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Ferdinand von Schirach in Serie Wenn "Glauben" zu Empörung wird

Was ist dran an den Vorwürfen des Kindesmissbrauchs in Ottern?

Was ist dran an den Vorwürfen des Kindesmissbrauchs in Ottern?

(Foto: RTL / Stephan Rabold)

Ferdinand von Schirach hat eine Mission: den Deutschen ihr eigenes Justizsystem begreifbar zu machen. Das ist auch der Subtext der neuen Serie "Glauben", die nun auf RTL+ Premiere feiert. Doch vor allem handelt es sich um einen hervorragenden Thriller, der aktueller kaum sein könnte.

Wir schreiben die Mitte der 1990er-Jahre. Im rheinland-pfälzischen Städtchen Worms scheinen sich gerade wahrlich abscheuliche Dinge zugetragen zu haben. Rund zwei Dutzend Erwachsene sollen sich zu einem Pornoring zusammengeschlossen und systematisch Kinder missbraucht haben. Die öffentliche Empörung ist natürlich dementsprechend groß, als sie vor Gericht gestellt werden.

Szene aus einem der echten Wormser Prozesse 1994.

Szene aus einem der echten Wormser Prozesse 1994.

(Foto: picture-alliance/ dpa)

Doch auch die Konsequenzen für die Beschuldigten sind immens. Die Kinder werden ihnen entzogen, ihr soziales Umfeld wendet sich ab, sie verbringen bis zu 21 Monate in Untersuchungshaft, sie sind finanziell ruiniert, eine 70-jährige Angeklagte stirbt in ihrer Zelle.

Vom Prozess zum wirklichen Grauen

All das ist unumkehrbar, als die Vorwürfe in den Prozessen wie ein Kartenhaus zusammenbrechen. Den Missbrauch, so stellt sich heraus, hat es nie gegeben. Dafür gab es jede Menge Pleiten, Pech und Pannen bei den Ermittlungen: suggestive Befragungen der Kinder, schlampige Gutachten, verschwundene Beweismittel, Aussagen, die sich erst vor Gericht als nachweislich unsinnig herausstellen - etwa zu einem Kind, das zum Zeitpunkt des angeblichen Missbrauchs noch gar nicht geboren war. Und als wäre all das noch nicht schlimm genug, ereignet sich am Rande der Prozesse dann auch noch das wirkliche Grauen: In einem Heim, in das einige der Wormser Kinder verbracht wurden, kommt es tatsächlich zum Missbrauch.

Das ist damals exakt so passiert und bildet die Folie, auf der die Serie "Ferdinand von Schirach - Glauben" ausgerollt wird, die ab sofort auf dem Streamingdienst RTL+ (bisher TVNOW) zu sehen ist. Deutschlands vielleicht berühmtester Strafverteidiger hat schon ein ums andere Mal versucht, den Deutschen ihr eigenes Justizsystem ein kleines Stückchen begreifbarer zu machen. Etwa in seinen Theaterstücken "Terror" und "Gott", die auch für das Fernsehen adaptiert wurden - Abstimmungen der TV-Zuschauer darüber, wie sie im jeweiligen Gerichtsfall entschieden hätten, inklusive.

Premiere für von Schirach

"Glauben" stellt für den Juristen, Roman-, Theater- und Drehbuch-Autor Ferdinand von Schirach dennoch eine Premiere dar: Erstmals zeichnet der 57-Jährige, der einst als Strafverteidiger in den Prozessen um die DDR-Mauerschützen wirkte, allein für ein Film-und-Fernseh-Script verantwortlich. Nur einen historischen Abklatsch der realen Geschehnisse in Worms wollte er dabei jedoch nicht auf die Bildschirme bringen. Stattdessen bettete er die Handlung in den Rahmen eines Thrillers ein, der aktueller kaum sein könnte.

Das Drehbuch zu "Glauben" schrieb er allein: Ferdinand von Schirach.

Das Drehbuch zu "Glauben" schrieb er allein: Ferdinand von Schirach.

(Foto: RTL / Stephan Rabold)

Das fängt bereits beim Zeithorizont an. "Glauben" spielt nicht etwa in den 90ern, sondern im Hier und Jetzt. Ort der Ereignisse ist auch nicht Worms, sondern die fiktive Kleinstadt Ottern. Anwalt Richard Schlesinger (Peter Kurth) erhält dabei Unterstützung von seiner nicht nur der Halbwelt, sondern auch ganz und gar der Fantasie von Schirachs entsprungenen Auftraggeberin Azra (Narges Rashidi). Kurzum: "Glauben" schöpft zwar aus dem einstigen Justizskandal von Worms als Inspirationsquelle, bietet jedoch eine davon ebenso losgelöste Erzählung an.

Empörungswellen in Windeseile

Vor dem Hintergrund dessen, was Ferdinand von Schirach in der Serie aufzuschlüsseln versucht, ergibt dies auch durchaus Sinn. Schließlich geht es in "Glauben" nicht zuletzt auch darum, die Mechanismen von Vorverurteilungen und öffentlichem Aufschrei bis hin zur modernen "Hexenjagd" zu demaskieren. Keine Frage: Wohl kaum ein anderes Thema böte sich mehr dafür an als der zu den schändlichsten Verbrechen gehörende Kindesmissbrauch. Hier schwappen die Emotionen schnell hoch, während Fakten ebenso rasch ins Hintertreffen geraten.

Sie wuppen die Handlung: Peter Kurth als Anwalt Schlesinger und Narges Rashidi als Azra.

Sie wuppen die Handlung: Peter Kurth als Anwalt Schlesinger und Narges Rashidi als Azra.

(Foto: RTL / Stephan Rabold)

Doch erst in Zeiten, in denen Echtzeit-Kommunikation, soziale Netzwerke und sich über alle regionalen Grenzen hinweg verbreitende Shitstorms zum Alltag gehören, türmen sich Empörungswellen in Windeseile und nahezu unaufhaltsam auf. Klar, voreilige Schlüsse wurden auch schon gezogen, als noch das gedruckte Wort das Meinungsbild prägte - wie damals in Worms. Doch seit der Revolution des Internets ist die Dimension eine gänzlich andere.

Brillante Hauptdarsteller

Von Schirach wäre nicht von Schirach würde er nicht zugleich sein Augenmerk auf die Funktion des Rechtsstaats in stürmischen Zeiten wie diesen richten. Manche Szene in "Glauben" gleitet dann auch in die Atmosphäre eines juristischen Proseminars ab, beispielsweise als Schlesinger der Kinderpsychologin Ina Reuth (Katharina Marie Schubert) am Kneipentisch die Aufgabe eines Strafverteidigers auseinanderklabüstert.

Großartige Szene: Anwalt Schlesinger mit Verkäuferin (Jasna Fritzi Bauer) im Zoogeschäft.

Großartige Szene: Anwalt Schlesinger mit Verkäuferin (Jasna Fritzi Bauer) im Zoogeschäft.

(Foto: RTL / Stephan Rabold)

Doch "Glauben" tappt nicht in die Falle, zu einem reinen Justizdrama auszuarten. In der insgesamt siebenteiligen Serie geht es mitunter ebenso zur Sache wie in einem Action-Streifen. Und auch der Humor kommt nicht zu kurz, dann etwa als Schlesinger beschließt, einen Fisch in sein einsames Leben zu lassen. Der Dialog mit der Verkäuferin des Zoogeschäfts (Jasna Fritzi Bauer) mutet schon beinahe wie eine Reminiszenz an Monthy Pythons legendären "Dieser Papagei ist tot"-Sketch an.

Vor allem sind es die brillanten Hauptdarsteller Peter Kurth und Narges Rashidi, die die Handlung von Anfang bis Ende tragen. Er als mürrischer Anwalt, der im Leben abgehalftert und in der Zeit stehengeblieben scheint, aber halt nicht im Kopf. Sie als zwielichtige Femme Fatale, die zwar clever und weltgewandt, aber ebenso unberechenbar ist. Unterstützung erhalten die beiden dabei unter anderem auch von Grimme-Preisträgerin Désirée Nosbusch, die in die Rolle der ermittelnden Hauptkommissarin schlüpft.

"Wahrheit ist nicht Mehrheit"

Auch Désirée Nosbusch wirkt mit.

Auch Désirée Nosbusch wirkt mit.

(Foto: RTL / Stephan Rabold)

"Wir können doch niemanden verurteilen, nur weil wir empört sind" und "Wahrheit ist nicht Mehrheit" - das sind nur zwei der zentralen Sätze, die Schlesinger im Kampf für seinen des Kindesmissbrauchs beschuldigten Mandanten über die Lippen kommen. Doch warum zeigt der Angeklagte eigentlich nur ein bedingtes Interesse an seiner Verteidigung? Warum hat Asra Schlesinger überhaupt dazu gedrängt, den Fall im tristen Ottern zu übernehmen? Was ist ihr tieftes Geheimnis inmitten all ihrer Geheimnisse? Antworten darauf gibt es erst in der Serie.

Eine erste Anerkennung ist der außergewöhnlichen Produktion bereits beim Serien-Festival in Cannes zuteil geworden. Hier wurde "Glauben" gleich in zwei Kategorien ausgezeichnet - mit der Trophäe für das "Beste Drehbuch" und mit dem "Dior Grand Prize" für die Gesamtleistung. Mit anderen Worten: Mit "Glauben" hat Ferdinand von Schirach die Mission wieder einmal erfültt - auch, aber nicht nur als Deutschlands oberster Rechtsstaats-Missionar.

"Glauben" ist ab sofort auf RTL+ abrufbar. Ab 1. Dezember wird die Serie zudem bei Vox ausgestrahlt.

Quelle: ntv.de

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