Panorama

Verstörender Fall in Attendorn Weggesperrtes Mädchen von Außenwelt "überwältigt"

Das Haus mit den hübschen Geranien am Fenster konnte das Kind jahrelang nicht verlassen.

Das Haus mit den hübschen Geranien am Fenster konnte das Kind jahrelang nicht verlassen.

(Foto: dpa)

Ein Kind, das die bisherigen acht Jahre seines Lebens fast ausschließlich im Haus verbringt, mit den immer selben Menschen, der Mutter und den Großeltern. Der Fall, dem die Behörden in Attendorn im Sauerland auf die Spur gekommen sind, lässt viele fassungslos zurück. Wie konnte es dazu kommen und warum merkte niemand etwas?

Wie wurde der Fall aufgedeckt?

Anzeichen dafür, dass in der Familie etwas im Argen liegt, gab es schon länger. Die Mutter des Mädchens hatte demnach 2015 beim Familiengericht versucht, das alleinige Sorgerecht für das Kind zu bekommen. Als ihr das nicht gelang, teilte sie den Behörden mit, dass sie mit ihrer Tochter nach Italien zu Verwandten gezogen sei. Schon vor zwei Jahren und noch einmal vor einem Jahr gab es Hinweise, dass Mutter und Tochter jedoch keineswegs in Italien lebten, sondern sich immer noch in Attendorn aufhielten. Doch die Großeltern bestritten das bei Besuchen des Jugendamtes, verweigerten aber auch den Zutritt zum Haus.

Im Sommer dieses Jahres suchte dann ein Ehepaar aus dem Umfeld der Familie in Italien nach den beiden und fand sie nicht. Daraufhin stellten die deutschen Behörden ein Amtshilfeersuchen an ihre italienischen Kollegen. Am 12. September kam die Information, dass Mutter und Tochter nie in Italien gelebt hatten. Am 23. September bestellte das Familiengericht das Jugendamt zum Ergänzungspfleger, kurz darauf durchsuchten Polizei und Jugendamt das Haus der Großeltern und fanden das Kind. Publik hatte den Fall schließlich der Vater am vergangenen Samstag gemacht.

Was sagen die Mutter und die Großeltern?

Sie verweigern bisher jede Aussage zu den Geschehnissen. Deshalb liegt auch das Motiv für die Isolation des Kindes noch weitgehend im Dunkeln. Vermutet wird, dass die Mutter den Umgang mit dem - getrennt von den beiden lebenden - Vater vermeiden wollte. Die Staatsanwaltschaft Siegen steht jedoch nach eigenen Angaben noch immer am Anfang der Ermittlungen. Gegen die drei Angehörigen wird wegen Freiheitsberaubung und Misshandlung Schutzbefohlener ermittelt. Noch werden auch Zeugen befragt.

Wusste der Vater von den Vorgängen?

Der Staatsanwaltschaft zufolge gibt es aktuell keinen Verdacht gegen den Vater des Kindes. Die Staatsanwaltschaft gehe davon aus, dass er sicher war, dass Mutter und Kind in Italien waren. Auch hier soll es aber weitere Ermittlungen geben.

Was weiß man über die Lebensumstände des Kindes?

Die Behörden haben keine Hinweise gefunden, dass das Mädchen körperlich misshandelt wurde. Auch war es gut ernährt. Insgesamt gehe es dem Kind "den Umständen entsprechend gut", sagte Oberstaatsanwalt Patrick Baron von Grotthuss dem WDR. Trotzdem waren seine Lebensumstände in den vergangenen Jahren sicher bedrückend. Es wurde komplett von der Außenwelt abgeschirmt. Noch nie zuvor habe es eine Wiese oder einen Wald gesehen oder in einem Auto gesessen, sagte das Kind der FAZ zufolge den Ärzten. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass Mutter und Großeltern dem Mädchen fast sieben Jahre lang nicht ermöglicht hatten, "am Leben teilzunehmen". Es hat nie eine Kita besucht, auch keine Schule und kennt nicht das Spielen mit anderen Kindern.

Wie geht es dem Mädchen jetzt?

Seit der Inobhutnahme ist die Achtjährige in einer Pflegefamilie. Der zuständige Fachbereichsleiter des Jugendamts Olpe, Michael Färber, berichtete im ntv-Interview, dass das Kind dort jegliche Unterstützung bekomme und auch ärztliche Untersuchungen durchlaufe. Bisher gebe es "keine großen Auffälligkeiten". "Es kann lesen, schreiben und rechnen, obwohl es ja nachweislich keinen Kindergarten und keine Schule besucht hat", sagte Färber. Sie könne das alles nur von der Mutter oder den Großeltern gelernt haben. Ungewohnt sei hingegen noch das Treppensteigen.

Wie hat das Kind auf die Befreiung reagiert?

Der FAZ zufolge war das Mädchen überwältigt und erleichtert, als es zum ersten Mal das Haus seiner Großeltern verlassen konnte. "Sie hat es positiv aufgenommen", sagte Färber über diesen Moment. In ihrem Leben habe sie ja viele Dinge, die für andere selbstverständlich sein, noch nie gesehen. "Das hat ihr ganz neue Sichtweisen geliefert."

Was hat diese Abschottung mit dem Kind gemacht?

"Für das Kind steht jetzt die Welt kopf. Es wird sich fühlen wie auf einem anderen Planeten", meint Nicole Vergin vom Kinderschutzbund NRW. Grundbedürfnisse des Mädchens und grundlegende Kinderrechte auf Bildung, Spielen oder soziale Kontakte seien missachtet worden. Das werde Auswirkungen auf die mentale, psychische und motorische Entwicklung haben.

Wie geht es jetzt weiter?

Die Mutter und die Großeltern dürfen derzeit keinen Kontakt zu der Achtjährigen haben. Es gebe aber Überlegungen, wie man in der Sache weiter verfahre. Im Mittelpunkt stehe die Frage: "Was will das Kind?", so Färber. Ziel ist es, das Kind auf dem Weg in ein normales Leben behutsam zu begleiten. Es gehe nicht darum, dass das Kind nun rasch Defizite aufhole, sondern es müsse zuallererst seelisch stabilisiert werden, betonte Sozialpädagogin Sabine Müller-Kolodziej vom Kinderschutzbund.

Wird der Fall Konsequenzen bei den zuständigen Behörden haben?

Der Kreis Olpe teilte bereits am Sonntag mit, dass alle "verfahrensbezogenen Vorgänge im eigenen Haus" im Zusammenhang mit dem Fall geprüft werden, auch die Arbeit des Jugendamtes. Die Staatsanwaltschaft will aufklären, wieso nicht früher etwas passierte, so Grotthuss. Im Zentrum der Überlegungen steht die Frage, warum nicht früher eine Nachfrage bei den italienischen Behörden erfolgte, obwohl der Vater sein Sorgerecht nicht wahrnehmen konnte.

Unklar ist auch, warum es bei den vorherigen Hinweisen keine Handhabe gab, genauer nachzuschauen. Jugendamtschef Färber hatte gesagt, man sei den beiden anonymen Hinweisen sofort nachgegangen. Es habe aber keine "stichhaltigen Hinweise oder konkreten Anhaltspunkte" gegeben, dass sich das Mädchen im Haus der Großeltern aufhielt. Man habe daher keine rechtliche Möglichkeit gehabt, das Haus zu betreten - das sei auch die damalige Einschätzung der Polizei gewesen. "Wir müssen auch beleuchten, ob das Jugendamt alles Notwendige getan hat, um den Fall aufzudecken", erläuterte Oberstaatsanwalt Grotthuss. Es stelle sich "zwangsläufig die Frage, ob das Kind nicht früher hätte gefunden werden können". Normalerweise wisse man auf dem Dorf schnell, wer bei den Nachbarn ein und aus gehe. Es sei erstaunlich, dass das Kind so viele Jahre nicht gesehen worden sei - und zugleich ein Hinweis darauf, dass die Beschuldigten "sehr geheim und sehr sorgfältig" vorgegangen seien.

(Dieser Artikel wurde am Dienstag, 08. November 2022 erstmals veröffentlicht.)

Quelle: ntv.de, sba

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