Die Nacht zurückerobern Londoner Stadtteil Wandsworth wird für mehr Sicherheit umgebaut


Der Mord an Sarah Everard hat in London zu einem Umdenken geführt.
(Foto: REUTERS)
Dunkle Gassen und wenig belebte Straßen können besonders nach der Dämmerung für Frauen gefährlich werden. Auch in einer Metropole wie London. Der Stadtteil Wandsworth will das mit Stadtplanung, Trainings und Nachbarschaftsarbeit ändern.
Am 3. März 2021 läuft Sarah Everard in London um 21 Uhr Ortszeit von einer Freundin nach Hause; kommt dort jedoch nie an. Nach mehr als der Hälfte der Strecke wird sie von Polizist Wayne Couzens verhaftet, weil sie angeblich gegen Corona-Regeln verstoßen haben soll. Was sie nicht weiß: Dies ist nur ein Vorwand, um sie in seinen gemieteten Lieferwagen zu schließen, zu vergewaltigen und zu töten.
Der Fall Sarah Everard erschüttert damals das ganze Land. Viele Frauen gehen auf die Straße, protestieren unter dem Motto "Reclaim the Night", auf Deutsch: Holt euch die Nacht zurück. Der Slogan ist kein Neuer: Die Bewegung startete im Jahr 1977 im nordenglischen Leeds als Antwort auf die Morde des "Yorkshire Ripper". Der Serienmörder Peter William Sutcliffe ermordete zwischen 1975 und 1980 13 Frauen. Damals wie heute konnten viele mit dem Vorschlag, nachts vorsichtiger zu sein oder sogar nicht mehr alleine auf den Straßen unterwegs zu sein, wenig anfangen. Trotzig fordern die Frauen Veränderungen.
Und die soll es nun geben: Der Stadtteil Wandsworth ist der erste in London, der seine Infrastruktur verändern und so sicherer für Frauen und Minderheiten machen will. In Wandsworth befindet sich auch der Park Clapham Common, durch den Sarah Everard 2021 nach Hause ging.
Nächtliche Aktivitäten ohne Angst
Pablo Navarrete Hernandez ist Dozent für Landschaftsgestaltung an der Universität Sheffield und setzt sich genau mit solchen Planungen in seiner Forschung auseinander. "Es ist wichtig, zwischen Angst vor Verbrechen und tatsächlichen Verbrechen zu unterscheiden. Beides hat soziale Konsequenzen. Das Problem ist, dass man bisher dachte, wenn man Verbrechen bekämpft, könnte man auch die Angst davor reduzieren - das stimmt nicht unbedingt", sagt er ntv.de.
Das Sicherheitsgefühl der Menschen und die tatsächliche Sicherheit gehen zwar miteinander einher - doch nicht immer so, wie bisher gedacht. "Wir wissen, dass Orte, die als unsicher betrachtet werden, über die Zeit auch tatsächlich unsicherer werden." Zerbrochene Fenster oder Graffiti sorgen etwa laut Navarrete Hernandez' Forschungen dafür, dass Menschen sich unsicherer fühlen. Dadurch meiden sie diese Orte, die dann wiederum attraktiver für kriminelle Aktivitäten werden.
Genau dem will Wandsworth entgegenwirken. Der Stadtteil soll zwischen 18 Uhr abends und 6 Uhr morgens vor allem lebendiger werden: Es soll Nachtmärkte geben, mehr Abendveranstaltungen, die nichts mit Alkohol und Partys zu tun haben und sogenannte Social Hubs und Safe Spaces - Einrichtungen, die Menschen helfen, die sich auf dem Weg nach Hause unsicher fühlen. "Die nächtliche Erfahrung wird davon bestimmt, wer man ist - wie man aussieht, dem Geschlecht, der sexuellen Orientierung, der geistigen und körperlichen Gesundheit, der ethnischen Herkunft, früheren Erfahrungen und davon, ob man sich ein Taxi nach Hause oder zur Arbeit leisten kann", schreibt Stadtratsvorsitzende Kemi Akinola im Vorwort ihres neuen Nachtplans.
"Die Angstlücke schließen"
Etwas, das auch Pablo Navarrete Hernandez bestätigen kann. "Frauen haben mehr Angst an öffentlichen Orten, als Männer - das ist ein Fakt", erklärt er. "Gleichzeitig helfen gängige Maßnahmen, um Angst zu reduzieren, Männern wie Frauen gleichermaßen. Also müssen wir bei der Stadtplanung uns auf das konzentrieren, was für Frauen funktioniert, um die Angstlücke zu schließen."
Schon jetzt gibt es in Wandsworth regelmäßig abendliche Spaziergänge, bei denen Frauen mit anderen Frauen über ihre nächtlichen Erfahrungen im Stadtteil sprechen können und Fackelläufe, um besonders auf das Thema Frauengewalt aufmerksam zu machen. Und das, obwohl Wandsworth statistisch gesehen jetzt schon einer der sichersten Stadtteile Londons ist. Doch auch hier, wie in der ganzen Stadt und auch landesweit, steigen die Zahlen der Angriffe auf Frauen und Mädchen seit Jahren. Im Jahr 2022 zum Beispiel wurden bis September 70.633 Vergewaltigungen polizeilich erfasst, die höchste jemals in Großbritannien registrierte Zahl - die meisten davon an Frauen und Mädchen.
Und genau diese Entwicklung will Wandsworth stoppen. Deswegen bekommen unter anderem Pubs und Bars, die neu eröffnen, ein gesondertes Training. Darin lernen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, wie sie sexuelle Belästigung in ihren Einrichtungen erkennen und dagegen vorgehen können.
Viele, noch ungeteste Ideen
Zusätzlich gibt es Trainingsangebote für Zivilisten. In 90-minütigen Sessions wird hier vermittelt, wie man sich und andere in Sicherheit bringen kann, wenn man beispielsweise eine Schlägerei oder einen sexuellen Übergriff mitbekommt. Das wohl wichtigste Thema ist aber die nächtliche Beleuchtung des Stadtteils. Viele öffentliche Fahrradstellplätze befinden sich in dunklen, abgelegenen Ecken, Fußgängerwege führen durch dunkle Parks. Mehr und besonders warmes Licht oder beruhigende Musik sollen hier helfen.
Pläne, die auch vom Experten für gut befunden werden. Pablo Navarrete Hernandez sagt, dass gerade kleine, offene Grünflächen, mehr Beleuchtung und keine dunklen Ecken für mehr Sicherheitsgefühl sorgen. Doch er merkt auch an, dass es noch große Lücken in der Forschung gibt: "Es gibt viele Ideen, aber nicht alle wurden getestet, und das ist ein großes Problem. In Chile zum Beispiel wurden viele Wandmalereien in Auftrag gegeben, doch es wurde nie bewiesen, dass das etwas bringt." Ein weiteres Problem sei, dass es noch nicht genug Forschungsergebnisse zur Angst von Mitgliedern der LGBTQIA+ Community gebe - die aber von allen Gruppen am meisten Angst hätten.
Wenn es nach Londons Bürgermeister Sadiq Kahn geht, dann sollen in naher Zukunft alle 32 Stadtteile in London dem Beispiel von Wandsworth folgen. Auch, wenn die Veränderungen ihre Zeit brauchen - die Hoffnung ist, dass die Stadt auch nachts zu einem sicheren Ort wird und besonders Frauen und Minderheiten die Nacht zurückbekommen.
Quelle: ntv.de