
Eine angemessene Reaktion auf den Mordanschlag auf Nawalny stellt Kanzlerin Merkel in Aussicht - hier mit dem russischen Präsidenten Putin im Januar 2020.
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Kanzlerin Merkel fordert im Fall Nawalny Antworten von Russland - und droht mit einer "angemessenen Reaktion". Schon wird über das Pipeline-Projekt Nord Stream 2 diskutiert, das Merkel immer verteidigt hat. Doch diese Linie bröckelt, die Kanzlerin hat nur zwei schlechte Optionen.
Noch bei ihrer Sommer-Pressekonferenz war Bundeskanzlerin Angela Merkel eindeutig: Eine Verquickung von Nord Stream 2 mit der Vergiftung des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny halte sie "nicht für sachgerecht". Schließlich handle es sich bei der Erdgas-Pipeline um ein "wirtschaftlich getriebenes Projekt". Beides müsse "entkoppelt" und Nord Stream 2 fertiggestellt werden.
Keine Woche später muss sich Merkel erneut zum Fall Nawalny äußern. Nachdem ein Bundeswehrlabor "zweifelsfrei" bewiesen hat, dass der Politiker mit einem chemischen Nervenkampfstoff aus der Nowitschok-Gruppe vergiftet wurde, verurteilt die Kanzlerin die Tat auf das Schärfste und fordert von Russland eine Erklärung. Dann aber sagt sie noch einen entscheidenden Satz: Im Lichte der russischen Einlassungen werde man gemeinsam mit den Partnern "über eine angemessene Reaktion entscheiden".
Was aber ist angemessen gegenüber Russland? Nach der Annexion der Krim hat die EU bereits Sanktionen verhängt, die regelmäßig verlängert werden, den Kreml jedoch nicht zum Einlenken bringen. Internationale Proteste nach dem versuchten Mord an Sergei Skripal in Großbritannien - ebenfalls mit einem Nowitschok-Nervengift - perlten am Kreml ab. Und im Mordfall an einem Exil-Tschetschenen im Kleinen Tiergarten in Berlin sieht der Generalbundesanwalt zwar die russische Regierung als Drahtzieher und klagte einen Russen an - doch vor einem deutschen Gericht wird dieser nicht landen.
Klare Worte findet CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen. Die einzige Sprache, die Putin verstehe, sei Härte, sagt er im Deutschlandfunk. Bereits zuvor sprach er in der ARD von der "menschenverachtenden Realität des Regimes Putin" und bezeichnete die von der Bundesregierung verfolgte strategische Partnerschaft mit Russland als "Träumerei". Die Vollendung von Nord Stream 2 wäre eine "maximale Bestätigung für Wladimir Putin, mit genau dieser Politik fortzusetzen, denn er wird ja dafür sogar noch belohnt".
Merkel in der Zwickmühle
Damit rückt das Pipeline-Projekt in den Fokus der politischen Debatte um den Mordanschlag auf Nawalny. Die Grünen, die schon länger ein Ende des Gas-Projekts fordern, werfen dem Kreml einen "mafiösen Charakter" vor. Eine Konsequenz könnte sein, Nord Stream 2 nicht mehr voranzutreiben, sagt Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt. Selbst die Liberalen schließen diesen Schritt nicht mehr aus, wenn es aus dem Kreml keine "klare und nachvollziehbare Erklärung" gebe. "Ein Regime, das Giftmorde organisiert, das ist nicht ein Gegenüber für große Kooperationsprojekte, auch nicht für Pipelineprojekte", sagt FDP-Chef Christian Lindner der ARD.
Vorsichtiger ist da schon CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. Zwar fordert er im "ntv Frühstart" eine "deutliche Antwort" der EU, bei Nord Stream 2 weicht er jedoch aus: "Es ist jetzt nicht sinnvoll, einzelne Maßnahmen in den Raum zu stellen, sondern wir wollen eine Antwort geben", sagt er. Die Pipeline entsteht zwar unter Führung des russischen Konzerns Gazprom. An dem 9,5 Milliarden Euro schweren Projekt sind aber auch die deutschen Firmen Wintershall und Uniper beteiligt, die britische Royal Dutch Shell, OMV aus Österreich und der französische Konzern Engie.
Der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, warnt zwar vor einem Boykott Russlands und einer Mauer zwischen dem Westen und dem Land. Doch auch er fordert in der ARD eine "angemessene Reaktion" und "klare Kante". Dabei müsse auch Nord Stream 2 auf den Prüfstand: "Wenn wir eine klare Botschaft nach Moskau schicken wollen, dann müssen in der Tat auch Wirtschaftsbeziehungen auf die Tagesordnung. Und das würde bedeuten, dass man tatsächlich [...] Nord Stream 2 nicht außen vorhalten kann." Das sei aber "eine sehr komplexe Frage".
Zwischen diplomatischen Gesten und Totalboykott
Die Ankündigung einer "angemessenen Reaktion" hat Kanzlerin Merkel in eine Zwickmühle gebracht. Ihre Forderung, Moskau müsse zu den "sehr schwerwiegende Fragen" Stellung beziehen, bleibt zahnlos. "Es gibt keinen Grund, den russischen Staat zu beschuldigen", sagt denn auch Kreml-Sprecher Dmitri Peskow. Er warnt den Westen vielmehr vor übereilten Schlussfolgerungen und Sanktionen: "Wir möchten nicht, dass unsere Partner in Deutschland und anderen europäischen Ländern vorschnell urteilen."
Kommt keine bessere Erklärung aus Moskau, muss Merkel das Versprechen einer "angemessenen Reaktion" einlösen. Dann dürfte es schwer werden, einerseits eine gemeinsame und harte Haltung gegenüber Russland zu finden, andererseits aber an Nord Stream 2 festzuhalten. Denn das Projekt ist bei Deutschlands Nachbarn äußerst umstritten. Vor allem Polen kritisierte die Verlegung der Pipeline von Anfang an. Nicht nur, weil dem Land damit Transitgebühren verloren gehen, sondern auch weil Warschau fürchtet, Russland könnte Gaslieferungen als Druckmittel verwenden. Daneben rückte im vergangenen Jahr aber auch Frankreich von dem Vorhaben ab.
Nicht anders sähe es aus, wenn die Nato wie angekündigt über mögliche Folgen beraten will. Denn die USA gehören zu den schärfsten Kritikern des Pipeline-Baus - nicht zuletzt, weil Washington gern sein eigenes Gas nach Europa verkaufen würde. Die Regierung von Präsident Donald Trump hat das Projekt bereits mit Sanktionen belegt sowie weitere Strafmaßnahmen angedroht. Merkel hat diese stets scharf zurückgewiesen. Nun jedoch steht sie zwischen zwei schlechten Optionen: neue Strafmaßnahmen gegen Russland, die den Kreml nicht beeindrucken, oder aber ein Projekt beerdigen, für das sie jahrelang gekämpft hat. Bei den Maßnahmen gegen Russland müsse Deutschland einen Mittelweg zwischen diplomatischen Gesten und einem Totalboykott finden, fordert Ischinger. Leichter gesagt als getan.
Quelle: ntv.de