
Chinas Krankenhäusern fehlt es in der Corona-Welle an Klinikbetten und Personal.
(Foto: picture alliance / ROPI)
Drei Jahre lang hat sich China mit seiner Null-Covid-Politik gebrüstet und sich dann doch vom Coronavirus überrumpeln lassen. Seit Dezember schießen die chinesischen Infektions- und Totenzahlen in die Höhe. Gleichzeitig bricht im bevölkerungsreichsten Land der Welt ein Reiseboom aus.
Fünf Tage lang lag die Leiche einer alten Frau in ihrem Haus in der chinesischen Millionenstadt Shanghai, bevor ein Leichenwagen sie endlich abholen konnte. Am Coronavirus war die 80-Jährige Ende Dezember nicht gestorben. Wegen der explodierenden Corona-Zahlen kommen die Krematorien mit dem Einäschern aber nicht hinterher.
In China sind nicht nur die Beerdigungsinstitute überlastet. Auch Krankenhausbetten und Medikamente sind Mangelware. Die Menschen würden am liebsten alles mitnehmen, was in den Lagern ist, berichtet eine Apothekerin bei ntv. Deshalb verkaufe sie nur noch eine begrenzte Stückzahl an Paracetamol und Co.
In vielen Städten Chinas quellen die Kliniken über. Notfallpatienten stehen Schlange, müssen teils außerhalb der Krankenhäuser behandelt werden. In einem Krankenhaus in Chengdu müssen die meisten, die mit dem Krankenwagen ankommen, mit Sauerstoff versorgt werden.
Gänge voller Patientenbetten
Die Flure der Kliniken stehen voller Betten. Patienten hängen an Infusionsschläuchen, haben Sauerstoffmasken auf. Auch Verstorbene liegen auf den Gängen.
Eins der wichtigsten Krankenhäuser Shanghais behandelt in der Notaufnahme aktuell doppelt so viele Patienten wie vor dem Ende der Null-Covid-Politik. Rund 1600 Menschen sind es jeden Tag, berichtet der stellvertretende Klinikchef Chen Erzhen in der "Chinesischen Volkszeitung". Vier von fünf der Notfallpatienten hätten Covid-19.
Das Gesundheitspersonal der Kliniken ist überfordert. Ein Pekinger Krankenhaus schult bereits freiwillige Helfer, berichtet Zhang-Haodi, die Leiterin des Rettungszentrums, bei ntv. Diese würden dann Notrufe entgegennehmen.
Eine Million Neuinfektionen täglich
China hatte sich mit seiner Null-Covid-Politik drei Jahre lang massiv abgeschottet und die eigene Bevölkerung praktisch eingesperrt. Einige Menschen in entlegenen Gebieten waren noch nie mit dem Coronavirus in Kontakt. Jetzt erwischt es auch sie. Längst hat die Corona-Welle nach den Großstädten auch das Land erreicht.
Offizielle Zahlen gibt die Regierung schon länger nicht mehr heraus. Gesundheitsbehörden melden nur wenige Tausend Infektionen täglich.
Nach internen Schätzungen haben sich aber in den ersten drei Dezemberwochen 18 Prozent der Bevölkerung mit dem Coronavirus infiziert - also knapp 250 Millionen Menschen. Pro Tag stecken sich laut dem britischen Forschungsinstitut Airfinity mindestens eine Million Menschen an.
Kliniken sind erste Anlaufstelle für Kranke
Allein in der Millionenmetropole Shanghai sollen über zwei Drittel der Einwohner infiziert sein. Die Airfinity-Experten schätzen, dass pro Tag 9000 Menschen in China daran sterben. Offiziell ist die Zahl der Toten aber trotzdem extrem niedrig, weil nur Menschen zu den Corona-Toten gezählt werden dürfen, die an Lungenentzündung oder Atemversagen gestorben sind. "70 Prozent der Bevölkerung" könnten betroffen sein, wird Chen Erzhen in der "Chinesischen Volkszeitung" zitiert.
"Die Situation in China ist wirklich schlimm. Alle sind krank. Ein Desaster in fast jeder Stadt. Die Leute husten, Kinder, Erwachsene. Alles andere als angenehm", so dramatisch schildert ein Flugreisender Ende Dezember die Zustände in der Volksrepublik.
Dass die Kliniken so überlastet sind, liegt auch daran, dass das Gesundheitssystem in China anders funktioniert als in Deutschland. Arztpraxen gibt es kaum. Die erste Anlaufstelle für Kranke ist oft das Krankenhaus, berichtet Xi Chen, Professor für öffentliche Gesundheit an der Yale School of Public Health in den USA bei ntv. Diese sind aber nur in den größeren Städten besser ausgestattet. "Im Rest von China ist die Lage deutlich angespannter. Dort ist den Menschen nicht bewusst, dass sie bei leichten Symptomen zu Hause bleiben sollen, um Kapazitäten für wirklich schwere Fälle freizuhalten. Dadurch kann das System schnell zusammenbrechen."
Interesse an Auslandsflügen rasant gestiegen
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Gleichzeitig erleben die Reiseanbieter in China aber seit Ende Dezember einen riesigen Ansturm, weil die Regierung die Quarantänepflicht für Reisende gestrichen hat. Rückkehrer aus dem Ausland müssen sich ab 8. Januar nicht mehr isolieren. Das Interesse an Flügen ins Ausland ist teils um 850 Prozent gestiegen, berichten chinesische Staatsmedien. Beliebt sind unter anderem Reisen nach Hongkong, Japan, Thailand oder Südkorea.
"Wir starten gerade internationale Strecken neu, und wir werden auch Flüge zu einigen bestehenden internationalen Zielen hinzufügen", sagt Lu Wen von der chinesischen Fluggesellschaft China Eastern Airlines.
Testpflicht für China-Reisende eingeführt
Die chinesische Öffnung sorgt weltweit für Angst. Viele Länder verschärfen ihre Einreisebestimmungen, damit das Virus nicht eingeschleppt wird. Unter anderem Italien, Frankreich, Japan, die USA und Großbritannien verlangen von Reisenden aus China einen negativen Corona-Test. In Spanien gilt 3G: Passagiere müssen geimpft, getestet oder genesen sein. Österreich und Belgien wollen das Abwasser von Flügen aus China untersuchen. Deutschland hat bisher noch keine Testpflicht an Flughäfen eingeführt.
China wehrt sich gegen die nach seiner Ansicht diskriminierenden Einreiseregeln. Sie richteten sich nur gegen chinesische Reisende, kritisierte Außenamtssprecherin Mao Ning. Die Entscheidung entbehre jeder wissenschaftlichen Grundlage. China werde Gegenmaßnahmen ergreifen.
Der Virologe Hendrik Streeck plädiert bei ntv für einen einheitlichen europäischen Weg. "Weil die Flieger nicht nur in Deutschland landen, sondern es dann auch Binnenflüge, also von der Schweiz, Frankreich, anderen Ländern nach Deutschland mit chinesischen Reisenden gibt." Das Virus an sich sei nicht das Problem. "Sondern wir müssen die Mutationen wissen. Und das können wir nur gemeinsam europäisch an den Flughäfen", so Streeck.
Keine neuen Coronavirus-Varianten entdeckt
Das Risiko von Mutationen wächst, weil sich das Coronavirus in China so rasant ausbreitet. Doch in der Volksrepublik wird kaum getestet und sequenziert. Chinas Gesundheitsamt will das zwar ändern: In den Provinzen sollen je drei Krankenhäuser jede Woche Proben von Infizierten und Toten sammeln und analysieren, um neue Sars-CoV-2-Varianten zu erkennen. Experten befürchten aber im US-Magazin "Science", dass diese Stichprobengröße zu klein ist.
"Das Potenzial, dass das Virus sich jetzt noch mal in eine ganz andere Richtung entwickelt, ist gegeben, weil die Immunsysteme der Bevölkerung, auf die es trifft, noch nicht so reagieren konnten und das Virus in eine bestimmte Richtung gelenkt haben", schätzt Virologe Martin Stürmer bei ntv die Lage in China ein. "Die Wahrscheinlichkeit, dass jetzt eine Variante kommt, die wieder deutlich aggressiver ist als Omikron, halte ich für relativ gering."
Weil die Zahlen aus China wenig verlässlich sind, will Europa selbst ein "Varianten-Monitoring" an den Flughäfen einführen, sagte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach. Bisher sind in Deutschland keine neuen Corona-Varianten aus China aufgetaucht, sagt Hendrik Streeck im ntv-Interview.
Von einer Immunität gegen Corona wie in anderen Ländern ist China noch weit entfernt. Die Null-Covid-Politik hat bisher viele Ansteckungen im Land verhindert. Doch mit der Reisewelle zum chinesischen Neujahrsfest Ende Januar wird sich das Virus noch weiter ausbreiten. Auch bis in die Provinzen in Zentral- und Westchina, warnen chinesische Forscher. Laut britischen Experten wird der Höhepunkt der jetzigen Welle Ende Januar erreicht werden, mit etwa 25.000 Toten pro Tag.
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Quelle: ntv.de