Kämpfe um Masar-i-Scharif AKK rechtfertigt Afghanistan-Abzug
09.08.2021, 15:48 Uhr
Nach dem Abzug der NATO aus Afghanistan sind die Taliban militärisch auf dem Vormarsch, die Schreckensmeldungen häufen sich. Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer glaubt dennoch, dass der Abzug der Bundeswehr richtig war. Für einen neuen Einsatz sieht das Ministerium keine Mehrheiten.
Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer hat den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan verteidigt. Die Meldungen aus Kundus und ganz Afghanistan seien bitter und täten weh, schrieb die CDU-Politikerin in einer Serie von Tweets. "Die aktuelle Lage in Afghanistan stellt die Frage nach dem 'Warum' noch drängender und geht einher mit dem Wunsch, die Taliban zu stoppen."
Die Bundeswehr habe aber in Afghanistan alle Aufträge erfüllt, die ihr der Bundestag gegeben habe. Erreicht worden sei, dass von der Extremistengruppe Al-Kaida von Afghanistan aus keine Gefahr mehr ausgehe. Zudem habe eine ganze Generation von Afghanen bessere Chancen. Dies gelte vor allem für Frauen und Mädchen, die jetzt Zugang zu Bildung hätten. Nun gehe es um humanitäre Hilfe für das Land und die Ausbildung und Unterstützung des Aufbaus "effektiver Staatlichkeit", so Kramp-Karrenbauer. Zugleich fordert sie, dass sich die Bundesregierung um die sogenannten Ortskräfte kümmern müsse, von denen 1700 bereits in Deutschland seien.
Am Sonntag hatte der CDU-Politiker Norbert Röttgen gesagt, der militärische Durchmarsch der Taliban müsse verhindert werden, notfalls auch unter neuerlicher Beteiligung der Bundeswehr. Dazu sagte die Ministerin: Wer einen neuen Einsatz der Bundeswehr wolle, müsse die Frage stellen, ob die deutsche Gesellschaft und der Bundestag bereit seien, "in Afghanistan wieder hart in eine militärische Auseinandersetzung zu gehen".
Die Taliban hatten Afghanistan von 1996 bis zu ihrem Sturz durch die US-geführten Truppen 2001 beherrscht und die Menschenrechte massiv beschnitten. Nun droht dies erneut. Das Bundesverteidigungsministerium wies in einer Stellungnahme Überlegungen zu einem neuen Bundeswehreinsatz in Afghanistan zurück. Es sei "nicht erkennbar", dass es dafür eine politische Mehrheit in Deutschland gebe, sagte Ministeriumssprecher Arne Collatz in Berlin. "Deswegen gehe ich nicht davon aus, dass wir einen Monat nach dem Abzug der deutschen Kräfte darüber nachdenken sollten, wieder in einen Kampfeinsatz dort hineinzugehen."
Regierungstruppen kämpfen um Kundus
Einen Tag nach der Eroberung der strategisch wichtigen Stadt Kundus durch die Taliban starteten afghanische Kommandoeinheiten einen Gegenangriff. Ziel sei, die Aufständischen aus der Provinzhauptstadt zu vertreiben, sagte ein Vertreter der Sicherheitskräfte. Zahlreiche Familien, darunter kleine Kinder und Schwangere, flohen vor der Gewalt aus der im Norden gelegenen Stadt. Auch aus anderen Landesteilen wurden teils heftige Kämpfe gemeldet. Allein in den Provinzen Kandahar, Chost und Pakria wurden dabei nach Unicef-Angaben in den vergangenen drei Tagen mindestens 27 Kinder getötet und 136 weitere verletzt. "Die Gräueltaten werden von Tag zu Tag schlimmer", erklärte der bei dem UN-Kinderhilfswerk für Afghanistan zuständige Repräsentant Hervé Ludovic De Lys.
Seit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen bringen die Taliban nach und nach immer mehr Gebiete in Afghanistan unter ihre Kontrolle. Am Wochenende nahmen sie mindestens drei Provinzhauptstädte im Norden ein, darunter Kundus, in dessen Nähe jahrelang Bundeswehr-Soldaten stationiert waren. Anwohner berichteten von Explosionen und ununterbrochenen Schusswechseln. Die Kämpfe seien nicht einmal für zehn Minuten unterbrochen worden.
Viele der Menschen, die vor der Gewalt flohen, wollten in die mehr als 300 Kilometer entfernte Hauptstadt Kabul gelangen. Es sei das Beste, Kundus zu verlassen, bis feststehe, ob dort künftig die afghanische Regierung oder die Taliban das Sagen hätten, sagte ein Ingenieur, der versuchte, für seine Familie eine Busfahrt zu organisieren. "Vielleicht müssen wir bis Kabul laufen, aber wir wissen nicht, ob wir womöglich unterwegs getötet werden."
Taliban melden Vorstoß im Ex-Bundeswehr-Standort Masar-i-Scharif
Auch aus der Umgebung von Herat im Westen wurden heftige Kämpfe gemeldet. Der Leiter einer Klinik in der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz sagte, in den vergangenen elf Tagen seien 36 Menschen getötet worden, darunter Frauen und Kinder. 220 Menschen seien verletzt worden, über die Hälfte von ihnen seien Zivilisten. Das südlichen Laschkar Gah wurde derweil nach Angaben von Sicherheitsbeamten von einer lauten Explosion erschüttert.
In Kabul wiederum brachten mutmaßliche Taliban-Extremisten am Sonntag nach Angaben von Behördenvertretern gezielt den Leiter eines Radiosenders um. In der südlichen Provinz Helmand sei zudem ein Lokaljournalist von den Taliban entführt worden. Ein Taliban-Sprecher sagte, ihm lägen zu beiden Fällen keine Informationen vor. Am Sonntag war von den Taliban in Kabul ein Pilot der afghanischen Luftwaffe getötet worden, der in Zivil unterwegs war.
Die Islamisten meldeten derweil weitere Geländegewinne. Laut einem Taliban-Sprecher rückten Kämpfer auf Masar-i-Scharif vor, den langjährigen Stützpunkt der Bundeswehr und der größten Stadt im Norden Afghanistans. In Masar-i-Scharif befand sich während des internationalen Kampfeinsatzes in Afghanistan das größte Feldlager der Bundeswehr. Erst Ende Juni waren die letzten Bundeswehrsoldaten von dort nach Deutschland zurückgekehrt. Ein Taliban-Sprecher erklärte, die Kämpfer seien bereits in die Stadt eingedrungen. Behördenvertreter und Bewohner bestritten dies jedoch. Demnach begrenzten sich die Gefechte auf die umliegenden Bezirke. "Der Feind versucht, durch seine Propaganda die öffentliche Meinung zu verfälschen und die Zivilbevölkerung in Angst zu versetzen", erklärte die Provinzpolizei der Hauptstadt Balch.
Quelle: ntv.de, mau/rts/AFP/dpa