Panorama

Haftentlassung nach Jahrzehnten Welche Schwierigkeiten Debra Milke meistern muss

Mutter Renate Janka und ihre Tochter Debra Milke können ihr Glück kaum fassen.

Mutter Renate Janka und ihre Tochter Debra Milke können ihr Glück kaum fassen.

(Foto: dpa)

24 Jahre lang saß Debra Milke in einer US-Todeszelle. Zurück in der Freiheit muss sie vieles neu lernen. Das ist schwieriger, als man denken könnte.

Mehr als 20 Jahre hat Debra Milke im Frauengefängnis von Perryville im US-Bundesstaat Arizona gesessen. Die meiste Zeit davon verbrachte sie in der Todeszelle. Alles, worauf sie warten konnte, war eines Tages über ihren Hinrichtungstermin informiert zu werden. Denn Milke wurde im Januar 1991 wegen Anstiftung zum Mord an ihrem vierjährigen Sohn Christopher zum Tode verurteilt. Der Junge war 1989 in der Wüste von Arizona ermordet worden.

Doch nach 24 Jahren öffneten sich überraschend die Gefängnistore. Ein Berufungsgericht hatte das Urteil aufgehoben, weil es fast ausschließlich auf einem Geständnis basierte, von dem Milke bestreitet, dass sie es je abgelegt hat. Bis zu einem neuen Hauptverfahren ist Milke frei. Die 49-Jährige soll geweint haben, als sie es erfuhr. Noch am selben Tag konnte sie das Gefängnis verlassen.

"Ich bin davon so überwältigt, ich weiß nicht, wie ich darauf reagieren soll", sagte Milke ihrem Anwalt. Oft sind die Haftentlassenen ohne jede Orientierung. Manche haben in der Haft regelrecht den Bezug zur Außenwelt verloren, zumal wenn der Kontakt mit der Familie abbricht. Diese komplette Überforderung, wenn nach Jahren der Haft plötzlich ein Leben in Freiheit ansteht, kennt Ingo Kochanowski nur zu gut. Kochanowski ist Bewährungshelfer in Leverkusen, er kümmert sich seit 12 Jahren um Strafentlassene. Manchmal haben seine Probanden insgesamt beinahe 30 Jahre hinter Gittern verbracht.

Die ungewohnte Freiheit

Milke kam 1990 als junge Frau ins Gefängnis, heute ist sie fast 50.

Milke kam 1990 als junge Frau ins Gefängnis, heute ist sie fast 50.

(Foto: AP)

"Die größte Herausforderung ist sicher, sich wieder an die Freiheit zu gewöhnen", erzählt er im Gespräch mit n-tv.de. Die Tage in der Justizvollzugsanstalt seien immer gleich strukturiert. "Wecken, es folgt die Frühstücksausgabe, dann gehen die Inhaftierten ihrer Arbeit nach, wenn sie welche haben, Rückkehr, Umschluss, Sport, Duschen, Abendessen, Einschluss." Die Häftlinge haben zum Teil Jahre in dieser Routine verbracht. "Wenn diese Struktur auf einmal wegfällt, dann müssen die Leute damit erst einmal klarkommen."

Zwar können die Medien einen Teil der Wirklichkeit auch in die Haft hinein vermitteln, doch je mehr Zeit vergeht, desto unwirklicher wird das. Die geistige Distanz zum normalen Leben wird mit der Dauer der Haft immer größer. Während Altersgenossen heiraten, Kinder bekommen, Jobs annehmen oder wechseln, scheint die Zeit in der Haft irgendwie eingefroren.

Hinzu kommt, dass die Ex-Häftlinge schon unmittelbar nach der Haftentlassung zahlreiche Behördengänge erledigen müssen. Im günstigsten Fall gibt es eine Phase, in der sie darauf vorbereitet werden. Kochanowski versucht dann, mit seinen Probanden eine Art Checkliste zu erstellen. "Was habe ich wann zu absolvieren, was hat Priorität? Wo bekomme ich Hilfe und Unterstützung her?" Allerdings erlebt er oft, dass Mithäftlinge bei den Entlassungskandidaten gewollt oder ungewollt Ängste schüren. "Immerzu erzählt jemand, was alles passieren kann, und die Häftlinge hören unheimlich auf diese 'Buschtrommeln'", sagt Kochanowski. Dementsprechend schwer ist es für sie, nach Jahren der unerwünschten Eigeninitiative wieder Verantwortung für das tägliche Leben und die eigene Zukunft zu übernehmen.

Bedürfnis nach Ruhe

Debra Milke war nach ihrer Freilassung "überwältigt und glücklich" gleichermaßen, wie ihre Anwältin Lori Voepel erzählt. Die Weiten außerhalb der Gefängnismauern, das Gehen ohne Ketten, das Tragen eigener Kleidung - der Grat zwischen Befreiung und Überforderung ist schmal. In all den Jahren seiner Arbeit hat Ingo Kochanowski immer wieder erlebt, dass sich die Haftentlassenen, so wie Milke auch, erst einmal zurückziehen. "Wenn sie Familie haben, ziehen sie sich dahin zurück. Sie besuchen ihre Verwandten. Ich habe sehr selten erlebt, dass sie sich gleich ins volle Leben stürzen, die suchen vor allem Ruhe." Für ihn ist das eine ganz logische Folge der Haftjahre, in denen nur die Zelle als Rückzugsort blieb. "Diese Tendenzen behalten sie auch in Freiheit."

Auch Milke zieht es nicht hinaus. Die ersten Stunden in Freiheit verbrachte sie mit ihren engsten Freunden und Vertrauten - nach über 22 Jahren konnten sich Mutter und Tochter erstmals wieder umarmen. Ihre Anwältin spricht von einem sehr langsamen und behutsamen Weg. Milke werde zunächst viel Zeit in der Wohnung verbringen, auch die Wahl der Kleidung und der Speisen bleibe zunächst beschränkt. Es sind kleine Schritte zur Wiedereingewöhnung in die wirkliche Welt. Doch nicht immer spielt die Seele dabei mit.

Kochanowskis Probanden berichten, dass sie regelmäßig Alpträume haben. "Da spielt die Geräuschkulisse eine große Rolle, der klassische Schlüssel, der in den Schlössern umgedreht wird. Wieder und wieder." Manche der früheren Häftlinge vermissen den nachhallenden Klang und finden kaum Ruhe. Andere erleben ihn in ihren Träumen immer auf's Neue und erwachen schweißgebadet. In den Jahren der Haft ist dieses Geräusch ebenso wie das ständige laute Rufen der Häftlinge untereinander zum normalen Hintergrundrauschen des eigenen Lebens geworden. So nervig es war, nun fehlt es. Wer lange im Gefängnis war, kommt nur selten ohne therapeutische Hilfe klar, meint Kochanowski. Ob nur zehn Sitzungen oder jahrelange Begleitung sei egal, er empfehle in jedem Fall den Gang zum Psychologen.

Dagegen erscheint die Weiterentwicklung der Technik als geradezu kleines Problem. Milke soll sich fasziniert über die heutige Technologie geäußert haben. Als sie verhaftet wurde, gab es noch nicht einmal Handys, in Deutschland war gerade erst die Mauer gefallen. Nun wurde sie mit iPads, iPhones, Touchscreens und einer komplett vernetzten Welt konfrontiert. So banal das erscheint, Kochanowski erlebt immer wieder, dass das wichtige Dinge für seine Probanden sind. Einer seiner Schützlinge werde demnächst möglicherweise nach 25 Jahren entlassen. Zur Vorbereitung besuchte er unter Aufsicht mit seiner Familie ein Restaurant. Erstaunt berichtete er, dass die Rechnung mit EC-Karte bezahlt wurde. "Das war unglaublich für ihn."

Debra Milke muss nach der Freilassung eine elektronische Fußfessel tragen und zwischen 21 und 6 Uhr im Haus bleiben. Zu ihrem Ex-Mann darf sie keinen Kontakt aufnehmen, Alkohol ist tabu. Bis zum Beginn des neuen Prozesses am 30. September soll Milke in einer von Unterstützern bereitgestellten Wohnung leben. Es ist eine kleine Freiheit und schon die ist kaum auszuhalten.

Quelle: ntv.de

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