"Ein Desaster nach dem anderen" Aschraf al-Kudra zählt die Opfer
04.08.2014, 14:28 Uhr
Ganze Straßenzüge wurden durch die israelischen Angriffe ausgebombt. Viele Menschen haben alles verloren.
(Foto: REUTERS)
"Unsere Statistiken sind akkurat und objektiv", sagt Aschraf al-Kudra. Er führt die palästinensischen Opferlisten im aktuellen Gaza-Krieg. Es ist eine Aufgabe, die ihm alles abverlangt. 700 Telefonate führt er am Tag - meist geht es um neue Tote.
Ständig klingeln die Telefone im engen Büro von Aschraf al-Kudra im Schifa-Hospital. Fast alle Anrufer melden neue Opfer der israelischen Militäroffensive im Gazastreifen, deren eigentliches Ziel die Beendigung der Raketenangriffe durch islamistische Gruppen ist. Mit insgesamt über 1800 Toten und mehr als 9000 Verletzten in vier Wochen ist die Opferstatistik für den Sprecher der örtlichen Rettungsdienste zur Vollzeitbeschäftigung geworden.

Dieses Mädchen hat einen Luftschlag in Rafah überlebt. Es wird von Helfern abtransportiert.
(Foto: AP)
Seit der israelische Einsatz am 8. Juli begann, hat Kudra nachts meist nur zwei Stunden am Stück auf einer Matratze im Büro schlafen können, weil seine Mitarbeiter ihm rund um die Uhr Angaben zu weiteren Kriegsopfern liefern und die Medien ständig nach den letzten Zahlen fragen.
Er hat sich kurz hingelegt, als ein Mitarbeiter wieder die so dringend benötigte Siesta unterbricht. "Doktor Kudra, es gibt viele Tote und Verletzte beim Bombardement des Schuhada-Krankenhauses in Chan Junis", ruft ein atemloser Assistent, der die Tür aufreißt.
"Ein Desaster nach dem anderen"
Kudra ruft das Krankenhaus an, notiert die Opfernamen und den Verbleib der Verwundeten. "Kein Ort hier ist sicher vor den israelischen Bomben", schimpft der großgewachsene Mann mit dem akkurat gestutzten Bart, der seit vier Jahren im Amt ist. "Auch hier sind wir nicht sicher", sagt er und schaut aus dem Fenster, wo Krankenwagen gerade neue Verletzte einliefern. "Unser Feind ist wahnsinnig, ein Desaster nach dem anderen", murmelt Kudra.
Die Statistiken des UN-Nothilfekoordinators belegen, dass rund 70 Prozent der Toten Zivilisten waren, darunter nach aktuellem Stand 377 Kinder. Nach UN-Angaben wurden auch 18 Krankenhäuser, Tageskliniken und Gesundheitszentren von Bomben oder Artilleriefeuer getroffen.
Das Telefon auf dem Schreibtisch bimmelt erneut. Unter den fünf Toten und 70 Verletzten in Schuhada seien auch Ärzte und Sanitäter, erfährt Kudra. Gleich danach klingelt das Handy. Diesmal ist es seine Frau. Ein seltenes Lächeln huscht über das Gesicht des 41-Jährigen. Er fragt, was die vier Kinder machen und versichert, bei ihm sei alles in Ordnung. Nur einmal hat er seine Familie in den letzten Wochen gesehen. "Ich vermisse sie sehr", seufzt Kudra.
"Glaube fest an meine humanitäre Berufung"
Wie alle Bewohner des Gazastreifens hat er große Probleme, sie finanziell durchzubringen. Trotz seiner wichtigen Arbeit hat der frisch approbierte Arzt seit Monaten kein Gehalt bekommen. Bis Anfang Juni war er Sprecher des von der Hamas eingesetzten Gesundheitsministeriums in Gaza. Doch die Hamas konnte die Beschäftigten im Öffentlichen Dienst nicht mehr bezahlen und gab vor zwei Monaten die Regierungsverantwortung an die Autonomiebehörde in Ramallah ab.
Kudra sieht sich nicht als Hamas-Gefolgsmann, sondern als Diener seines Volkes. "Ich glaube fest an meine humanitäre Berufung und wurde deshalb erst Krankenpfleger und nun Arzt", berichtet er. In der Sprecherfunktion führt er täglich rund 700 Telefonate. Abend für Abend gibt er bei einer Pressekonferenz im Schifa-Hospital, dem größten der sieben Krankenhäuser im Gazastreifen, die neuen Opferzahlen bekannt und liest die Namen der Toten vor.
Schon zuvor hatte Kudra auf Twitter und Facebook auf Arabisch permanent und genau Buch geführt. Für die Berichterstatter aus der Region und aller Welt ist er eine unverzichtbare Informationsquelle. Die Opferzahlen wachsen täglich so rasant, dass niemand anders Schritt halten könnte mit der Schreckensbilanz. Kudra weiß, wie wichtig es deshalb ist, dass er zuverlässige Daten liefert. "Unsere Statistiken sind akkurat und objektiv", versichert er stolz, aber müde.
Quelle: ntv.de, Adel Zaanoun, AFP