"Leck' mich, erst drei Uhr?" Yello - zeitlos, ruhelos, immer was los
16.12.2017, 17:38 Uhr
Die Energie kommt aus der Natur. Und aus Hotelhallen.
(Foto: imago/HMB-Media)
Wir treffen uns in der Bar Lebensstern des legendären Café Einstein Stammhauses in der Potsdamer Straße. Warum wir zuerst darüber reden, ob Hagebuttentee irgendetwas Rotes Kreuz-mäßiges hat, weiß der Kuckuck. Ich finde ja, die Herren eher nicht. Zum letzten Mal sprachen wir vor sieben Jahren miteinander und es ist, als wäre es gestern gewesen. Boris Blank und Dieter Meier möchten dringend gesiezt werden - und fangen schallend an zu lachen. So entspannte, großartige, mit sich und gegenseitig im Einklang befindliche Musiker trifft man selten, wie diese beiden Schweizer mit der wunderbaren Sprachemelodie und der großartigen DVD/CD/Blu-ray "Yello - Live in Berlin" aus dem Kraftwerk.
n-tv.de: Jetzt kommt die DVD heraus, die explizit manifestiert: "Soooo lange sind Dieter Meier und Boris Blank nicht aufgetreten, meine Güte, ist das lange her." Ist das nicht schockierend, wie schnell die Zeit vergeht?
Dieter Meier: Es ist doch so, dass man sich proportional zum Älterwerden auch immer mehr Gedanken über das Alter macht. Als Fünfjähriger hat es unendlich lange gedauert, bis endlich wieder Weihnachten ist. Und jetzt ist quasi alle zwei Wochen Weihnachten. Meine 93-jährige Mutter zum Beispiel, die nimmt den Christbaumschmuck gar nicht mehr ab, sie findet, es lohnt sich nicht. (lacht) Sie sagt, es ist doch eh gleich wieder Weihnachten, was soll ich das Zeug denn hin und her schleppen?
Aber sie lässt nicht den ganzen Baum einfach stehen?
D.M.: Nein, der nadelt dann doch zu stark.
Boris Blank: (lacht) Wir als Unsterbliche finden auch, dass es ein Klacks ist, wie die Zeit vergeht…
DM: Die Zeit verschwindet ja aber nicht linear … gewisse Dinge, von denen man denkt, sie seien länger her, die sind da plötzlich ganz nah. Und umgekehrt. Das ist sehr subjektiv.
BB: Es kommt auch drauf an, ob du Zeit hast oder keine, wie du dich beschäftigst. Mit einer gewissen Routine geht alles schneller. Schneller, als wenn du Zeit hast, dann kann es sogar langweilig werden: "Leck' mich, was, erst drei Uhr, und ich bin noch immer am Wandern?" Oder?
Die Gefahr der Langeweile besteht bei euch ja wohl nicht, oder?
BB: Stimmt (lacht).
Und Stillstand gibt es auch nicht. Du, Dieter, bist aber mehr unterwegs, als du, Boris?
BB: Ich bin eher ortsgebunden, das stimmt. Ich brauche für meine Kreativität meine Umgebung, die mir bekannt ist und in der ich mich wohlfühle. Wenn ich in New York oder Paris oder wie neulich in Genf arbeite, dann kann ich mich nicht so richtig entspannen, um wirklich kreativ zu sein.
DM: Ich komme gerne an. Und reise aber auch gerne wieder ab. Ich bin ein Transit-Mensch. Nicht nur geographisch betrachtet, ich springe auch thematisch gerne. Da musste ich mich aber erstmal dran gewöhnen, dass das meine Natur ist. Ich habe eine relativ kurze Attention-Span. Ich schreibe ja auch, und meine Geschichten sind einfach immer nur vier oder fünf Seiten lang. Ich bin kein Langstreckenläufer (zögert), obwohl ich aus purem Größenwahn und Geltungssucht an einem richtigen Roman herumschreibe. Als Kind habe ich mich immer in den Fußstapfen von Frisch und Dürrenmatt gesehen, da ging man in die Welturaufführen dieser Herren, und das hat mich unheimlich beeindruckt, diese Literaten zu sehen. Ich habe diese artistische Szene geliebt, wenn die dann mit den Schauspielerinnen und Schauspielern in einer Bar saßen und diskutiert haben.
Dazu muss man sich aber auch mal gehen lassen, oder? Wie soll das denn gehen, wenn man Restaurants hat, Musik macht, Konzerte gibt, eine DVD produziert, Rinder züchtet, mindestens drei Wohnorte hat … Und jetzt auch noch Chocolatier ist! Wann schreibst du da denn bitte?
DM: Das geht als Kurzstreckenläufer ganz gut. Ich schreibe immer im Flugzeug. Nun blättere ich dort nicht mehr in unnötiger Hast irgendwelche Zeitungen durch, sondern ich zwinge mich, eine Geschichte zu schreiben. Obwohl ich eigentlich nichts zu sagen habe. Ich habe kein Mitteilungsbedürfnis. Meine Geschichten sind alle extrem inhaltslos (lacht).
Hast du schon mal reingeguckt, Boris?
BB: (lacht) Ich kann dir sagen, es geht vor allem um die Sprache. Der Dieter kann einfach gut beobachten.
DM: Ja, zum Beispiel der Mann mit dem grünen Hütchen und dem ganz speziellen Lächeln, das zu dem Hütchen passt. Weil er weiß, dass sein Hütchen ein bisschen lächerlich ist. Der Schriftsteller, also meine Person, vermutet, dass der Hütchen-Mann das alles weiß und nur die Grenzen seiner Frivolität ausloten will (lacht). Es geht darum, dass dieses Grün ein zu lautes Grün ist, und es folgt ein Lachanfall des Hütchen-Mannes. Aber er war heute Morgen in einer Stimmung nicht erklärbarer Fröhlichkeit, die es ihm erlaubte, diesen Hut aufzusetzen. Ja, das könnte ich nun ewig so weiter beschreiben…
BB: (lacht) Das kann er wirklich!
DM: Ich überlege mir auch immer sehr genau, was ich anziehe. Das mache ich für mich, nicht für die anderen. Ich will gar nicht irgendwie "scheinen", sondern ich will mich in meiner Haut wohl fühlen. Ich überlege bereits beim Rasieren, was ich anziehen werde. Ich überlege das übrigens auch, wenn ich in Patagonien bin und drei Tage nur Gauchos sehe. Ich brauche eine Balance! Das kann eine Stunde dauern. Und wenn ich das Haus verlasse, dann überlege ich es mir vielleicht doch wieder anders und das ganze Theater geht von vorne los. Und gehe dann in der banalsten Hose und dem banalsten Hemd aus dem Haus. Weil ich bereits beim Anziehen wusste, wenn wir mal ehrlich sind, dass das totaler Blödsinn ist, was ich da zusammenstelle.
Fragst du um Rat?
DM: Nein. Ich habe mal einen Aufsatz geschrieben mit dem Titel "Kleider sind getragene Gedichte". Und auch wenn sich jemand gar nicht um Kleidung kümmert, dann ist das ja auch ein sehr bewusstes Statement.
Reist du mit viel Gepäck?
DM: Nein, ich habe eine gewisse Routine beim Packen entwickelt. In den Boardkoffer passen die Garderobe für eine Hochzeitsfeier, eine Bergwanderung und einen Abstecher ans Meer. Das Geheimnis sind ein paar schlaue Hemden und ein Jackett, das für alles geht.
Habt ihr eigentlich Fans, die euch nachreisen? Nachlaufen?
BB: Du musst mal auf unsere Facebook-Seite gehen, da wirst du sehen, dass wir ganz viele männliche Fans haben.
DM: Das war noch nie so: Weißt du, das ist etwas, das muss man auch zulassen. Wenn man es nicht zulässt, dann passiert es auch nicht. Natürlich gibt es durchaus Situationen, dass man in eine Konversation gerät, aber die Situation eines Aufrisses ist doch eher nicht gegeben.
BB: Naja, in den ganz, ganz jungen Jahren, am Anfang von Yello, da gab es schon Bekanntschaften, aber das ist lange her. Ich rede nur von mir, natürlich. Außerdem halte ich mich für recht sensibel - ich lebe mit zwei Frauen im Haushalt - ich weiß mich schon zu benehmen (lächelt).
Ihr kennt euch ewig - habt ihr immer noch dieselbe Arbeitsweise?
BB: Unser Humor ist das, was uns eigentlich immer wieder zusammenführt. Und dann natürlich, dass wir beide uns so lassen, wie wir sind: Ich kann wie ein Mönch in Klausur leben, und der Dieter kommt dann, und zwar gerne, aber geht eben auch wieder gerne, das gibt ihm die Freiheit, fast wie ein Kind zu agieren in seinem Musikmachen. Und ich habe die Freiheit in meinem Reich, da herrsche ich wie ein Egomane (lacht).
DM: Bei mir muss alles schnell gehen. Wenn ich diese wunderbaren Klangbilder von Boris höre, dann habe ich schon nach fünf oder zehn Minuten eine szenische Idee dazu. Das ist ja sehr filmische Musik, die Boris macht, deshalb wäre er auch in Hollywood ein Superstar geworden. Wenn er hätte dahin reisen wollen. Die größten Hollywood-Regisseure hätten sich um ihn gerissen - einige haben es getan - weil der Boris immer genau den richtigen Ton trifft. Es ist gar nicht leicht, der Perfektion von Boris zu genügen, aber im Laufe der Jahre sind wir sehr eingespielt.
Hast du eher Wörter oder Bilder im Kopf?
DM: Eher Bilder. Bilder, die es noch nicht gibt. Es ist, als würde man mir den Film durch den Kopf ziehen, aber es ist nur der Sound. Ich sehe eine Stimmung, und dann werfen diese Stimmungen Wörter aus. Es ist ein unvorstellbares Vergnügen, deswegen sind wir so symbiotisch. Tatsächlich habe ich eine Attention-Span von zwei drei Stunden, dann muss ich raus. Dass wir mal einen ganzen Tag zusammen im Studio sind, das hat es noch nie gegeben.
Ich habe das Gefühl, dass ihr alles richtig gemacht habt.
DM: Ja, findest du? Man sucht etwas, in sich, für sich, und wenn es nach außen erfolgreich ist, dann ist es ein willkommener Nebeneffekt. Boris ist nie so vorgegangen, dass er etwas richtig machen will für andere. Offensichtlich hat es aber geklappt, dass das, was er für sich machen wollte, auch anderen gefallen hat. Das mögen auch Kinder übrigens …
Ihr habt euch eine gewisse Kindlichkeit erhalten, oder?
DM: Ja, das stimmt. Das ist wichtig. Da gibt es einen Satz, der wird auch in meiner neuen Bar in der Berliner Torstraße stehen. Es wird einen kleinen runden Tisch mit Kinderstühlen geben, und da soll stehen: "Werdet wie die Kinder!". Nicht: "Bleibt wie die Kinder", das wäre ja kindisch. Sondern eine Aufforderung. Das Göttliche in sich, das das Kind noch unverdorben mit sich trägt, dass man das wieder ausgräbt. Das ist ja quasi eine Aufforderung zur Anarchie. Denn wenn jemand damit beschäftigt ist, er selbst zu sein, dann ist er ja als Arbeitssklave eines Systems nicht mehr zu gebrauchen. Deswegen haben viele ja auch so unheimliche Angst davor, Arbeit anders zu definieren. Dabei produzieren wir viel zu viel, wir können es eh nicht alles konsumieren.
Zurück zu eurem Konzertmitschnitt im Berliner Kraftwerk - wie seid ihr auf diesen Ort gekommen?
BB: Das hat der Dieter entdeckt, diese Industrie-Kathedrale. Obwohl es nicht leicht war, die Akustik da drin gut hinzubekommen, dass der Sound stimmt. Aber das ist so ein überwältigender Raum …
DM: Das war quasi der Vatikan von Yello (lacht). Aus der ganzen Welt sind Leute gekommen, um das zu sehen. Das hat uns eine Menge gekostet, das alles hinzubekommen, aber es hat geklappt, und es hat sich gelohnt.
Das kommt auf dem Live-Mitschnitt auch sehr gut rüber…
BB: Ja, da freu' ich mich drüber, das ist alles sehr dynamisch.
DM: Ich schaue mir Dinge, die ich gemacht habe, ja eher selten an, es ist mir ein bisschen peinlich.
BB: Ja, ist klar, das geht mir genauso.
Ich muss nochmal auf die Bar zurückkommen: Wie soll sie heißen?
DM: Tor-Bar. Wegen der Straße.
Was habt ihr für Pläne, für Träume? Wunschpartner, wie Shirley Bassey zum Beispiel, mit der ihr "Rhythm Divine" aufgenommen habt?
DM: Ach, die Shirley, die ist eine echte Diva. Tolle Frau, aber kompliziert. Ich möchte jetzt eigentlich erst einmal nur gucken, was der Boris wieder für neue Musik ausgeheckt hat.
Wie wäre es mit "Yello - Der Film"? Bei euch hat man Bilder im Kopf...
DM: Das gab's schon mal, oder?
BB: Ein Dokumentarfilm?
DM: Das wäre auf jeden Fall extrem lustig. Wir haben so viel Material.
BB: Ja, ich habe viel angesammelt. Ich glaube, wir haben sogar Shirley Bassey am Wannsee, und mit Duran Duran waren wir in Schottland (lacht) auf einem Festival. Montreux ist auch ein Super-Dokument, das würde dir gefallen, Dieter.
Letzte Frage: Woher nehmt ihr diese ungeheure Energie?
BB: Kann ich dir ganz klar sagen: Aus der Natur. Ich muss in den Wald, oder an einen See, zum Beispiel den Greifensee. Zehn Minuten von mir entfernt, komm', ich zeig dir ein Foto, das ist wunderschön. Das könnte doch auch ein Maler geschaffen haben, wie aus dem Barock.
DM: Und ich aus der Beobachtung der Menschen, in Zügen zum Beispiel. Ich bin ein Voyeur. Ich frage mich immer, was macht der wohl, wo will die hin? Ich könnte auch stundenlang in Hotelhallen sitzen. Das Theater des Alltags, das ist die Inspiration für mich.
Mit Dieter Meier und Boris Blank sprach Sabine Oelmann
PS: Die Tor-Bar eröffnet im Februar 2018. Die Schokolade schmeckt übrigens ausgezeichnet.
Quelle: ntv.de