Halloween in Deutschland "Horror hat eine gesellschaftliche Funktion"
31.10.2023, 07:46 Uhr Artikel anhören
Vor allem der Fratze ziehende Kürbis ist ein populäres Dekorationsmotiv zu Halloween.
(Foto: imago/Marius Schwarz)
Jedes Jahr am 31. Oktober feiern Menschen in den USA, aber auch in Deutschland, mit gruseligen oder schaurigen Verkleidungen das Fest des Horrors: Halloween. Wo der Brauch seinen Ursprung hat und wie Halloween überhaupt nach Deutschland kam, erklärt Kulturanthropologe Gunther Hirschfelder.
ntv.de: An Halloween sollen sich die Menschen gruseln. Inwiefern ist der Gruselfaktor wichtig?
Gunther Hirschfelder: Grusel und Horror erzeugen starke Bilder. Das ist instagramable. Viele Menschen haben Spaß daran, sich zu verkleiden. Sie machen Selfies und laden die neuen Bilder auf ihren Accounts in den sozialen Medien hoch. Da wir in einer visuellen Gesellschaft leben, ist das für viele heute wichtig. Zudem erfüllt Horror eine gesellschaftliche Funktion. Menschen haben verschiedene Ängste: Wir fürchten uns vor Krankheiten und dem Tod, vor klimatischen Veränderungen, vor ökonomischen Krisen, dem Krieg in der Ukraine oder dem Nahostkonflikt und anderen globalen Krisen. Und die Religion fängt solche Ängste nicht mehr auf, weil wir nicht mehr religiös sind. Gerade deshalb brauchen wir ein Ventil, wo wir Ängste rauslassen können. Und wer die ganz große Weltpolitik nicht versteht, weil sie zu abstrakt ist, der greift vielleicht zum Totenkopfmotiv. Indem wir selbst eine kleine Horror-Show inszenieren, machen wir Ängste "verdaubar". Aber der echte Horror wird damit nicht gespiegelt. Unsere fundamentalen Ängste werden nur oberflächlich abgeholt.
Inwiefern ist Halloween ein Brauch?
Halloween kennen wir heute als Heischebrauch, also einen Brauch, bei dem Gaben erbeten oder gefordert werden. Dabei gehen Kinder durch die Nachbarschaft und betteln um Süßigkeiten. Daher kommt der Spruch "Süßes oder Saures. Liebe Nachbarn, schenkt uns Süßigkeiten oder wir spielen euch einen bösen Streich!" Gleichzeitig ist Halloween eine Chiffre oder eine Metapher für den Übergang von Herbst zu Winter oder die Zeit um den 1. November.
Ist Halloween ein von der Industrie künstlich geschaffener Feiertag?
Halloween wird von der Industrie über bestimmte Werbemuster, Farben und Produkte immer wieder in Stellung gebracht. Ähnlich wie Weihnachten dient Halloween als populäres Dekorationsmotiv und wir haben eine Überschwemmung des Marktes mit spezifischen Süßigkeiten. Das ist Saisonware, die durchaus verzichtbar ist. Damit rufen Industrie und Medien den Tag immer wieder in Erinnerung, sonst würde Halloween möglicherweise floppen.
Überschneidet sich Halloween nicht mit anderen deutschen Bräuchen?
Im Rheinland ist Sankt Martin ein großer Konkurrent. Außerdem hat Halloween Ähnlichkeiten mit Karneval beziehungsweise Fasching. Mottopartys und Verkleidungen sind Muster, die Menschen grundsätzlich gerne machen. Und es gibt eine Schnittmenge zum mexikanischen Día de los Muertos, bei dem der Tod und die Ehrung der Toten mit Totenkopfmotiven gefeiert werden. Auch zu Halloween geht es um den Tod und es ist eine Mischung aus viel Spaß und ein bisschen Grusel.
Woher kommt der Halloween-Brauch?
Der Ursprung des Halloween-Brauchs wird oftmals den Kelten zugeschrieben, die vor über 2000 Jahren in Nordwesteuropa, in Großbritannien und Irland lebten. Um die Kelten gibt es viele Mythen, wir verbinden mit ihnen Steinquellen wie die jungsteinzeitlichen Steinkreise von Stonehenge oder Grabfunde, aber keine Schriftquellen. Lediglich über archäologische Funde können wir heute Rückschlüsse auf ihre Kultur ziehen. Daher wissen wir, dass die Kelten eine Agrargesellschaft waren: Sie betrieben Ackerbau und waren insofern abhängig von den Jahreszeiten und der Natur. Deshalb spielten in ihrem Alltag Beobachtungen des Wetters und der Lauf der Jahreszeiten wie der Übergang vom Sommer zum Winter eine wichtige Rolle. Die Sommersonnenwende und die Wintersonnenwende sind derartige Phänomene. Wir gehen davon aus, dass diese besonderen Punkte im Jahreslauf, bei denen Licht oder Natur sich ändern, rituell begangen worden sind. In anderer Form feiern wir die Erntezeit auch heute noch.
Und wie kam der Brauch in die heutige Zeit?
Wie sich der Sprung vom ersten nachchristlichen Jahrhundert bis zur Frühen Neuzeit vollzogen hat, wissen wir nicht. Der Halloween-Brauch hat eine legendenhafte Tradition, aber jede Legende hat einen wahren Kern. Nach der volkstümlichen Überlieferung gab es einen Mann namens Jack-O'-Lantern, der mit einer List dem Teufel entkommen war. Doch als er starb, war auch der Himmel für Jack-O'-Lantern verschlossen. So ist er auf ewig dazu verdammt, in der Dunkelheit nur mit einer Kerze in einer ausgehöhlten Rübe zwischen Hölle und Himmel zu wandern. Daher kommt angeblich die Praxis, in Kürbisse Fratzen zu schneiden. Vermutlich sind die alten Kulturmuster der Kelten von den ersten christlichen Missionaren vereinnahmt worden. Ein keltischer Brauch wurde von "All Hallows Eve", was wir heute in der Nacht zum 1. November als Allerheiligen feiern, überlagert. Daraus leitet sich Halloween ab. Das wären einige die legendenhaften Überlieferungen, die sich irgendwie eingebürgert und möglicherweise eine Rolle gespielt haben.
Inwiefern eingebürgert?
Wir sprechen über Kulturtransfer: Im 19. Jahrhundert kommt es in Irland zu Klimakatastrophen, auf die Missernten und Hungersnot folgen. Die Menschen verarmen und wandern aus: Sie werden Klimaflüchtlinge. Weil in den USA Englisch gesprochen wird, zieht es viele Iren dorthin. Schließlich verselbstständigt sich der Halloween-Brauch in den irischen Communities in den USA. Die Menschen wollen zusammen feiern, sie wollen etwas zusammen begehen - was genau, das wissen wir nicht. Dieses Muster erlebt in den USA im 20. Jahrhundert einen Aufschwung. Das kann nur in den USA passieren.
Wie meinen Sie das?
In den USA, einem multiethnischen Einwanderungsland, haben vor allem kompatible Bräuche Erfolg - also Bräuche, die für viele verschiedene Menschen, Juden, Christen, Indigene, Menschen aus Asien und aus Afrika, anschlussfähig sind. So kommen im 20. Jahrhundert vor allem Kulturmuster auf, für die Religion nicht zentral ist, wie der Muttertag oder der Valentinstag. Alle lebendigen Bräuche haben eine Funktion. Bei Halloween besteht die Funktion darin, dass man miteinander in Verbindung tritt, dass man Nachbarschaften schafft und dabei Kinder in das soziale System der Nachbarschaft einbindet. So verbreitet sich Halloween in den 70er- und 80er-Jahren immer weiter in den USA.
Bräuche schaffen Gemeinschaft, aber wird nicht auch jemand ausgeschlossen?
Der Markt will niemanden ausgrenzen: Es ist ein Wesen des Kapitalismus, alle mitzunehmen, die bezahlen können. Aber als Folge der Inflation können Menschen in Deutschland viele Dinge wie Saisonware oder Süßigkeiten nicht mehr bezahlen. Deshalb spricht Halloween vor allem Menschen des mittleren Preissegments an. Wer prekär lebt, der ist von Halloween ausgeschlossen, weil er nicht die Möglichkeit hat zu konsumieren. Ausgeschlossen werden damit diejenigen, die ohnehin am Rand der Gesellschaft stehen, wie zum Beispiel ältere Menschen oder Geflüchtete. Eingrenzen bedeutet immer auch ausgrenzen.
Wie wurde Halloween zu einem kommerziellen Feiertag?
Um zu verstehen, wie sich das Kommerzielle in den Brauch geschlichen hat, müssen wir zurückgehen in die Zeit der großen amerikanischen Filme mit Doris Day und Rock Hudson. Während Kinder in den weißen, bürgerlichen Nachbarschaften an Halloween umherzuziehen, starten in den 80er-Jahren die ersten erfolgreichen Halloween-Filme, die erst in den USA und dann in Europa große Erfolge feiern. Der Startpunkt war der "Halloween"-Film, der eine mehrteilige Filmreihe und eine Horrorfilm-Ära einleitete. Heute reicht die Palette an Halloween-Filmen von mehr oder weniger guten Gruselfilmen bis zu den absoluten Trash-Horrorfilmen. Damit initialisierte die Medialisierung des Brauchs auch seine Kommerzialisierung. Das Ganze ist eine selbsterfüllende Prophezeiung.
Können Sie das näher erklären?
Um auf den Erfolgszug der Halloween-Filme aufzuspringen, brachte die Industrie spezielle Süßigkeiten, spezielle Lampen, spezielle Dekoration auf den Markt. Wenig später kamen die in den USA erfolgreichen Horrorfilme auch nach Deutschland. Erst dadurch wird Halloween in Deutschland bekannt. Seit gerade einmal 40 Jahren gibt es Halloween hierzulande. Vorher wurde Halloween nur in den amerikanischen Kasernen in Deutschland gefeiert. Schnell mutierte der Brauch dann auch in Deutschland zum Selbstläufer.
Warum?
Das liegt an der Eigendynamik des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts: In dieser Zeit verliert die Kirche immer mehr an Bedeutung. Die Gesellschaft entfernt sich zunehmend von Kirche und Religion. Damit einher geht, dass religiöse Bräuche wie Allerheiligen, Pfingstmontag oder auch Karfreitag kaum noch richtig vermittelbar werden. An ihre Stelle treten neue wie Halloween.
Als Halloween in Deutschland immer größer wurde, sagten Sie 2001, das Fest fülle ein kulturelles Vakuum, das durch den Bedeutungsverlust hiesiger Traditionen entstanden sei - gilt das immer noch?
Um das zu beantworten, bräuchten wir eine genaue Bestandsaufnahme oder neue Untersuchung. Ich habe aber den Eindruck, dass Halloween seine Hochzeit in der ersten und zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts hatte. In Deutschland ziehen Kinder zunehmend weniger von Tür zu Tür.
Wie erklären Sie diesen Bedeutungsverlust?
Kultur verlangt immer nach Abwechslung. Aber vor allem die Corona-Pandemie hat es Halloween schwer gemacht: Halloween ist wichtig für die Veranstaltungs- und Gastronomie-Branche, also die Partykultur. Aber seit 2020 setzen Corona, steigende Preisen und nachlassende Nachfrage dieser Branche und damit auch Halloween stark zu.
Mit Gunther Hirschfelder sprach Rebecca Wegmann
Quelle: ntv.de