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Von Kriegen, Sex und Untergang Was "Lázár" mit "White Lotus" verbindet 

29.11.2025, 16:31 Uhr IMG-7408Von Sarah Platz
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Einst lebte die ungarische Familie Lázár im Luxus. (Symbolbild) (Foto: picture alliance / Hartwig Lohmeyer/JOKER)

Eine Adelsfamilie, die durch den Untergang der Monarchie alles verliert, was ihr lieb und teuer ist: Die Geschichte der ungarischen Lázárs deckt sich in Teilen mit der des erst 22-jährigen Nelio Biedermanns und bringt ihm den Durchbruch. An vielen Stellen lässt sich ein bekanntes Schema entdecken.

Nelio Biedermann ist so etwas ein literarischer Clou gelungen. Nun mag ein Adelsroman aus dem Südungarn des 20. Jahrhunderts die historisch eher sporadisch interessierte Hörerin nicht auf Anhieb vom Hocker hauen. Auch lässt sich über Biedermanns Stil ("Der neue Thomas Mann" oder "sprachliche Schlaumeieren") sicherlich streiten. Fest steht jedoch, dass der Autor mit seinem zweiten Roman "Lázár" nicht nur die durchaus eingefahrene Booktok-Community gesprengt hat. Der erst 22-jährige Schweizer lockte - mit demselben Werk - auch das Feuilleton hinter seinem teils verstaubten Bücherregal hervor.

"Lázár" erzählt die Geschichte einer ungarischen Adelsfamilie, die vor dem Hintergrund historischer Katastrophen so gut wie alles verliert. Der Hörer steigt mit der Geburt von Lajos von Lázár um 1920 in das Geschehen ein. Gewissermaßen wächst er mit dem "blonden Kind mit den wasserblauen Augen" auf, verfolgt seine Entwicklung vor dem Hintergrund familiärer Krisen und dem Untergang des Kaiserreichs.

Angefangen auf einem Waldschlösschen mit Herend-Porzellan, Bediensteten und viel Prunk, ringt die Familie zunehmend um das, was ursprünglich als von Gott gegeben schien. Mit dem Zerfall der Monarchie, dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg schwindet erst ihr Reichtum, dann ihr Adelsstand. Als der Kommunismus kommt, ist von ihren angesehenen Berufen, von all dem Schmuck, den Immobilien, den Möbeln nicht mehr viel übrig. Was bleibt, ist die Heimat. Zumindest bis 1956, als der Volksaufstand in Ungarn die Familie zur Emigration in die Schweiz zwingt.

Politische Umbrüche und Familiengeheimnisse

Die Familie Lázár steht für das Verschwinden einer für die Ewigkeit geglaubten Tradition und Ordnung. Drei Generationen lässt Biedermann über rund 50 Jahre gegen diesen langsamen, aber unaufhaltsamen Fall kämpfen. Da ist der Báron Sándor von Lázár, der schon mit der Geburt "seines" Sohnes spürt, dass etwas nicht stimmt. Im Gegensatz zum Hörer erfährt er allerdings nicht, dass ein Knecht der Vater des Jungen ist. Und da sind die Enkel des Barons, die Kinder von Lajos - Eva und Pista - mit denen die Geschichte endet.

Biedermann verzichtet auf eine Hauptfigur. Episodenhaft teilt er das Geschehen auf die Familienmitglieder auf. Im Fokus dabei stehen stets die Gedanken, Träume und Ambitionen seiner Figuren - zunehmend geprägt von Vertreibung, Enteignung, Nationalsozialismus und Flucht. Doch es sind nicht nur die politischen Umwälzungen. Die Familiengeheimnisse der Lázárs, über Generationen hinweg fein säuberlich unter den Teppich gekehrt, scheinen für jeden einzelnen eine mindestens so große Bürde zu sein wie die Last von außen. Sei es die Großmutter, die sich aus Liebeskummer das Leben nahm oder der immer wiederkehrende Wald vor dem Schlösschen, der über Jahrzehnte hinweg für Trauma und Tod in der Familie sorgte.

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Lázár
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Mit der Geschichte der Lázárs, die Anfang September im Rowohlt-Verlag und als Hörbuch im Argon-Verlag erschien, schaffte Nelio Biedermann den literarischen Durchbruch. Schon jetzt wurde das Buch in 18 Sprachen übersetzt und in 20 Länder verkauft. "Lázár" stand auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis und wurde zum Lieblingsbuch der Unabhängigen gekürt. "Ist das der neue Thomas Mann?" titelt das Feuilleton, "Große Literatur" heißt es an anderer Stelle über den Roman.

Die Getriebenen

Ein clever und detailgenau ausgearbeitetes Familienkonstrukt, das auf realitätsnahe Weise mit historischen Ereignissen verwoben wird. Ein erst 22-jähriger Autor, der noch mitten im Germanistik-Studium steckt. Und schließlich die Tatsache, dass Biedermanns Werk an vielen Stellen auf seiner eigenen Familiengeschichte beruht. Die Aufruhr der Szene überrascht vor diesem Hintergrund kaum.

Die Frage, was all dies mit Booktok zu tun hat, dürfte sich hingegen geradezu aufdrängen. Unter dem Hashtag Booktok werden in den sozialen Medien vor allem Young-Adult-Geschichten angepriesen. Die überwiegend weibliche und zunehmend einflussreiche Szene ist bekannt für ihre Vorliebe zu Fantasy-Romanen, vor allem aber dem Hang zu Romantik und starken Emotionen. Ein Schema, das auch Biedermann zu bedienen weiß.

"Lázár" trieft an vielen Stellen vor Liebeskummer, Depression und Trauer seiner Figuren. Ausweglosigkeit und Trübsinn ziehen sich wie ein roter Faden durch den Roman. An vielen Stellen scheinen sie die Figuren voll und ganz einzunehmen. Biedermanns Protagonisten wirken dann wie Getriebene ihrer eigenen Gefühle, ja beinahe überzeichnet. So erzählt der Autor etwa in jeder Einzelheit, wie Maria tagelang regungslos im Bett liegt, als ihr geliebter Stallknecht stirbt.

An Sex-Szenen mangelt es nicht

Biedermann hält die Kamera schonungslos drauf. Nicht nur in Trauer seiner Figuren, sondern auch - wenn nicht vor allem - bei sexueller Begierde. So reichte für Sándors Tochter Ilona ein einziger Blick auf den neuen Hauslehrer, um ihre "Knochen vibrieren" zu lassen. Sándor selbst fand sich immer öfter bei Prostituierten. Zum Vergnügen, aber auch, um zu vergessen - "die nationalen Bestrebungen der Balkanländer", das "bedrohliche Russland", "sogar seinen schwächlichen blassen Sohn". Biedermann spart nicht an erotischen Szenen, driftet hier und da jedoch durchaus ins Vulgäre ab.

Vor diesem Hintergrund mag folgende Warnung zunächst verwirrend klingen: "Lázár" ist ein komplexes Buch. Das fehlende Zentrum wird für die Hörer zur Herausforderung; dass Biedermann die Chronologie oft nicht einhält, macht es nicht einfacher. Schließlich fordert der Stil des jungen Autors seinen Hörern einiges ab: Biedermanns Sätze können elendig lang sein oder gespickt von verwirrenden Beschreibungen wie dem "milchigblauen Himmel". Mal erstickt ein Satz am Plusquamperfekt, mal erinnert der Stil an ein Märchen und mal wirkt er ganz aus der Welt gefallen. An vielen Stellen braucht es eine Weile, um der konstruiert-bildhaften Sprache zu folgen. Das Problem: Genau diese Weile hat der Hörer nicht, ob der komplexen Familienstruktur und dem Ritt durch die Weltgeschichte. Kurzum: "Lázár" ist sicherlich kein Hörbuch für die U-Bahn.

Und doch lohnt sich das Hörerlebnis allemal. Zum einen schafft es Max von Pufendorf, die teils herausfordernde Sprache zu entwirren. Seine starke Betonung lässt die Hörerin an entscheidenden Stellen aufhorchen. Zum anderen entsteht durch das hohe Erzähltempo und den episodenhaften Aufbau ein gewisser Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann. Gewissermaßen schafft Biedermann etliche kurze Teaser, indem er von Figur zu Figur springt und allesamt immer wieder in tiefer Sehnsucht oder Verzweiflung zurücklässt. Wer die Serie "White Lotus" gesehen hat, mag an dieser Stelle Parallelen finden: im spannungshaltenden Aufbau, die teils stark überzeichnete Charaktere, der Blick hinter die Fassade der Reichen und Schönen.

Nelio Biedermanns Zweitlingswerk zwingt seinen Hörern Aufmerksamkeit ab. Wer die Mühe aufbringt, wird belohnt. Mit dem eigenen Stil eines jungen Autors, der den sonst so seltenen Austausch zwischen der Booktok-Community und dem Feuilleton vorangebracht hat. Und mit der Tatsache, den literarischen Clou nicht verpasst zu haben.

Quelle: ntv.de

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