Skandale, Angriffe, Nobelpreis Elfriede Jelinek wird 60
20.10.2006, 11:01 UhrKeine Schriftstellerin schaffte es wie sie, ihre Landsleute zu begeistern und zu verstören, Leser und Theatergänger aufzuwühlen und zu spalten: Elfriede Jelinek hat die österreichische Vergangenheit und den verlogenen Umgang mit ihr ans Licht gezerrt und wurde dafür öffentlich attackiert. Sie entlarvte verborgene Mechanismen der Gesellschaft und wurde dafür als "neurotisch" abgestempelt. Sie erhielt die höchste internationale literarische Auszeichnung und erntete nur irritierte Reaktionen des offiziellen Österreich. Am Freitag (20. Oktober) wird die Provokateurin, Moralistin und Krimi-Liebhaberin 60 Jahre alt.
Als im Oktober 2004 das Stockholmer Komitee Elfriede Jelinek als Literatur-Nobelpreisträgerin ausrief, herrschte in ihrer Heimat hilflose Irritation: Während das kulturelle Österreich über die Anerkennung für die scharfe moralische Anklägerin und sprachgewaltige Autorin jubelte, konnte sich Kunst-Staatssekretär Franz Morak nur dazu durchringen, eine "Anerkennung für den Kreativ-Standort Österreich" zu erkennen. Rechte Freude über die hohe Ehrung für die umstrittenste Künstlerin des Landes wollte nicht so recht aufkommen.
Schließlich hatte sich Jelinek als prominente Gegnerin jener Regierungskoalition profiliert, der Morak angehörte. Mit Theatertexten und eigenen Auftritten unterstützte sie die monatelangen Proteste gegen die Regierungsbeteiligung der Freiheitlichen Partei, die von Jörg Haider und Wolfgang Schüssel eingefädelt worden war. In ihrer erbitterten Gegnerschaft zu Haider und der rechtsnationalen, geschichtsvergessenen Haltung, die er für sie repräsentierte, sah sie sich "gescheitert".
Doch das war nicht der Grund, weshalb sie sich in den vergangenen Jahren zunehmend aus der Öffentlichkeit zurückzog. Tatsächlich ist es ihre Menschenscheu und ihre psychische Labilität, die sie dazu zwingt: "Ich halte es nicht aus, angesehen zu werden", beschreibt sie selbst diesen Zustand. Aus ihrer Krankheit machte Jelinek nie ein Hehl und begründete damit auch ihre Entscheidung, nicht zur Ehrung nach Stockholm zu fahren. Ein Geständnis, das wieder irritierte, denn international wurde "die Jelinek" als starke, angriffslustige Autorin und vor allem als öffentliche Person wahrgenommen.
In der Tat ist die Ambivalenz gewaltig: Da ist die bekennende Mode-Fetischistin Jelinek mit auffälliger Selbststilisierung, die Liebhaberin von Horror-Filmen und "Medien-Junkie". Da ist die erbarmungslose politische Angriffslust, da sind die fast rauschhaft furiosen Texte. Da ist die höflich zurückhaltende Wienerin, die in Interviews mit schlagfertigem Witz überrascht -und da ist die höchst verletzliche Persönlichkeit Jelinek: "Alle, die glauben, sie wüssten etwas über mich, wissen nichts," sagt sie selbst.
In ihrem Werk bringt sie aus ihrer Sicht "allgegenwärtigen männlichen Herrschafts- und Gewaltverhältnisse" zur Sprache und verbindet Kunst untrennbar mit gesellschaftspolitischer Stellungnahme. Dabei beschreitet sie gleichzeitig neue sprachliche Wege. Ihre Bühnentexte brachten Regisseure wie Nicolas Stemann, Christoph Schlingensief oder den verstorbenen Einar Schleef dazu, innovative Theaterbilder zu erfinden.
Ihre pointierten Texte gestaltet die Autorin dabei nicht als politische Pamphlete. In langen, oft über Seiten hinweg absatzlosen Textflächen flicht sie verschiedene sprachliche Ebenen ineinander und entlarvt die Mechanismen, die sie anprangert, durch die Sprache der Akteure und durch Klischees und reagiert rasch auf politische Aktualität. So griff sie in ihrem Theatertext "Bambiland" 2003 zur brachialen Sprache von Porno und Medien, um die zerstörerische Kraft des Krieges darzustellen.
In ihren ersten Romanen "wir sind lockvögel, baby!" (1970) und "Die Liebhaberinnen" (1975) warf sie in kunstvoller Sprache, die obszöne Jargons sowie Motive der Trivialliteratur aufgreift und persifliert, die Themen weibliche Sexualität und Geschlechterkampf als literarische Sujets auf. Mit ihrem Roman "Die Kinder der Toten" (1995), den sie als ihr Hauptwerk sieht, klagte Jelinek den Umgang ihrer Landsleute mit der nationalsozialistischen Vergangenheit an.
Jelinek wurde am 20. Oktober 1946 in Mürzzuschlag in der Steiermark geboren. Von ihrer ehrgeizigen, vereinnahmenden Mutter wurde sie zunächst auf eine Musikerkarriere vorbereitet und besuchte das Wiener Konservatorium. Ihr Werk umfasst Lyrik, neun Romane, mehr als 15 Theaterstücke, zahlreiche Hörspiele und Essays.
Am Theater sorgte Jelinek mit Dramen wie "Stecken, Stab und Stangl" (1996) oder "Ein Sportstück" (1998) für Skandale und wurde während der Ära Peymann am Wiener Burgtheater zur meistgespielten österreichischen Dramatikerin. Sie wurde unter anderem mit dem Mülheimer Dramatikerpreis, dem Georg-Büchner-Preis, dem Kölner Heinrich-Böll-Preis und dem Düsseldorfer Heinrich-Heine-Preis ausgezeichnet.
Von Irmgard Schmidmaier, dpa
Quelle: ntv.de