
"Negative Capability" ist eines der besten Alben der eindrucksvollen Karriere von Marianne Faithfull.
Man verrät kein Geheimnis, wenn man sagt, dass das neue Album von Marianne Faithfull ein über die Maßen wunderbares Alterswerk ist, in dem die Ikone schonungslos, offen und verletzlich über ihr Leben, ihre Wünsche, ihre Liebe singt.
Okay, "eine Nacht in Paris mit Marianne Faithfull" - das ist tatsächlich eine Übertreibung in der Überschrift. Aber so ist das mit Überschriften. Und eigentlich kann man in Überschriften gar nicht genug übertreiben - zumindest, wenn es im folgenden Text um Faithfulls neues Album geht. Letztendlich handelte es sich tatsächlich bloß um eine halbe Stunde in Paris mit Marianne Faithfull, aber die ist großartig. Und deswegen stimmt auch hundertprozentig, was im Teaser steht, nämlich, dass ihr neues Album über die Maßen wundervoll ist. Schon lange dürfte man keine Musik dieser Art mehr gehört haben, mit Texten, die unter die Haut gehen, die nachdenklich machen und die trotzdem zum Mitsingen animieren.
In Paris sitzen nun, zur Vorstellung des neuen Albums, Journalisten, Wegbegleiter, Fans und Freunde der 71-jährigen Künstlerin, die im angesagten Club "Silencio" einen Kurz-Auftritt auf der Bühne absolviert. Es ist ihr 21. Studioalbum, heißt "Negative Capability" (es ist jedoch sehr "positive", vor allem zwischen den Zeilen) und Madame lässt ganz schön auf sich warten. In ihrer über 50-jährigen Karriere ist wohl kaum ein Album von ihr so sehnsüchtig erwartet worden wie dieses. Und deswegen freute man sich auch, das Video zur ersten Single-Auskopplung "The Gypsy Faerie Queen" - inspiriert von Shakespeares "Midsummer Night's Dream" - zu sehen. Genussvoll lehnte sich nun also das - überwiegend - in die Jahre gekommene Publikum in die samtenen Sessel, lauschte entzückt und sah ganz entrückt dem Treiben einer Mariannen-haften, an eine frühe Faithfull erinnernde Elfe in dem märchenhaften Film zu. Gemeinsam mit Nick Cave hat sie das zarte Lied aufgenommen, es vereint die beiden Ikonen in großer Harmonie am Mikrofon.
Lieben, leben und bereuen
Gesungen hat sie an dem Abend in Paris nicht, aber sie hat Fragen beantwortet. Man sah, dass es ihr nicht leicht fällt - zu heiß, zu hell, zu zugig, zu voll, und auch wenn das kapriziös klingt: das war es gar nicht. Auf der Bühne saß eine Frau, die, wie alle wissen, viel erlebt hat. Die dieses Erlebte mit sich herumgeschleppt hat, noch immer schleppt, die immer das Mädchen von Mick Jagger und auch Keith Richards war. Die lebte und liebte und bereute und mit einer anfangs glockenklaren Stimme sang. Zum Beispiel "As Tears Go By", ein Geschenk der "Jungs", wie sie ihre höchstpersönlichen Rollings-Stones-Helden einmal nannte. Ein Geschenk aus dem Jahre 1964, da war sie 18, mit dem sie nun den Kreis schließt? Es wirkt fast so.
Glockenklar ist ihre von Zigaretten und dem Leben geprägte Stimme nun überhaupt nicht mehr und deswegen klingt dieser Song jetzt vielleicht endlich so, wie er immer schon klingen sollte. "Als ich das Lied zum ersten Mal aufnahm, mochte ich es nicht besonders", sagte sie dem "Rolling Stone". "Und beim zweiten Mal (Anm.d. Red.: 1987) war ich so traurig. Und jetzt, endlich, hab' ich's. Ich verstehe es, und ich liebe es." Und fügt hinzu: "Es ist ein großes Wunder, dass ich diese Platte noch machen konnte."
L assen wir die Vergangenheit also ruhen, darüber wurde auch schon so viel geschrieben, denn tatsächlich reicht es vollkommen, sich der aktuellen Marianne Faithfull zu widmen. Auf "Negative Capability" spricht die gebrechlich Wirkende schließlich selbst davon, dass sie wirklich alles gesehen hat, alles erlebt hat. Früher habe sie darauf geachtet, möglichst wenig von sich preiszugeben, erzählt sie - um diesmal hingegen ganz viel herauszulassen? Es sieht so aus, denn neben ihren sehr persönlichen Texten spürt man eine Menge Schmerz, Schmerz jeglicher Art; die Arthritis lässt sie am Stock gehen. Wie gesagt, es ist ein kleines Wunder, dass sie diese Platte machen konnte.
Poesie, Herz und Seele
Ihre Musik ist aber viel mehr als Schmerz und Tagebuch, sie ist Poesie, Einsicht, voller Herz und Seele, gesungen von einer Künstlerin, die noch immer unwiderstehlich ist. Die Texte handeln von Verlust und Angst, von Mysterien und der Wahrheit, von Habenwollen und Hergeben, davon, dass das Leben auch weiterhin ein Abenteuer ist. Da zieht eine Frau mit über 70 Jahren ein Resümee, und das ist ganz großes Kino, ganz große Kunst. Sie stellt sich dem Leben, sie stellt sich dem Alter, sie blickt zurück und will immer noch ganz viel von der Zukunft. "Send me someone to love, someone who could love me back. Love me for who I really am, not an image, not for money. I know I'm not young and I'm damaged, but I'm still pretty, kind and funny." Das ist so berührend, so unglaublich ehrlich, dass der Song einen fassungslos macht. Und dennoch singt man ihn nach dreimaligem Hören mit.
An ihrer Seite hat sie bei "Negative Capability" nicht nur den grandiosen Nick Cave, sondern auch andere Freunde, Größen wie Warren Ellis, Ed Harcourt und Mark Lanegan, und mit ihnen gemeinsam betrauert sie den Verlust alter Freunde ("Don't Go"), öffnet sich, singt über ihre Wahlheimat Paris ("There's No Moon in Paris") oder über den Terror und das Böse auf der Welt ("They Come At Night" handelt vom Terroranschlag auf das "Bataclan" 2015). Und - natürlich - über die Liebe ("It's All Over Now Baby Blue"). Und sie lässt uns an dem teilhaben, was sicher für viele ältere Menschen ein riesiges Problem ist: an ihrer Einsamkeit. Marianne Faithfull ist garantiert kein Mensch, der allein ist - und dennoch ist da wohl dieses Ziehen im Herz, diese Sehnsucht, die auch nicht verschwindet, bloß weil man ein paar Jahre mehr auf dem Buckel hat. "You might be the loneliest person in the world, you'll never be as lonely as me". So klingt das in "Loneliest Person."
Keine Vergleiche bitte
Verglichen wird ihr "Alterswerk" mit dem eines Johnny Cash oder eines Leonard Cohen. Das ist schön, sehr nett gemeint, aber das reicht nicht. Hier singt eine Frau. Eine Künstlerin, ja, ein Mensch, aber vor allem eine Frau, die gar nicht zu vergleichen ist. Und das darf man an dieser Stelle durchaus mal überbetonen: So ehrlich und so unerschrocken, so sensibel und dennoch direkt, so mystisch und so realistisch gleichzeitig sind wohl die wenigsten.
Über "The Gypsy Faerie Queen" sagt Faithfull: "Ich fragte Nick, ob er für mich Musik machen würde und er schrieb zurück: 'Ich bin so beschäftigt'. Ich sagte: 'Verstehe, Entschuldigung, dass ich dich belästige'. Und dann schrieb er einfach zurück: 'Vielen Dank für dein Verständnis, hier ist das Lied'. In Paris plaudert sie weiter, genüsslich an ihrer E-Zigarette ziehend, mit ihrer unvergleichlichen Stimme über dies und das. Sie findet auch, dass ihr Album so etwas wie ihre dritte Autobiografie ist - was erklärt, warum dem Zuhörer diese Musik so ans Herz geht. "Es geht wirklich um mich", sagt sie lachend. Zwei Jahre hat sie an dem Album gesessen, "eine sehr glückliche Zeit meines Lebens. Ich kam mir vor eine Poetin, wie eine Dichterin."
Gute Freunde
Und zum Glück hat sie diese bereits erwähnten, guten Freunde. "Ich brauche immer jemanden zum Reden. Und ich kann mich wirklich glücklich schätzen, so tolle Frauen wie Charlotte Rampling oder Yoko Ono als enge Vertraute zu betrachten." Immer wieder betont sie, wie wichtig ihre Lieben ihr sind, ihr waren, und wie traurig es ist, sich von ihnen zu verabschieden, weil sie "weiterziehen", wie sie den Tod enger Freunde beschreibt. "Aber: welch ein Glück, diese Menschen gekannt zu haben. Was bleibt, ist die Liebe. Das ist das Wichtigste."
Und deswegen bleibt von "Negative Capability" vor allem, auch wenn das Album an einigen Stellen düster ist und traurig, am Ende vor allem ein grundgutes Gefühl.
Quelle: ntv.de