Pubertierende Altherren Die Rolling Stones im Blues-Modus
02.12.2016, 10:22 Uhr
Wenn vier Mittsiebziger ihre eigene Jugend abfeiern, sucht man normalerweise schnell das Weite. Nicht so im Fall der Rolling Stones. Die Rock-Dinos zünden mit ihrem neuen Album ein Blues-Feuerwerk ab, das alle Retro-Bands der Gegenwart vor Neid erblassen lässt.
Ergrautes Haupthaar, spindeldürre Körperhüllen und Furchen in der Haut, die jeden Make Up-Stylisten in Ohnmacht fallen lassen: Wer sich die aktuellen Jagger und Co-Pressebilder anschaut, der wundert sich, dass die Herren überhaupt noch auf zwei Beinen stehen können.
Gezeichnet von fünf Jahrzehnten auf der Sex, Drugs & Rock'n'Roll-Überholspur präsentieren sich die fünf Rock-Dinos wie ein antikes Hangover-Kollektiv kurz vor dem Aufbruch zu ihrem letzten gemeinsamen Wochenend-Trip.
Doch der Schein trügt. Die dienstälteste Rampenlicht-Combo dieser Welt denkt gar nicht daran, ihr opulentes Karriere-Erbe zu Grabe zu tragen. Statt die Rocker-Rente zu genießen und die Füße baumeln zu lassen, kommen die rollenden Steine lieber mit einem neuen Studioalbum um die Ecke.
Zurück zu den Wurzeln
Das gute Stück heißt "Blue & Lonesome" und markiert das erste Studio-Lebenszeichen seit zehn Jahren ("A Bigger Bang"). So weit, so gut. Die Tatsache allein wird die Rock- und Pop-Welt kaum auf den Kopf stellen. Denn ob nach drei oder nach zehn Jahren - ein neues Stones-Album ist schon lange kein Grund mehr, alles andere stehen und liegen zu lassen. Dafür präsentierten sich die letzten Outputs der Band schlicht und einfach zu unspektakulär.
Mit ihrem neuen Album hingegen bringen die Herren Jagger, Richards, Watts und Wood einen Stein ins Rollen, der seit über 50 Jahren sein Dasein im Schatten von überdimensionalem Arena-Rock-Geröll fristet. Nun bahnt er sich seinen Weg zurück ins Rampenlicht und lässt sich von niemandem mehr aufhalten. Begleitet wird er dabei von einem Soundtrack, der vor allem Fans der ersten Stunde begeistert in die Hände klatschen lässt.
Fernab vom Bombast der jüngeren Vergangenheit orientiert sich das "Blue & Lonesome"-Fundament an den Glanzzeiten einer musikalischen Epoche, in der das minutenlange Bearbeiten einer Mundharmonika und das permanente Wiederholen eines einzigen Gitarren-Schemas jedem anderen musikalischen Entwurf die lange Nase zeigten.
Wie in einer Zeitkapsel
Damals bestimmten Namen wie Jimmy Reed, Willie Dixon, Eddie Taylor, Little Walter und Howlin' Wolf die Schlagzeilen. Sie alle spielten den Blues: unverfälscht, knarzig und umhüllt von einer Wolke aus Wehmut, Schmerz und Melancholie. Auch die Rolling Stones spielten einst den Blues, ehe sie in der Welt herumgereicht wurden und dem Reiz des Stadionrocks erlagen.
Anno 2016 kramen sie sie wieder hervor: die Erinnerungen an die ersten Auftritte im Jazzclub von Ealing und dem Londoner Marquee. Mit "Blue & Lonesome" schließen sie den Kreis. Mit der Unbekümmertheit einer Genre-verliebten Hinterhof-Kapelle adeln die Stones ihre Helden. Das Ergebnis: zwölf Coversongs, von denen jeder einzelne mehr Staub aufwirbelt als alle Mitbewerber-Retro- und Vintage-Produktionen der Gegenwart zusammen.
Wenn die Bluesharp an den omnipräsenten Jagger-Lippen festklebt und die kratzigen Nostalgie-Riffs der Herren Richards und Wood sich ihren Weg durch die Boxen schälen, fühlen sich Ü-60-Anhänger der Band wie Reisende in einer Zeitkapsel. Da stört es auch nur am Rande, wenn der älteste Stein im Background (Charlie Watts) bisweilen nicht mehr ganz hinterher kommt.
Großes Kino
Einzelne Perlen des Albums hervorzuheben, macht nur wenig Sinn. "Blue & Lonesome" ist ein Gesamtkunstwerk. Vom eröffnenden Boogie-Blues des Buddy Johnson-Klassikers "Just Your Fool" bis zum finalen Hauch von Willie Dixons "I Can't Quit You Baby" pulsiert das Album im Rhythmus der Vergangenheit.
Ein halbes Jahrhundert nach ihrer Bandgründung verbarrikadieren sich die Stones hinter imaginären Chicago-Blues-Mauern. Und draußen kleben Millionen Ohren an den Wänden: die der Geister von Eddie Taylor und Jimmy Reed genauso wie die von eingefleischten Blues-Liebhabern. Großes Klang-Kino im kleinen, verrauchten Rahmen: Die Rolling Stones kommen noch einmal im Pubertäts-Modus um die Ecke. So schön, schön war die Zeit …
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Quelle: ntv.de