Keine "Rockstars" beim ESC Wir sind (fast) alle Ukraine
15.05.2022, 05:03 Uhr
Am Ende regnete es für sie Konfetti: Kalush Orchestra aus der Ukraine.
(Foto: picture alliance/dpa)
Am Ende ist es, wie seit Wochen vorhergesagt: Sieger des diesjährigen Eurovision Song Contests ist die Ukraine. Doch es ist nur ein halbgares Zeichen der Solidarität, das in Turin gesetzt wird. Für Deutschland gerät die Show dagegen mal wieder zum Desaster. Warum nur?
Seine eigentliche Bestimmung trägt der Eurovision Song Contest (ESC) natürlich bereits in seinem Namen. Es ist ein Musikwettbewerb, bei dem es darum gehen soll, den besten Song des Abends zu küren. Und wenn schon nicht den, dann wenigstens den, bei dem die meisten Menschen in Europa (und Australien) ins Mitwippen, Mitschmachten oder Mitgrölen geraten. Eine politische Veranstaltung soll der ESC dagegen per se nicht sein. Darauf hinzuweisen, wird die austragende European Broadcasting Union (EBU) auch nie müde. Laut Regelwerk sind auf der ESC-Bühne sogar "Texte, Ansprachen und Gesten politischer Natur" streng untersagt.
Ein großes europäisches Fest, ohne politische Implikationen zu feiern, ist sicher ein hehres Ziel. Aber die Katze, einen an Staaten gekoppelten Wettbewerb ohne jeglichen nationalen Wettstreit zu veranstalten, beißt sich seit jeher in den Schwanz. Das belegt allein das ewige Punktegeschacher zwischen bestimmten Ländern, das auch 2022 nicht ausgemerzt ist, wenn etwa Griechenland von der Jury aus Zypern oder Serbien, von den Juroren aus Kroatien mal wieder die vorhersehbaren 12 Punkte bekommt.
Aber auch in anderer, durchaus positiver Hinsicht hat der ESC schon gezeigt, dass er halt doch mehr als "nur" ein "Song Contest" sein kann. Zum Beispiel, als ihn 2014 eine gewisse Conchita Wurst mit Bart im Abendkleid gewann. Der Auftritt der Österreicherin damals war stark, ihr Song "Rise Like A Phoenix" ein Brett. Und doch war ihr Sieg auch und vor allem ein demonstratives Zeichen für Diversität über die europäischen Ländergrenzen hinweg.
"Give Peace a Chance" und zarte Statements
Ebenso galt nun schon seit Wochen als ausgemacht, dass vom diesjährigen ESC in Turin ein klares Bekenntnis der Solidarität ausgehen würde - durch einen Sieg der Formation Kalush Orchestra mit ihrem Song "Stefania" aus der Ukraine. Etwas, das in den ESC-Regularien so nicht vorgesehen und an sich eben auch nicht erwünscht ist. Doch welche Regularien haben in einer Zeit, in der ein brutaler Angriffskrieg alle bislang geltenden Regeln bricht, denn schon noch Bedeutung und Bestand? Nie zuvor war es so nachvollziehbar und legitim, den "Song Contest" mit Symbolcharakter aufzuladen.
Ein Stück weit haben das auch die Veranstalter begriffen. Nicht nur wegen des unausweichlichen Ausschlusses Russlands vom diesjährigen ESC. Zu Beginn des Finales hallte John Lennons "Give Peace a Chance" durch die Halle. Und auch den Interpretinnen und Interpreten wurde so manches zarte Statement bei ihren Auftritten verziehen: Die isländische Formation Systur etwa hatte ihre Handrücken blau-gelb angemalt, die Litauerin Monika Liu schwenkte im Green Room ein Ukraine-Fähnchen und Deutschlands ESC-Hoffnung Malik Harris hatte die Rückseite seiner Gitarre beklebt - mit dem Schriftzug "Peace".
Unterdessen kann man sich geradezu bildlich vorstellen, wie sich die Mitglieder einiger nationaler Jurys die Haare rauften: Lassen wir uns allein von unserem vermeintlichen musikalischen Sachverstand oder dann doch dem Solidaritätsgedanken leiten? In der Summe fiel die Entscheidung leider für die erste Option aus. Mit 192 Punkten kam die Ukraine bei den Jurys lediglich auf den vierten Platz, während Sam Ryder und "Space Man" aus Großbritannien (283 Punkte), Cornelia Jakobs und "Hold Me Closer" aus Schweden (258 Punkte) sowie Chanel und "SloMo" aus Spanien (231 Punkte) die Top 3 dominierten. Auch die deutsche Jury konnte sich nur dazu durchringen, 10 Punkte in die Ukraine zu senden. Ihre "12 points" vergab sie dagegen ebenfalls an den Briten.
Am Souverän vorbei
Damit wurde nicht nur die Chance vertan, ein wirklich starkes Zeichen für die Unterstützung der Ukraine in Turin zu setzen. Die Jurys bewiesen auch einmal mehr, wie sehr sie am eigentlichen Souverän vorbei entscheiden. Klar, auch die J.Lo-Kopie aus Spanien wurde von den Zuschauerinnen und Zuschauern mit satten 228 Punkten bedacht und schaffte es so in der Gesamtschau mit 459 Zählern auf den dritten Platz. Doch wäre es nur nach dem TV-Publikum gegangen, dann wären auch die Stimmungsmacher Zdob si Zdub & Advahov Brothers mit "Trenulețul" aus Moldau (14 Jury-Punkte, 239 Publikums-Punkte, insgesamt 253 Punkte) und der experimentelle Beitrag "In corpore sano" von Konstrakta aus Serbien (87 Jury-Punkte, 225 Publikums-Punkte, insgesamt 312 Punkte) noch weiter vorne gelandet als schlussendlich auf dem siebten beziehungsweise fünften Platz. Der Jury-Top-Favorit Sam Ryder holte mit summa summarum 466 Punkten im Endergebnis den zweiten Platz - die Zuschauerinnen und Zuschauer sahen ihn mit ihren 183 Punkten dagegen lediglich auf Rang fünf.
Entscheidend vor allem jedoch ist, dass das Publikum mit seinen 439 Punkten die Ukraine mit insgesamt schließlich 631 Zählern haushoch an Position eins katapultierte. Angesichts der Gesamtzahl von 40 Ländern, in denen in diesem Jahr abgestimmt wurde, bedeutet dies, dass Kalush Orchestra im Schnitt rund 11 Punkte von jeder Nation erhielten. Mit anderen Worten: nahezu die Höchstpunktzahl. So haben die Menschen vor den Fernsehgeräten in Europa mit vielleicht weniger angeblicher Expertise, dafür aber mit Empathie, Sinn und Verstand nicht nur die Ehre des ESC in diesem Jahr gerettet. Sie haben auch deutlich gemacht: Vielleicht wäre es allmählich doch endlich mal an der Zeit, die Beteiligung von Jurys an der Abstimmung in die Tonne zu treten.
Die rote Laterne für Deutschland
Die bittere Erkenntnis freilich ist: Für Deutschland hätte das wieder mal keinen Unterschied gemacht. Malik Harris und sein Song "Rockstars" ist tatsächlich der einzige Beitrag in diesem Jahr, der im Finale keinen einzigen Jury-Punkt ergattern konnte. Da er noch dazu auch vom Publikum mit lediglich 6 Punkten abgespeist wurde, kehrt Harris mit der roten Laterne nach Hause zurück. Deutschland ist zum gefühlt x-ten Mal in den vergangenen Jahren Letzter geworden.
Demonstrierte Solidarität - und wurde Letzter: Malik Harris.
(Foto: picture alliance / TT NYHETSBYR?N)
Lange nicht mehr erschien dies jedoch so ungerecht. Am sympathischen Interpreten, seiner soliden Darbietung und dem durchaus aufwendigen Bühnenbild im Wohnzimmer-Design kann es eigentlich nicht gelegen haben. Und der Song "Rockstars" ist zumindest allemal radiokompatibel. Doch womöglich liegt genau hier die Krux. Schließlich zielte bereits der deutsche Vorentscheid darauf ab, vor allem einen Ohrenschmeichler zu finden, der niemandem wehtut.
Wirkliche Begeisterung für den deutschen ESC-Beitrag wurde damit jedoch nicht geweckt - weder im In- noch im Ausland, wie sich zeigt. Keine Frage: Eine Metalcore-Band wie Eskimo Callboy (inzwischen Electric Callboy), die gar nicht erst zum Vorentscheid zugelassen wurde, hätte für deutlich mehr Wirbel in Turin gesorgt. Ob sich das auch in einer besseren Platzierung ausgedrückt hätte, steht in den Sternen. Doch es ist definitiv allerhöchste Zeit, das bei der nächsten Gelegenheit auszuprobieren.
Quelle: ntv.de