Favela "Vila Cruzeiro" in Rio Wo Drogenbosse das Sagen haben
14.09.2009, 08:49 UhrDie Polizei traut sich nur mit Spezialeinheiten in den Bezirk Cruzeiro von Rio de Janeiro. Zu Recht, denn Schießereien sind an der Tagesordnung.

Rund 30.000 Einwohner hören auf die Mafia und nicht auf die örtliche Polizei.
(Foto: dpa)
Für die Polizei ist Vila Cruzeiro tabu. In die verhältnismäßig kleine Favela in Rio de Janeiro traut sie sich höchstens mit Spezialeinheiten und gepanzerten Fahrzeugen. Es herrschen eigene Gesetze in Cruzeiro, und die werden vom "Comando Vermelho", dem Roten Kommando, gemacht. Die Drogenbosse verfügen über eine Armee mit modernsten Waffen - von Schnellfeuergewehren bis zur Stinger-Rakete. Es ist eine Parallel-Welt, von der Rio-Touristen nur am Rande etwas mitbekommen - oder aus der Luft beim Anflug auf die "Cidade Maravilhosa", die Wunderbare Stadt.
Unten in Vila Cruzeiro sind die rund 30.000 Einwohner unter sich. Im Labyrinth der verwinkelten Gassen und Treppen finden nur sie den Weg. Die wenigen Straßen sind meist voll mit Autos, Bussen und zahllosen Mopeds. Wenn aber ein Roll-Kommando der Polizei die Favela stürmt, leeren sich die Straßen in Sekundenschnelle. Es folgen stundenlange Feuergefechte zwischen der Spezialeinheit BOPE und der Drogen-Mafia, wie sie etwa im brasilianischen Film "Tropa de Elite" in den Kinos zu sehen sind. Erst im April kamen in Cruzeiro bei einem solchen Einsatz neun Menschen ums Leben, sechs wurden verletzt.
Auch Kinder werden rekrutiert
An der kleinen Fußball-Kneipe an der Hauptstraße Estrada José Rucas ist von der Bedrohung wenig zu spüren. Bier fließt in Strömen, Marihuana-Rauchschwaden ziehen durch die kleine Kneipe, die zur Straße hin offen ist. Keiner stört sich an den vorbeiknatternden Motorradpatrouillen des "Comando Vermelho". Fahrer und Beifahrer haben schwere Maschinenpistolen geschultert und demonstrieren, wer die Macht im Viertel hat. Die Bandenmitglieder schauen grimmig drein und haben keinen Blick für das Fußballspiel zwischen den Clubs Colina und Fim do Mundo, die im Finalturnier verbissen um den Pokal von Cruzeiro kämpfen.
Die Drogen-Armeen rekrutieren auch Kinder und Jugendliche. "14.000 Kindersoldaten gibt es in den Favelas von Rio", schätzt Nanco von Buuren, der mit seiner Nichtregierungsorganisation IBISS versucht, Aussteigern möglichst im Einvernehmen mit dem Banden den Weg in eine bessere Zukunft zu weisen. Viele der Kindersoldaten sind erst zehn oder zwölf Jahre alt, wenn sie die Waffe in die Hand nehmen - und haben dann oft schon die Hälfte ihres Lebens hinter sich. "81 Prozent der acht- bis 18-jährigen Soldados werden nicht älter als 21 Jahre", sagt der Holländer van Buuren.
Adriano einer von ihnen
In der kleinen Kneipe dröhnt Funk-Musik aus den Lautsprechern. Es wird geschwatzt und gelacht und geschimpft. "Kommt die Polizei, beginnt sofort die Schießerei", sagt Hércules, ein Mann mit beeindruckendem Bauch, der die Bürgervereinigungen im Complexo da Penha, zu dem auch Cruzeiro gehört, koordiniert. Kriminalität unter den Bewohner gibt es kaum, versichert er. "Wenn du hier stiehlst, bist du tot."
Cruzeiro ist auch die Heimat Adrianos, dem Nationalspieler, Ex-Inter-Mailand-Stürmer und heutigem Star bei Flamengo Rio. Auf ihn sind die Bewohner stolz. "Adriano ist cool. Er gehört zu uns", sagt einer der Fußballfans in der Kneipe, die nur zwei Steinwürfe von Adrianos Haus entfernt liegt. Der Top-Spieler, dessen Vater in der Favela schon mal angeschossen wurde, tauchte im Frühjahr für einige Tage in Cruzeiro ab und traf sich mit alten Kumpels, um mit Bier, sehr viel Bier, seinen Liebeskummer zu ertränken.
Journalist brutal getötet
Die ausgelassene Fußballstimmung an diesem Tag ist trügerisch: Die Favela Cruzeiro ist eine der gewalttätigsten Rios. Mit "Alemães" (Deutschen), wie Verräter im Slang genannt werden, gehen die Drogenbosse nicht zimperlich um. 2002 wurde der brasilianische Journalist Tim Lopes bestialisch ermordet, als er bei verdeckten Filmaufnahmen auffiel. Er wollte in Cruzeiro einen "baile funk" filmen, eine riesige Drogen-Tanz-Party mit minderjährigen Prostituierten. Ein Kamerablinklicht wurde ihm zum Verhängnis, erzählt man.
"Es ist etwas ruhiger geworden", sagt zwar Sandra, eine der Koordinatorinnen, die im Zentrum von IBISS arbeitet, das Theater-, Ballett- oder Capoeira-Gruppen anbietet und mit seinem großen Schwimmbad begehrter Treffpunkt im heißen Sommer ist. "Etwas ruhiger" ist hier allerdings relativ. Sandra legt fünf leere großkalibrige Patronenhülsen auf den Tisch. "Die haben wir gestern gefunden." Schüsse waren und sind nichts Außergewöhnliches in Cruzeiro - ebenso wenig wie in vielen anderen der rund 900 Favelas von Rio.
Quelle: ntv.de, Helmut Reuter, dpa