Volksabstimmung gegen "Masseneinwanderung" Der Schweiz droht die Guillotine
09.02.2014, 08:54 UhrDie rechtspopulistische SVP wirbt seit Monaten für eine Volksinitiative, die Zuwanderung in die Schweiz bremsen soll. Ein Ja birgt existenzielle Gefahren für die Wirtschaft der Eidgenossen.
Schweizer Käse, Schweizer Uhren, Schweizer Messer - die Schweiz ist ein Paradebeispiel für eine Exportnation. Noch. Die Alpenrepublik stellt ihren Erfolg aufs Spiel.
Die Eidgenossen stimmen an diesem Sonntag über eine Volksinitiative "gegen Masseneinwanderung" ab. Entscheiden sie sich mehrheitlich, dem Projekt der rechtspopulistischen SVP zuzustimmen, muss die Regierung in Bern das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU neu verhandeln. Die Schweiz soll die Zuwanderung von Ausländern auch aus EU-Staaten künftig durch Kontingente begrenzen können. Die Schweizer Wirtschaft ist alarmiert: Sie fürchtet nicht nur den Verlust von Fachkräften aus dem Ausland. Sie fürchten auch, dass Brüssel versuchen könnte, den Eidgenossen ihren Alleingang mit der sogenannten Guillotine-Klausel wieder auszutreiben.
Die Schweiz hatte sich 1999 mit der EU auf die "Bilateralen Verträge I" geeinigt. Sie regeln neben dem Abkommen zur Personenfreizügigkeit sechs weitere Abkommen, die heute das Wirtschaften und vor allem den Warenaustausch zwischen der Schweiz und der Staatengemeinschaft erleichtern. Die Vertragspartner strickten den Pakt allerdings so, dass bei Kündigung oder Bruch eines der Abkommen alle entfallen - die Guillotine-Klausel.
Brüssel machte bereits deutlich, dass Änderungen des Abkommens der Personenfreizügigkeit nicht in Frage kommen. Der EU-Botschafter in der Schweiz, Richard Jones, sagte: "Die Personenfreizügigkeit ist ein Schlüsselprinzip der EU, ein Kernelement des Binnenmarktes. Die Idee, die Personenfreizügigkeit neu zu verhandeln, ist vom Tisch." Bei einem Ja zum Volksentscheid droht also ein Bruch des Abkommens und damit die Kündigung des gesamten Vertrags.
Abkommen sind "unverzichtbar"
Etliche Wirtschaftsorganisationen, darunter Economiesuisse, Bauer- und Arbeitgeberverbände, steckten daher schon Millionen in eine Gegenkampagne. Sie wollen auf keinen Fall auf die Fachkräfte aus dem Ausland verzichten. Denn der Mangel in einigen Branchen ist gewaltig. Vier von zehn Assistenz- und Oberarztstellen sind derzeit von Deutschen besetzt. In einer Umfrage des Forschungsinstituts BAK Basel gaben zwei von drei Unternehmen in der Schweiz an, Probleme zu haben, leitende Angestellte zu finden.
Besondere Sorge bereiten der Wirtschaft auch die Abkommen über die "Beseitigung technischer Handelshindernisse" und des "Öffentlichen Beschaffungswesens". In der BAK-Umfrage hält die Mehrheit der Befragten diese Abkommen für "wichtig" oder gar "unverzichtbar". Die beiden Abkommen sorgen unter anderem dafür, dass Schweizer Produkte nach ihrer Zulassung auch ohne größere Hürden in EU-Staaten zugelassen sind. Für einzelne Branche haben auch die anderen Regeln teils existenzielle Bedeutung. Ohne das Abkommen über den "Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen" hätten die Schweizer Käseproduzenten keinen freien Zugang zum europäischen Markt.
Pressekonferenzen, Postkartenaktionen - die Schweizer Wirtschaft und alle anderen relevanten politischen Kräfte außer der SVP verweisen in ihrer Gegenkampagne immer wieder auf die Gefahren. Der Erfolg dieser Maßnahmen blieb zuletzt aber aus. Am 10. Januar unterstützten in Umfragen 37 Prozent der Schweizer die Initiative "gegen Masseneinwanderung". Ende Januar waren es schon 43 Prozent. Der Anteil der Gegner der Initiative schrumpfte im selben Zeitraum von 55 auf 50 Prozent.
Ein Spiel mit der Angst vor Überfremdung
Die SVP konnte vor allem zulegen, weil sie sich die Überfremdungsängste vieler Schweizer zunutze macht. Rund 23 Prozent der acht Millionen Bewohner der Alpenrepublik sind Ausländer. Die rechtspopulistische Partei schürt mit Plakaten, Extrablättern und öffentlichen Auftritten vor allem die Sorge, dass mit den vielen Neulingen in der Schweiz auch ein sozialer Abstieg einhergeht. So würden auch die 300.000 Deutschen, die zweitgrößte Zuwanderungsgruppe in der Schweiz, das Lohnniveau drücken. Wegen all der zusätzlichen Menschen in dem kleinen Land würden zudem Autos die Straßen verstopfen und Neubauten Schweizer "Kulturland" zerstören. Parolen wie "Maßlosigkeit schadet" kommen hinzu und übertönen allzu oft die Argumente der Wirtschaft.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass die SVP reüssiert. Am Ende könnte sich das Ja zum Volksentscheid dann sogar zu einem Problem entwickeln, das weit über die Schweiz hinaus strahlt. Denn abgesehen davon, dass Schweizer Käse, Schweizer Uhren und Schweizer Messer für EU-Bürger wieder teurer werden, droht den Bewohnern der Staatengemeinschaft ein viel größeres Problem: Auch in der EU gibt es Regierungen, die die Personenfreizügigkeit in Frage stellen. Vor allem Großbritannien. Premierminister David Cameron, dessen konservative Partei unter dem Aufstieg der rechtspopulistischen UKIP leidet, würde das Signal aus Bern wohl nur allzu gelegen kommen, um selbst Sonderregeln durchzusetzen. Die Idee und die Ideale der europäischen Personenfreizügigkeit wären damit nur noch bloße Theorie. Obendrein könnte Cameron die Schweiz, die dafür die Verantwortung tragen würde, dann noch zum Dank vor der Brüsseler Guillotine retten. Da im "Bilateralen Vertrag I" nicht geregelt ist, wie eine Kündigung des Paktes mit der Schweiz im Detail abzulaufen hat, gelten laut der Europarechtlerin Christa Tobler dieselben Regeln wie beim Vertragsschluss. Neben dem Parlament müsste auch der Ministerrat zustimmen, alle 28 Regierungschefs der EU-Staaten also - David Cameron inklusive.
Quelle: ntv.de