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"Wir sind keinen Schritt weiter" Raúl Krauthausen über Monster und Superhelden

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Wäre auch gern mal "the guy next door", doch kämpft unter andrem gegen strukturelle Gewalt unter dem Mantel der Fürsorge: Raúl Krauthausen.

(Foto: Anna Spindelndreier)

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Frauen wurden von einem früheren Bundeskanzler schonmal zum "Gedöns" gezählt. Und andere Gruppen, die einer "Minderheit" (was im Falle von Frauen ja nicht einmal stimmt) angehören, sowieso und ebenso wie auch Menschen mit Behinderung. Das ist ganz und gar nicht okay. Das ist schlecht. Wann beginnen wir endlich, Menschen mit Behinderung als Teil unserer Gesellschaft normal zu behandeln? Raúl Krauthausen, Inklusions-Aktivist und Autor, hat ein Buch geschrieben: "Wer Inklusion will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden", heißt es. Und ihm reicht's, er hat die Nase gestrichen voll. Genauso, wie "ältere" Frauen nicht bedauernd angeschaut werden wollen ("Für dein Alter siehst du doch echt noch gut aus"), wollen Menschen mit Behinderung auch nicht bemitleidet, sondern ernstgenommen und akzeptiert werden. Krauthausen hat Energie für zwei - und nie Feierabend, wie es scheint. Denn die Themen brennen ihm unter den Nägeln. Und er wird nicht aufhören, sich zu Wort zu melden, bis nicht die letzte Grundschule alle Kinder - egal ob mit Behinderung oder ohne - zusammen unterrichten wird.

ntv.de: Herr Krauthausen, wir haben vor zwei Jahren miteinander gesprochen ...

Raúl Krauthausen: Ich erinner' mich genau. Da ging es um das Oberlinhaus in Potsdam und die Morde dort.

Genau. Zwei Jahre sind vergangen, spezielle Jahre: Klimakrise, Corona, Krieg. Haben Sie das Gefühl, im Bereich Inklusion hat sich was verändert in den letzten zwei Jahren? Hat sich gar etwas verbessert?

Nein, leider gar nicht. Es ist nach wie vor so, dass die Deutungshoheit die Menschen ohne Behinderung haben. Wenn man sich anguckt, was wurde eigentlich aus dem Thema Oberlinhaus - man hat es nicht einmal hinbekommen, bis heute die Gedenk-Stelen aufzustellen. Das ist zwei Jahre her! Das zeigt einfach, wie wenig Priorität das Ganze hat. Es wäre anders, wenn das Nicht-Behinderte gewesen wären, die da umgebracht wurden. Dann wäre der Protest auch viel größer.

Kommt denn Protest aus Ihrer Community, oder haben Sie das Gefühl, ein Einzelkämpfer zu sein?

Nein, an der Community liegt das nicht, sondern es liegt an der fehlenden Wahrnehmung in der Öffentlichkeit. Es ist einfach so, dass die meisten - JournalistInnen, PolitkerInnen - lieber mit dem Pflegepersonal sprechen, dem Bürgermeister oder mit nicht behinderten StadtplanerInnen oder ExpertInnen. Man hört zu wenig Stimmen der Betroffenen. Da tun sich die Medien noch sehr, sehr schwer, mal genau zu recherchieren.

Ihr neues Buch heißt: "Wer Inklusion will, findet einen Weg, wer nicht, findet Ausreden". Was sind denn typische Ausreden? Gibt es da so einen gewissen Katalog, den Sie immer wieder hören?

Ja, auf jeden Fall. Also eine Ausrede, die ich immer höre, ist: "Ich bin dafür nicht ausgebildet, deswegen mache ich es nicht." LehrerInnen sagen das beispielsweise ganz gerne, um nicht behinderte Kinder und behinderte Kinder nicht gleichzeitig unterrichten zu müssen. Oder aber auch PersonalerInnen, die dann infrage stellen, ob man einem behinderten Menschen diese oder jene Arbeit "zumuten" kann. "Unsere Räumlichkeiten sind dafür gar nicht vorgesehen", heißt es oft. Und ehe man die Räumlichkeiten für Menschen mit Behinderungen herrichtet, lässt man es eben lieber ganz bleiben. Das ist eigentlich genau das Problem. Das verstehe ich zwar, dass Leute das sagen, und auch, dass das Lehrpersonal das so empfindet, aber: Kennen Sie Eltern, die behaupten würden, sie sind darauf vorbereitet, ein Kind mit Behinderung großzuziehen?

Niemanden. Sie haben früher mit nicht behinderten Kindern zusammen gespielt, es war für Sie ganz normal. Haben Sie das Gefühl, da war teilweise noch ein bisschen mehr die Welt in Ordnung oder denken Sie, es als Kind vielleicht anders wahrgenommen zu haben, weil Ihre Eltern für Sie Dinge geregelt haben, die Sie jetzt natürlich als Erwachsener selbst regeln müssen. Wie alle anderen Erwachsenen auch ...

Also, man idealisiert wahrscheinlich - jeder von uns auf seine Art - die Kindheit, das stimmt schon. Aber ich frage mich dann, wenn es damals geklappt hat, egal wie es war: Warum sind wir heute keinen Schritt weitergekommen? Das sind ja mittlerweile 30 Jahre dazwischen. Wir argumentieren die gleichen Probleme wie damals. Kinder mit Behinderungen können an Regelschulen gemobbt werden, stimmt. Genauso, wie Kinder ohne Behinderungen gemobbt werden können. Und deswegen expandieren die Sonderschulen. Das sind eigentlich alles Argumente, die man nur benutzt, um die Mehrheitsgesellschaft von diesem Thema zu entbinden und davon frei zu sprechen. Weil - da sind ja dann die vermeintlichen Fachkräfte zuständig. Ja, und diese "Fachkraftisierung" des Themas begünstigt wahrscheinlich sogar die Exklusion. Anstatt, dass wir alle lernen, als Gesellschaft einander zu akzeptieren und zu respektieren.

Was mich wirklich wundert ist, dass wir erstens anscheinend zu blöd sind, um zu lernen und zweitens, wir alle vom Thema Behinderung - durch einen Unfall zum Beispiel - auch betroffen sein können. Das macht man sich nicht oft genug klar.

Anscheinend fällt es uns schwer, die Komfortzone zu verlassen. Behinderung ist gesellschaftlich einfach sehr stark konnotiert mit etwas, was man auf gar keinen Fall in seinem Leben haben will, und wird mit Angst, mit Schmerzen, vielleicht sogar mit Tod in Verbindung gebracht. Und das liegt auch daran, weil Kultur und Literatur auch oft behinderte Menschen als Leidende charakterisieren oder als Monster präsentieren. Oder dann wieder total übertrieben als Superhelden.

Alles zwischen Monster und Superheld?

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Ja. Nur sehr selten als "the guy next door", den Typen von nebenan, der jemand ist wie du und ich. Und wenn wir das nicht lernen, desto schwerer fällt es uns, Vorurteile und Ängste abzubauen. Und gerade deswegen ist es so wichtig, dass man von Kindesbeinen an zusammen miteinander aufwächst. Manchmal eben auch mit Ängsten, ja.

Den Begriff Inklusion beschreiben Sie ausführlich in Ihrem Buch und versuchen, den wirklich genau auseinanderzuklamüsern. Ich denke, die Leute geben sich tatsächlich Mühe, aber: Mühe allein genügt nicht. Wie sehr nervt Sie das tatsächlich, dass die Leute sich immer noch so anstellen?

Es nervt total. Man kann den Begriff durchaus verstanden haben, in seiner ganzen Vielfalt und Diversität. Darüber beobachte ich sogar zunehmend, dass die Dimension der Behinderung als letzte genannt oder als Erstes vergessen wird. Menschen mit Behinderung - diese Gruppe wird als Erstes wieder ausgesiebt. Und das Schlimme daran ist, dass diese Deutungshoheit, was Inklusion ist, selbst an den Stellen, wo sie so richtig wichtig wäre, nicht durchgezogen wird. Wir haben in Organisationen, wie Die Lebenshilfe oder Aktion Mensch, wo ganz groß Inklusion oben drauf steht, in den Führungsetagen fast ausschließlich nicht behinderte Menschen. Das ist ungefähr so absurd wie ein Frauenhaus, das von Männern geführt wird.

Ich überlege gerade krampfhaft, mir vorzustellen, wo ich das letzte Mal zum Beispiel jemanden in einem Rollstuhl gesehen habe, der irgendeine Führungsposition hat.

An Wolfgang Schäuble würde man denken. Oder an den ehemaligen Intendanten Udo Reiter. Aber viel mehr fällt mir auch nicht ein. Ich glaube, wir bräuchten auch gar nicht weiter zu googeln nach Führungskräften. Schauen Sie mal nach Schauspielerinnen und Schauspielern.

Mir fällt noch Stephen Hawking ein. Der Schauspieler Tan Caglar. Der Sänger Andrea Bocelli ist blind, Thomas Quasthoff hat eine Conterganschädigung. Sie schaffen es ja immer mal wieder, mit einer gewissen Ironie den Finger in die Wunde zu legen. Das finde ich gut. Ich fühle mich manchmal ertappt.

Ich denke, da haben die Medien die Verantwortung, auf diese Personen aufmerksam zu machen. Sonst bleibt es dabei: Wir sind die Nadel im Heuhaufen. Wir müssen sichtbar werden, damit zum Beispiel Schauspielerinnen und Künstler auch genug Aufmerksamkeit bekommen - und vielleicht sogar auch jenseits dieses Labels Inklusion. Nachrichten können auch von einem behinderten Moderator gelesen werden, einer Moderatorin, die aber nicht über Behinderung redet, sondern über alle anderen Themen. Die Vorstellung, die es über Behinderte gibt, ist ja auch oft so davon geprägt, wie sich das arme Hascherl heroisch zurück ins Leben kämpft. Aber Behinderte sind eben mehr als immer nur diese sympathische, pragmatische Person, mehr als ihre Behinderung.

Sie haben in Ihrem Buch sehr viele Leute zu Wort kommen lassen, aus den unterschiedlichsten Bereichen. Arbeiten Sie schon länger mit denen zusammen? Oder ist es einfach so, dass Sie nach Themen vorgegangen sind, die Sie nach vorne bringen wollen?

Ja, also ein Thema, das mir sehr am Herzen liegt, ist, dass ich die eine Schule für alle will. Ich will auch, dass wir gleichgestellt werden mit allen anderen Gruppen, mit Frauen und Queeren und PoC, Männern, Menschen ohne Behinderung zum Beispiel. Und über die vielen Jahre, die ich mich selbst in dem Bereich einsetze, habe ich natürlich auch mit vielen Expertinnen sprechen können und die Gelegenheit gehabt, sie kennenzulernen. Da bin ich thematisch vorgegangen, über welche Bereiche wir mal reden sollten, vor allem über Schule und Arbeitsmarkt.

Auch das Thema barrierefreies Bauen finde ich extrem interessant. Bauen ist sowieso schon ein total schweres Thema. Gerade in Berlin brauchen wir darüber fast gar nicht zu sprechen. "Und dann auch noch barrierefrei", werden einige Leute sagen, "ja, was denn noch alles?" Barrierefreiheit braucht man nicht nur als Rollstuhlfahrer, auch als Kinderwagenschieber oder Blinder. Es ist ein absoluter Parcourlauf, wenn man kein Fußgänger ist.

Ja, wenn wir uns jetzt anschauen, wer versprochen hat, so und so viele Wohnanlagen im Jahr zu bauen oder Wohnungen, und davon aber wieder nur ein minimaler Prozentsatz barrierefrei sein wird, dann verschieben wir das Problem einfach mal wieder in die Zukunft.

Der Slogan "Nicht über uns, sondern mit uns" - der müsste ja über allem stehen. Oder wie kriegen wir das besser in die Gesellschaft hinein?

Na, wir müssen an die Unis gehen, auch LehrerInnen anders ausbilden. Das heißt, wir müssen zum Beispiel dafür sorgen, dass Kindergärten und Schulen nicht mehr so leicht davonkommen, behinderte Kinder einfach nicht mit zu unterrichten, da es ja angeblich nicht machbar ist und behauptet wird: "Dafür bin ich nicht ausgebildet." Das ist nicht okay. Wie gesagt, gemobbt wird sowieso, ob nun behindert oder nicht. Ich denke, da muss der Gesetzgeber ran. Wir müssen Schulen natürlich besser ausstatten mit Personal, mit Ressourcen. Wir müssen die Schule reparieren. Nicht die Kinder.

Ich glaube, es ist schwer, diese gewöhnliche Denkart aus den Köpfen rauszukriegen.

Wir müssen Barrieren in den Köpfen senken, wir müssen Vorurteile abbauen. Wenn man die Leute befragt, dann sagt ja niemand: Behinderte Menschen haben kein Recht auf Bildung. Das sagt kein Mensch. Wir müssen nur klären, wie das konkret funktionieren kann. Was schließt eigentlich grundsätzlich Menschen aus? Es ist zum Beispiel die Armut, in der viele behinderte Menschen leben, die auch ausschließt. Oder bauliche Barrieren. Bürokratie. Und das Einzige, was wir wirklich machen können, um das zu ändern, ist, Begegnungen zu schaffen. Und wo, wenn nicht im Kindergarten bereits damit anfangen?

Mit Raúl Krauthausen sprach Sabine Oelmann

Quelle: ntv.de

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