"Das ist die Hölle, ein Albtraum" Die Apokalypse von Tacloban
18.11.2013, 12:39 Uhr
Tacloban ist eine Trümmerwüste.
(Foto: dpa)
Es sind gespenstische Bilder. Die philippinische Stadt Tacloban gleicht einem Trümmerfeld, in der Luft hängt der Geruch verwesender Leichen. Die Angst vor Seuchen ist groß - genau wie die vor Plünderern, die nun auch Waffengeschäfte ausrauben.
"Helft uns, wir gehen hier sonst zu Grunde. Helft den Philippinen! Was wir erlebt haben, was wir erleben - das ist die Hölle, ein Albtraum", fleht Joanna Hamilton. Es ist Samstagmorgen, acht Tage nach der Katastrophe. Die Sonne scheint aus dem Osten, von dort, wo der Taifun Haiyan herkam. Die Australierin stakst durch ein riesiges Trümmerfeld. Soweit das Auge reicht - nur Schutt und Verwüstung. Hamilton ist erst vor zwei Monaten mit ihrem Mann auf die philippinische Insel Leyte, hierher nach Tacloban, gekommen. Die beiden sind über 60 und wollten hier ihren Lebensabend verbringen. Von ihrem Haus stehen nur noch die Grundmauern und eine Wand. Sie hatten noch Glück. Ihre Straße ist 500 Meter vom Ufer des Pazifiks entfernt.
Weiter vorn, direkt am Wasser, haben die Menschen, wenn sie überlebt haben, alles verloren. Denn der 300-Stundenkilometer-Sturm brachte auch eine Monster-Welle von fünf Metern Höhe. "Es war ein Tsunami. Wir haben zu Gott gebetet, dass er nicht bis zu uns in die Straße reicht", erzählt Joanna. Wenige Meter vor ihrem Haus kam die Welle zum Stehen. Davor hat die Welle alles mitgerissen, was ihr im Weg stand. Häuser, Autos, Bäume, Strom- und Lichtmasten. Es ist der am schwersten betroffene Stadtteil von Tacloban, dort sind die meisten Toten zu beklagen.
Trümmer und Schutt häufen sich hier zu einer fast ein Meter dicken Schicht. Darunter werden noch Dutzende Leichen vermutet. Die Bergungstrupps wissen jedoch nicht genau, wo die Toten sind und wie sie überhaupt zu ihnen vordringen können. In der 30 Grad heißen Tropenluft liegt der penetrant süßliche Geruch verwesender Leichen. Dazwischen suchen Menschen nach Überresten von dem, was einmal ihr Zuhause war.
"Es ging alles ganz schnell"
Ein paar Meter weiter steht der 23-jährige Mhelbert Ocher vor den Trümmern des Hauses seiner Familie. "Diese Welle war fast noch schlimmer als der Sturm. Wir waren in der zweiten Etage unseres Hauses, als der Tsunami kam. Es ging alles ganz schnell. Wir sind raus und dann irgendwie mit der Welle mitgeschwommen - meine Großmutter, meine Mutter, meine Geschwister und Cousinen. Es war extrem gefährlich, denn überall schwammen Bretter, Möbel und Gerümpel. Wir haben es alle geschafft, dank Gottes Hilfe." Sie sind am Leben geblieben, alle acht Mitglieder der Drei-Generationen-Familie.
Viele ihrer Nachbarn sind tot oder werden noch vermisst. Auch hinter Mhelbert und seiner Familie liegen Tage der Verzweiflung. In den ersten 48 Stunden hatten sie kein Trinkwasser und kaum etwas zu essen. Aber sie wollten nicht aufgeben. So haben sie sich gegenseitig gestützt. Langsam, ganz langsam kehrt nun ihr Lebensmut zurück. Seit jenem schwarzen Freitag leben sie auf der Straße. Sie haben sich an der Rückwand eines weniger zerstörten Hauses aus blauen Zeltplanen eine Notunterkunft zusammengezimmert. Pappe und Reste von Sesseln dienen als Untergrund für die Schlafstellen.
Kinder spielen zwischen Trümmern
Mhelbert erzählt: "Nach drei Tagen kamen die ersten Hilfslieferungen an - Wasser, Konserven, Kekse, Energie-Riegel. Das war unglaublich wichtig. Wir haben in diesem Augenblick gedacht, wir sind nicht allein. Wir sind unglaublich glücklich und dankbar. Sonst hätten wir es nicht geschafft, sonst würden wir es nicht schaffen." Sie haben inzwischen drei kärgliche Mahlzeiten am Tag und ausreichend Wasser. Die drei kleinen Cousinen von Mhelbert - vier, sieben und neun Jahre alt - spielen schon wieder zwischen all dem Schutt und den Trümmern. Sie lächeln, als wir sie nach ihren Namen fragen. Es ist genauso bedrückend wie beeindruckend, wie die ganz Kleinen mit dieser Katastrophe hier klarkommen.
Jetzt hofft Mhelbert, dass der Strom bald zurückkehrt. Dann will er zusammen mit seinem ältesten Bruder anfangen, das Haus weiter vorne am Ufer wiederaufzubauen. Das wird nicht einfach. Ohne schwere Technik ist es unmöglich, all den Schutt abzutragen. Wann und ob die Stadt ihm dabei helfen wird, ist noch völlig ungewiss. Nachdem er und seine Familie diese Apokalypse überlebt haben, denkt er nach vorne. Er sagt, das helfe. Mit einer klaren Aufgabe vor Augen sei es leichter, das zu vergessen, was sie erlebt haben.
Alfred Romualdez, Bürgermeister der 220.000-Einwohner-Stadt, hat im Augenblick noch andere Sorgen als das Bereitstellen schwerer Technik für die Aufräumarbeiten. Weiter draußen in den ärmeren Randb ezirken haben die Menschen nicht genügend Wasser und Essen. Es bleibt schwer, das genaue Ausmaß der Katastrophe abzuschätzen. Die Angaben der Opferzahlen schwanken noch immer zwischen zwei und zehntausend.
Solange nicht alle Leichen geborgen sind, ist die Gefahr von Seuchen groß. Für Romualdez hat die Eindämmung dieser Gefahr im Augenblick oberste Priorität. Inzwischen ist es Mittag. Auf der Hauptzufahrtsstraße zum Rathaus beobachten wir Lastkraftwagen, die Leichensäcke abholen. Das nehmen die Menschen kaum noch zur Kenntnis. Auch jetzt, mehr als eine Woche nach der Katastrophe, werden täglich bis zu hundert Tote geborgen. Sie werden in Massengräber gebracht, die außerhalb der Stadt ausgehoben wurden. Es sind gespenstisch anmutende Bilder.
Hilfe kommt endlich an
Der stark zerstörte Flughafen von Tacloban nimmt seit ein paar Tagen wieder Flugzeuge an. Hercules-Militärtransporter fast aller Länder aus der Region und aus den USA und Australien landen im Stundentakt aus Manila und Cebu. Das sind die beiden Drehkreuze für die Hilfsgüter-Lieferungen hier auf den Philippinen. Voll beladen bis unter das Dach. Neben Wasser und Lebensmitteln kommen vor allem Medizin, Zelte, Decken und technisches Equipment.
Auch wir Journalisten sind vor ein paar Tagen nach langem Warten von der Nachbarinsel Cebu mit einem dieser Militärtransporter in das Krisengebiet geflogen. Mit an Bord: ein israelisches Ärzteteam und eine ganze Reihe von Containern mit technischem Gerät. Der 27-jährige Arzt Ariel Gryubel, Freiwilliger in einer israelischen NGO, erzählte, dass für ihn gleich am Tag nach der Katastrophe klar war, dass er und sein Team hier helfen müssen. "Wir haben uns darauf eingerichtet, dass wir vor allem Brüche und Quetschungen behandeln müssen und haben die entsprechenden Ausrüstungen dabei. Im Notfall können wir auch Amputationen durchführen."
Die Anreise dauerte auch für ihn länger als gedacht. In den ersten Tagen gibt zu wenige Flugzeuge, die in Tacloban landen dürfen. Eine Fähre über das Wasser braucht fast zwölf Stunden, dann sind weitere acht Stunden beschwerlicher Autofahrt über zerstörte Straßen nötig. Wenn es denn überhaupt ein Auto gibt, und wenn dieses denn überhaupt genügend Benzin hat. So haben sie, wie wir auch, zwei Tage in Cebu gewartet, bis uns eine "Hercules" der philippinischen Armee mit an Bord genommen hat. Europäische Flugsicherheitsbestimmungen wurden ausgeblendet. Es gibt in diesen philippinischen Transportern keine Sitzplätze. Wir alle stehen während des knapp einstündigen Fluges zwischen den Containern. Beim Landeanflug sehen wir durch die kleinen Fenster die Zerstörungen am Boden. Der gesamte Küstenabschnitt auf einer Breite von 300 Metern wurde einfach wegrasiert. Es sind Bilder wie beim Tsunami in Banda Aceh vor knapp neun Jahren.
Rund um das Rathaus von Tacloban, das nur wenig beschädigt ist, haben eine Reihe von Hilfsorganisationen Quartier bezogen. In der heißen Mittagssonne sieht man den meist aus Europa kommenden Mitarbeitern an, wie ungewohnt das Klima für sie ist. Die größte Herausforderung für sie besteht darin, den endlich eingesetzten Schub der ankommenden Hilfsgüter auch zu verteilen. Es sind in der Summe noch immer bei Weitem nicht ausreichend genug. Sehr viel konzentriert sich jedoch im Augenblick auf Tacloban. Silke Buhr vom World Food Programme erklärt: "Wir halten jeden Morgen eine Lagebesprechung ab, synchronisieren unsere Informationen und entscheiden dann, wo wir im Laufe des Tages aktiv werden: Wer braucht was in den entlegenen Orten der Insel Leyte am dringendsten und wie kommt man dort am besten hin? Die Mobilfunknetze funktionieren inzwischen wieder besser, dennoch ist Kommunikation auf der Insel noch immer schwierig."
Waffenläden werden geplündert
Am Nachmittag beziehen immer mehr Polizisten in der Stadt ihre Positionen. Es gibt eine ganze Reihe von Checkpoints. Die Sicherheitslage ist in den Nachtstunden extrem angespannt, denn noch immer gibt es Plünderungen. Jetzt sind es nicht mehr die kleinen Supermärkte, die das Ziel der Plünderer sind, sondern Elektronik-Geschäfte und lizensierte Waffenläden. In den umliegenden Dörfern von Tacloban gibt es regierungsfeindliche Rebellen, die in den letzten Tagen Hilfstransporte über Land überfallen und ausgeraubt haben. Ganz offensichtlich suchen sie hier Nachschub.
Um 17 Uhr geht der Tag zu Ende. Tacloban verwandelt sich binnen 30 Minuten in eine komplett dunkle Stadt. Kein Strom bedeutet auch kein Licht. Nur in der Nähe des Rathauses gibt es einen funktionierenden Generator, den sich Hilfsorganisationen mit Journalisten teilen. Der reicht für ein bisschen Licht und dafür, Akkus für Telefone, Notebooks, Kameras und Satelliten-Anlagen aufzuladen. Zwischen den Kisten bauen wir uns aus Rucksäcken, Pappkartons und Planen ein Nachtlager. Der Himmel ist klar an diesem Abend, so dass der Vollmond über die Stadt scheint.
Joanna hat sich mit ihrem Mann in die Überreste ihres Hauses zurückgezogen und hofft, dass der Wind vom Ozean weht und nicht aus dem Trümmergebiet mit den verwesenden Toten. Und Mhelbert will, wenn es kurz nach fünf wieder hell wird, einer der ersten an der mobilen Wasserpumpe in der Nähe des Rathauses sein.
Quelle: ntv.de