Kabinett beschließt Konzept Bergmann soll aufklären
24.03.2010, 13:30 UhrDie Bundesregierung will angesichts der Missbrauchsfälle in katholischen und anderen Einrichtungen zur Aufarbeitung und Vorbeugung beitragen und beschließt ein Konzept, das im Wesentlichen aus zwei Bausteinen besteht. Unabhängige Beauftragte wird die frühere SPD-Familienministerin Bergmann. Ein Runder Tisch soll am 23. April seine Arbeit aufnehmen.

Die SPD-Politikerin Christine Bergmann soll unabhängige Beauftragte der Bundesregierung werden.
(Foto: dpa)
Als Reaktion auf die bekanntgewordenen Fälle sexuellen Missbrauchs hat das Bundeskabinett ein Konzept zur Aufarbeitung und Vorbeugung beschlossen. Es besteht aus zwei Bausteinen: Zum einen wird die frühere Familienministerin Christine Bergmann (SPD) unabhängige Beauftragte, an die sich Missbrauchsopfer wenden können. Zudem wird ein ressortübergreifender Runder Tisch eingesetzt, um die Fälle in katholischen und anderen Einrichtungen aufzuarbeiten und weitere Fälle für die Zukunft zu verhindern. Er soll seine Arbeit am 23. April aufnehmen.
Die unabhängige Beauftragte Christine Bergmann ist 70 Jahre alt. Unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) war sie von 1998 bis 2002 Bundesfamilienministerin. Zuvor war sie Senatorin für Arbeit und Frauen in Berlin. Zudem gehörte sie dem sogenannten Hartz-IV-Ombudsrat an. Das unabhängige Gremium war von der rot-grünen Bundesregierung eingesetzt worden, um die Folgen der Hartz-IV-Reform zu überprüfen. Jetzt soll Bergmann als unabhängige Beauftragte unter anderem Vorschläge für Hilfen für Missbrauchsopfer erarbeiten.
Um den Ansatz zur Aufarbeitung der Missbrauchsfälle hatte es in der Regierung lange Diskussionen gegeben. Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) plädierte Ende Februar zunächst für einen eigenen Runden Tisch zur strafrechtlichen Aufarbeitung der Missbrauchsfälle an Einrichtungen der katholischen Kirche. Die Deutsche Bischofskonferenz lehnte aber eine Debatte allein für die Kirche ab. Nun gibt es einen Runden Tisch, den die Justizministerin, Bildungsministerin Annette Schavan und Familienministerin Kristina Schröder (beide CDU) gemeinsam führen. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte sich für ein gemeinsames Vorgehen eingesetzt.
Zwei Arbeitsgruppen beim Runden Tisch
Zum Runden Tisch gehören zwei Arbeitsgruppen, die sich den Themen Prävention und juristische Aufarbeitung widmen. Den Vorsitz führen hier die Familienministerin beziehungsweise die Justizministerin. Leutheusser-Schnarrenberger will erreichen, dass die katholische Kirche bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch künftig eng mit der Staatsanwaltschaft zusammenarbeitet. Thema der Arbeitsgruppe unter Führung der Justizministerin dürften auch die zivilrechtlichen und strafrechtlichen Verjährungsfristen für Missbrauchsfälle sein.
Entscheidend seien eine frühe Aufklärung von Missbrauchsfällen und eine frühe Zusammenarbeit betroffener Institutionen mit den Staatsanwaltschaften, sagte Leutheusser-Schnarrenberger und bezog sich dabei auch auf die katholische Kirche. Die Leitlinien der deutschen Bischofskonferenz verpflichten die Kirche bisher nur bei einem erhärteten Verdacht und bei nicht verjährten Fällen, die Staatsanwaltschaft einzuschalten.
Bildungsministerin Annette Schavan (CDU) sagte, die Regierung unterstütze alles, was zur Aufdeckung, Aufklärung und Aufarbeitung von Gewalt und sexuellem Missbrauch gegenüber Kindern und Jugendlichen beitrage.
Harsche Kritik von den Grünen

Eine Kindsfigur über einem Beichtstuhl in der Basilika Vierzehnheiligen in Bad Staffelstein (Oberfranken) hält eine Tafel mit einem Buß-Psalm.
(Foto: dpa)
Grünen-Fraktionschefin Renate Künast kritisierte die Maßnahmen der Regierung als unzureichend. Sie sagte im ZDF, die unabhängige Beauftragte könne nur "so eine Art Wächteramt" sein. Besser wäre aber eine unabhängige Kommission aus drei Personen. Die Kanzlerin habe sich bei den immer neuen Fällen von Missbrauch in katholischen Institutionen "nicht getraut, wirklich scharfe Worte und klare Worte zu sprechen".
Kritik äußerte Künast auch am Runden Tisch. Es gehe nicht um die konkrete Aufklärung der Fälle. "Es geht um ein allgemeines, diffuses Darüberreden, und zwar in der ganzen Breite des Kindesmissbrauchs."
Ansehen von Papst und Kirche beschädigt
Laut einer "Stern"-Umfrage ist das Vertrauen der Deutschen in den Papst und die katholische Kirche wegen des Missbrauchsskandals dramatisch gesunken. Danach vertrauen nur noch 17 Prozent der Bundesbürger der Kirche und 24 Prozent dem Pontifex. Ende Januar, als die ersten Missbrauchsfälle bekannt geworden waren, hatten nach Forsa-Angaben noch 29 Prozent der Deutschen ungebrochenes Vertrauen in die Kirche, 38 Prozent glaubten damals noch fest an den Heiligen Vater.
Auch unter den Katholiken vertraut nach der Umfrage nur noch eine Minderheit dem Papst. Von Ende Januar bis Mitte März sank die Quote von 62 auf 39 Prozent. Der Kirche schenken mittlerweile nur noch 34 Prozent der Katholiken in Deutschland Vertrauen. Ende Januar waren es noch 56 Prozent. Von den konfessionslosen Deutschen bekundeten laut Forsa nur noch fünf Prozent Vertrauen in die katholische Kirche.
FDP macht eigenen Vorschlag
Die FDP will zur Vorbeugung gegen den Missbrauch von Kindern und Jugendlichen bundesweit staatlich geförderte Beratungsstellen für pädophile Männer einrichten lassen. Der rechtspolitische Sprecher der Fraktion, Christian Ahrendt, verwies in der "Neuen Osnabrücker Zeitung" auf ein Modellprojekt in der Hauptstadt. "Das Berliner Beratungsprojekt 'Kein Täter werden' für pädophile Männer ist ein Erfolgsmodell, das deutschlandweit Schule machen sollte", sagte Ahrendt. Ziel müsse es sein, möglichst in allen Bundesländern Therapieangebote aufzubauen.
Ex-Odenwaldschüler erheben schwere Vorwürfe
Inzwischen haben drei ehemalige Odenwaldschüler neue Anschuldigungen gegen Lehrer der hessischen Vorzeige-Schule erhoben. Der Verlagskaufmann Adrian Koerfer sagte der "Frankfurter Rundschau", er sei von mehreren Lehrern missbraucht worden: "Ich war im Zentrum des Taifuns." Über die Rolle des Reformpädagogen Hartmut von Hentig, der auch der Lebenspartner des ehemaligen Schulleiters Gerold Becker ist, sagte Koerfer: "Ich weiß es und ich beschwöre es vor Gericht: Ein Freund von mir hat bei ihm und Becker übernachtet."
Der Verleger Joachim Unseld sagte der Zeitung: "Das Perverse ist doch, dass das ganze System von großen Pädagogen getragen wurde. Unter dem Deckmantel des besten reformpädagogischen Ansatzes der Bundesrepublik geschah dort das genaue Gegenteil, eine Anti-Pädagogik, nicht Führung, sondern Verführung."
"Was die Kirche und die Odenwaldschule verbindet, ist der Glaube an die eigene Unfehlbarkeit und Genialität", sagte die Journalistin Regina Bappert der "Frankfurter Rundschau". Gleichwohl betonten alle drei, der reformpädagogische Ansatz der Schule sei durch die Übergriffe nicht diskreditiert.
Quelle: ntv.de, dpa