habe wahnsinnig viel gemacht. Ich habe geschrieben, habe ein Fanzine herausgebracht und hatte meine Band. Aber halt nicht auf klassischer Bildungsebene und es kam auch kein Geld dabei rum.
Wann hat deine Mutter angefangen, das, was du tust, als Arbeit zu begreifen?
Anfang, Mitte der Nullerjahre. Da hatten wir ein Management, den ersten Plattenvertrag. Da kam sie dann auch zu den Konzerten und war oft die Letzte, die ging.
Tanja, die Sanitäterin, oder Ingrid, die Flaschensammlerin/Buchhändlerin, haben Arbeitskleidung. Wie ist das bei dir? Gibt es einen Teil des Kleiderschrankes "der Autor" - einen Teil "der Sänger"?
Ich trage seit ungefähr zehn Jahren fast nur Anzüge. Weil ich das kleidsam finde, aber vor allem aus Bequemlichkeit und banalen, praktischen Gründen. Im Jackett hat man je eine Tasche für Portemonnaie, Notizbuch, Handy und Zigaretten. Heute ist so ein warmer Tag und ich habe nachher noch einen Termin, da habe ich überlegt, ob ich das Jackett weglasse, aber dann müsste ich eine Tasche mitnehmen. So einen Jutebeutel, als wäre 2005 nie vorübergegangen.
Du beschreibst im Buch "Arbeit" einen 12-stündigen Arbeitstag - der in der Nacht stattfindet. Wie ist dein Arbeitsrhythmus?
Ich habe phasenweise ganz unterschiedliche Arbeitsrhythmen. Textarbeit ist anders als eine Lesetour. Dazwischen gibt es auch mal diese Limbozustände, wo ich gar nichts hinkriege. "Arbeit und Struktur" war mein Lieblingstext von Wolfgang Herrndorf. Irgendeine Art von Struktur muss ich mir jeden Tag neu erkämpfen und das geht am besten durch Arbeit. Das ist der Nachteil, wenn man keinen Chef hat. Man muss gegen sich selber rebellieren. Vielleicht bin ich deshalb so ein manischer Tagebuchschreiber, weil ich Sachen für mich ordnen muss.
Für die Recherche zu "Arbeit" hast du nicht nur viele Interviews geführt, du hast einige der im Buch beschriebenen Jobs selber ausprobiert. Welchen würdest oder könntest du, wenn es hart auf hart kommt, selber ausüben?
Oh, gute Frage. Das kann ich am besten per Ausschlussverfahren beantworten. Lieferservice per Rad, mit diesen ausbeuterischen und selbstausbeuterischen Tendenzen, fällt schon mal raus.
Bei mir auch, ich bin aber schon keine gute Radfahrerin.
Ich bin ein ganz guter Fahrradfahrer, aber ich würde das nur ein, zwei Stunden lang aushalten, dann würde ich durchdrehen. Es liegt natürlich eine gewisse Romantik im Taxifahren, aber die Taximenschen sind gerade noch schlechter gelaunt als sonst. Wegen Uber war alles ja schon ohnehin nicht mehr so "Lobet den Herrn", wie meine Romanfigur Bederitzky sagen würde, und dann noch Corona. Sanitäter? Nee, kann kein Blut sehen.
Dazu diese ganzen Entscheidungen über Leben und Tod treffen, diese riesige Verantwortung.
Und das in 12-Stunden-Schichten, bei sehr überschaubarer Bezahlung. Das hält man nicht viele Jahre aus. Bleibt wohl nur der Drogendealer.
Der war im Buch fürsorglich und hatte auch so ein bisschen Swag.
Das ist natürlich, vielleicht wieder romantisierend, der gefährlichste Beruf. Ich hatte ja gleich zwei Dealer im Buch, die vom Verdienst her, aber auch vom Glamourfaktor nicht weiter voneinander entfernt sein könnten. Felix, der Partydrogen aus seiner Wohnung heraus vertickt, und Moussa, der im Görlitzer Park Gras verkauft, weil er keine Aufenthaltserlaubnis hat.
Was du tatsächlich während der Recherche ausprobiert hast, waren Nachtschichten im Hostel.
Ja, für einen Monat. Ich war überrascht, wie gut die unterschiedlichen Leute miteinander klarkamen, so ganz ohne Law and Order. In so einem Hostel treffen Menschen mit Schufa-Einträgen bis Tegel und ohne Wohnung auf solche mit psychischen Problemen. Auf Geflüchtete, die die 12,50 Euro pro Nacht zusammengekratzt haben. Auf Besucher der Fashion Week, Feiertouristen und so weiter. Ich hatte den Eindruck, dass alle versuchen, miteinander klarzukommen. Da nimmt sich so ein Nachbarschaftsstreit mit jahrelangen Prozessen in so mancher wohlstandsverwahrlosten Kleinstadt noch peinlicher aus.
Du hast unzählige Interviews für "Arbeit" geführt. Wer ist dir besonders im Gedächtnis geblieben?
Die von mir interviewten Gebrauchtbuchhändler waren alle wirklich schlecht gelaunt. Viele davon sind halt vor Jahrzehnten mit der Idee gestartet, schöne Bücher und wertvolle Erstausgaben an Connaisseure zu verkaufen. Die Klientel dafür stirbt aber mehr und mehr aus und dann kamen auch noch Amazon und Medimops. Jetzt verramschen sie möglichst große Mengen für 50 Cent pro Buch und müssen wegen dieser absurden Wertschätzung sich kultiviert dünkender Bürger für das gedruckte Buch im Sinne von "Ich kann ja keine Bücher wegschmeißen" wertlose Buchspenden annehmen. Als "Arbeit" herauskam, bin ich mit einem Exemplar zu einem dieser Gebrauchtbuchhändler und er meinte nur: Nee, danke, will ich nicht haben. Er hat sogar abgestritten, mit mir gesprochen zu haben. Tatsächlich hatte er es damals abgelehnt, mir ein Interview zu geben, aber bei der Begründung so hart über seinen eigenen Beruf abgeledert, dass ich aus der Tirade viel mitgenommen habe. Er konnte ja nicht wissen, dass genau das mich interessiert hat.
Ich glaube nicht daran, dass sich beim Thema Arbeit nach Corona etwas Grundlegendes ändern wird, ich empfinde den Sog zurück zur sogenannten "Normalität" schon jetzt als sehr stark.
Ich bin tendenziell auch immer eher pessimistisch, glaube aber, dass es nach 40 Jahren der sozial- und wirtschaftspolitischen Liberalisierungen wieder mehr Regulierung geben wird. Wir werden nicht zurückkehren zu den 1950er bis 1960er, das wollen ja auch die wenigsten, außer vielleicht Populisten, die mit den Emotionen spielen. Aber auch hier ist die Sache bei Tönnies das beste Beispiel dafür, dass es mehr Regulierungen im Arbeits- und Wirtschaftsleben geben muss.
Wird es einen Teil zwei von "Arbeit" geben? Ich würde gerne wissen, was in Zeiten von Corona mit den Figuren passiert. Wer hat zum Beispiel überhaupt noch Arbeit?
Ich könnte für einen zweiten Teil auch die restlichen 12 Stunden erzählen, also den Tag. So ein somnabuler Teil zwei. Dieses Müdigkeits- und Erschöpfungsgefühl müsste sich übertragen, natürlich ohne dass es langweilt. Nicht einfach umzusetzen, ich habe es ja in Ansätzen bei Ten, dem Türsteher, oder Anna, der Spätifrau, schon probiert. Wäre eine Idee!
Ich soll noch von einem Kollegen ausrichten: "Muff Potter" waren sehr, sehr gut!
Finde ich auch.
Ist die Vergangenheitsform denn noch richtig?
Ja, vielleicht. Wir haben einen neuen Song veröffentlicht, es hätte auch ein paar Konzerte eventuell gegeben, das ging dann nicht. Aber das Wichtigste ist: Wir haben uns selbst bewiesen, dass es zumindest musikalisch noch Anknüpfungspunkte gibt.
"Muff Potter" haben sich 2009 aufgelöst. Haltet ihr untereinander Kontakt?
Ja, wenn auch nicht regelmäßig und nicht jeder mit jedem gleich viel. Aber das spielt keine Rolle. Mit meinem Schlagzeuger treffe ich mich vielleicht einmal im Jahr, aber wir sind ohnehin für immer verbunden, ich habe sein Porträt auf meinem Bein tätowiert. Ob wir als Band demnächst mit irgendetwas rauskommen, weiß ich nicht. Um es mit Rocko Schamoni zu sagen: Ich hätte Bock. Wir lassen uns aber Zeit. Wir müssen zum Glück nichts mehr beweisen, wir sind frei.
Mit Thorsten Nagelschmidt sprach Samira Lazarovic
Quelle: ntv.de