Ein Augenzeuge berichtet "So was habe ich zum ersten Mal erlebt"
11.03.2011, 11:52 Uhr
Eine Chemieanlage brennt.
(Foto: dpa)
Der deutsche Professor Reinhard Zöllner hat das verheerende Erdbeben in Tokio hautnah erlebt. Bei n-tv spricht er über den Moment des Bebens, Nachbeben und die Folgen für Japan.
n-tv: Herr Zöllner, was können Sie uns sagen über das Beben selbst und über die Situation in Tokio?
Reinhard Zöllner: Das Beben ist nach allem, was wir wissen, mit einer Magnitude von 8,8 das schwerste seit dem 19. Jahrhundert in Japan. Das heißt, es ist von der Physik her stärker als 1923 das große Erdbeben im Kanto-Gebiet.
Wie haben Sie dieses Beben wahrgenommen?
Ich habe am Computer gesessen und gearbeitet, und dann fing der Fußboden an zu wackeln. Das hatten wir seit ein paar Tagen schon, es war ja in derselben Gegend schon eine Reihe von Erdbeben aufgetreten, kleinerer Art. So dachte ich, es geht sicher vorbei, aber es wurde dann im Laufe von so einer halben Minute etwa immer stärker. Dann fingen die Bücherregale an zu klappern und zu wackeln und die Lampen zu tändeln. Das sind dann die Kennzeichen für ein Erdbeben, das dann doch schon selbst in Tokio in einer beachtlichen Größe angekommen ist.
Da Sie sich viel in Japan aufhalten, erleben Sie sicherlich eben häufiger solche Erdbeben – haben Sie sofort gespürt, dass es sich hier um einen Erdstoß von größerer Tragweite handelt?
Meine japanische Schwiegermutter ist Anfang 70 – sie sagt, so ein Erdbeben hat sie noch nie erlebt in ihrem Leben. Es gibt auch nach wie vor Nachbeben durchaus heftiger Natur, also etwa in der Stärke, wie man sie sonst eigentlich nicht hat. Natürlich gibt es täglich immer wieder mal Erdbeben, aber so was habe ich zum ersten Mal erlebt – nicht nur ich.
Wie ist die Situation im Moment in Tokio? Befinden sich noch viele Menschen vielleicht aus Sorge vor Nachbeben auf den öffentlichen Plätzen und auf den Straßen?
Das nicht, in Tokio ist die Lage stabil. Was im Hafen passiert, kann ich von hier aus nicht beurteilen, ob da eine Flutwelle noch kommt – in einer gewissen Höhe bestimmt. Ansonsten gibt es in Tokio Strom, Gas ist auch wieder da – es war vorübergehend ausgeschaltet worden. Die Menschen sind in ihren Häusern, etliche sind sogar einkaufen gegangen zwischendurch. Das Leben geht in Tokio normal weiter. Aber die Bilder aus dem Nordosten sind natürlich erschreckend. Die Zerstörungen da, vor allem durch die Flutwelle, sind halt schon ungeheuer. Und aus den Bergregionen etwas weiter westlich der Küste werden nach wie vor schwere Nachbeben gemeldet.
Ganz schlimm ist die Situation in der Region rund um Sendai. Was können Sie uns über die Infrastruktur dieser Gebiete sagen?
Sendai ist eine der größten japanischen Städte, sehr stark industrialisiert. Der Ausfall Sendais hat natürlich schon gravierende Folgen für die gesamte Region. Dass da ein paar Felder überschwemmt werden, das ist nicht das Wesentliche. Aber dass die ganze Stadt Sendai und nördlich davon auch weitere wichtige Hafenstädte blockiert werden, das tut schon weh. Flughäfen sind ja im Moment auch nicht benutzbar.
Die Japaner sind ja vorbereitet auf solche Situationen. Es gibt regelmäßige Übungen. Wie gestaltet sich das eigentlich – werden alle paar Wochen oder Monate die Schüler zusammengeholt und die Mitarbeiter in den Betrieben, um an solchen Übungen teilzunehmen?
Es gibt jedes Jahr am 1. September – das ist der Jahrestag des großen Erdbebens von 1923 – landesweit Übungen, auf denen das Notfall-Verhalten geübt wird. Natürlich – die Schulen, die Unternehmen, aber auch die Privathaushalten haben gewisse Notmaßnahmen eigentlich ständig. Helme, Decken, Taschenlampen und so etwas gibt es eigentlich überall, auch Wasservorräte. Um ein konkretes Beispiel von heute zu nennen: Meine kleine Tochter hatte sich mit Freunden an der Schule verabredet, war also nicht bei uns zu Hause, als das Erdbeben passiert ist. Ich habe sie dann, nachdem das vorbei war, abgeholt und sah, dass alle Kinder von den noch verbliebenen Lehren – es war kurz vor vier – auf den Schulhof geführt wurden und dort sehr diszipliniert in Gruppen gewartet haben, bis die Erziehungsberechtigten gekommen sind, um sie abzuholen. Also, das ist sehr routiniert, und Sie sehen ja auch, dass sofort Hubschrauber aufgestiegen sind, dass also sofort das ganze Netzwerk von Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen erst mal angelaufen ist. Von Hilfsmaßnahmen kann man ja noch gar nicht reden.
Werden die Behörden des Landes, die Rettungsgesellschaften, die Rettungsmannschaften noch Wochen und Monate hier zu tun haben?
Es läuft ja alles schon an. Ich sehe gerade im Fernsehen Bilder von Notunterkünften. Die Menschen, die ihre Wohnungen verloren haben oder evakuiert wurden, sind jetzt in Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen zusammengezogen, werden dort versorgt. Alle haben Winterkleidung. Es ist ja Gott sei Dank nicht mitten in der Nacht passiert. Jetzt bricht die Nacht herein, jetzt wird es natürlich schwieriger, direkt irgendwie einzugreifen. Von Aufräumen kann noch gar keine Rede sein. Wir rechnen immer noch mit hohen Flutwellen. Das wird sicherlich noch morgen so weitergehen, bis das alles vorbei ist, und dann beginnt das Aufräumen. Es sind offensichtlich Menschen verschüttet worden. Auch in den Bergen muss man mit Erdrutschen rechnen. Bis man ein Bild des Schadens bekommen hat und zuverlässig sagen kann, wie lange es dauert, das zu beseitigen, das wird sicher eine Woche schon dauern. Es ist eben ungewöhnlich ausgedehnt, das muss man dazusagen. Die Flutwellen reichen von Hokkaido bis runter nach Kyushu, das sind 300 Kilometer.
Quelle: ntv.de