Politik

Gott, Misstrauen und Revolver Der konservative Putsch des Supreme Courts

"Verbote weg von unseren Körpern": Abtreibungsbefürworterin vor dem Weißen Haus

"Verbote weg von unseren Körpern": Abtreibungsbefürworterin vor dem Weißen Haus

(Foto: REUTERS)

Während die Probleme US-Präsident Biden einkesseln, zeigt sich der Kongress nur eingeschränkt handlungsfähig. Nicht so der Supreme Court, der gesellschaftliche Schlüsselfragen zuletzt im Akkord entschieden hat. Die Amerikaner wenden sich in Scharen von ihrem System ab.

Es dauerte nur wenige Stunden, bis alles anders war. Der Supreme Court der USA hatte grade das allgemeine Recht auf Abtreibung für nichtig erklärt. Der Bundesstaat Ohio setzte ein äußerst strenges Gesetz in Kraft. Ein Abbruch nach mehr als sechs Wochen, wenn manche noch nicht einmal wissen, dass sie überhaupt schwanger sind, ist nun strafbar. Ob die Frau vergewaltigt wurde oder ein Inzestopfer ist – egal. Und wenig später ging der Bericht über ein zehnjähriges Mädchen durch US-Medien, das schwanger geworden war, aber in Ohio plötzlich nicht mehr abtreiben durfte. Ihr Arzt rief in anderen Bundesstaaten an und fand eine Gynäkologin in Indiana, wo der Abbruch durchgeführt werden konnte. Noch, denn auch dort diskutieren die Politiker über ein strengeres Gesetz.

Die Gouverneurin von South Dakota, wo dies schon geschehen ist, beschwerte sich, dass niemand über den Täter rede. US-Präsident Joe Biden zeigte sich völlig entsetzt, ebenso wie Journalisten in einer Vielzahl von US-Medien. Die Zehnjährige ist ein extremer Fall. Aber er ist einer, der zeigt, was der Supreme Court derzeit anrichtet mit Urteilen, die nichts mit der Lebensrealität einer Mehrheit der Bevölkerung zu tun haben. In seiner Urteilsbegründung schrieb einer der Richter, auf der Basis der Begründung müsse auch darüber nachgedacht werden, Verhütung allgemein zu verbieten. Ob jemand verheiratet ist, würde keine Rolle spielen. "In welchem Jahrhundert leben wir?", fragte Biden am Freitag entgeistert.

Das Oberste Gericht soll als oberste Instanz darüber wachen, dass Politiker ihre Gesetze nach Grundregeln der Verfassung gestalten. Doch die neuen Richter entscheiden unter konservativen Prämissen, die höchst umstritten sind. Zuletzt etwa urteilten sie, ob der Trainer einer American Football Mannschaft mit ihr auf dem Platz nach den Partien beten darf, unter Beteiligung der Zuschauer. Denn Spieler der staatlichen Schule sahen sich unter Druck gesetzt, Kritiker sahen die Trennung von Staat und Kirche verwässert.

Zwei der konservativen Richter: Neil Gorsuch und Brett Kavanaugh

Zwei der konservativen Richter: Neil Gorsuch und Brett Kavanaugh

(Foto: AP)

Der Supreme Court urteilte im Sinne des Trainers. Ein bisschen beten, was soll daran so schlimm sein? Die Urteilsbegründung ist zudem höchst umstritten; erstens, weil sie Tatsachen im Sinne des Urteils verzerrt, und zweitens, weil Religion wegen des Gleichbehandlungsprinzips in staatlichen Schulen verboten ist. Bisher. In der linken Zeitschrift "The Nation" hieß es: "In einer Entscheidung voller Lügen entscheidet der Supreme Court, dass ein Football-Trainer, würde er wollen, ein diktatorischer Priester werden kann." Es stellte zudem eine messerscharfe rhetorische Frage: Was hätte das Gericht entschieden, wenn der Trainer zu Allah beten würde?

Das klingt überspitzt, fügt sich aber in die häufig überhitzte politische Debatte der USA problemlos ein. Das Land ist in Aufruhr, weil sein Oberstes Gericht derzeit auf höchster juristischer Ebene die wichtigen gesellschaftlichen Fragen beantwortet, meist im Sinne einer Bevölkerungsminderheit. Der für Antworten mitverantwortliche Kongress ist von der Zweiparteienlogik blockiert, denn für reguläre Gesetze ist eine 60-Prozent-Mehrheit im Senat nötig. Die wird nur mit viel Bereitschaft zu Kompromissen erreicht, kommt aber immer seltener zustande. Zugleich ist das Vertrauen ins System im größten Teil der Bevölkerung zerstört.

In wenigen Wochen schaffte das Gericht das allgemeine Recht auf Abtreibung ab, erklärte restriktive Regeln zum Tragen einer Waffe in der Öffentlichkeit für nichtig und riss eine Trennwand zwischen Religion und Staat ein, da Bundesstaaten nun auch religiöse Schulen mit Steuergeld fördern müssen. Letzteres Urteil ist die neueste Wendung eines politisierten Kulturkampfes, der bereits vor mehr als einem halben Jahrhundert seinen Anfang nahm. Damals begann die föderale Steuerbehörde, religiöse Privatschulen zu besteuern, was große Teile der katholischen und evangelikalen Bevölkerung in die Arme der Republikaner trieb, die skeptisch gegenüber zentralisierter Macht in Washington sind.

Jahrzehntelange Strategie geht auf

Die konservative Mehrheit der Obersten Richter zwingt die Vereinigten Staaten in die Vergangenheit. 6 von 9 Richtern und damit auch die derzeitigen Urteile sind das Ergebnis einer konzertierten, jahrzehntelangen Strategie, angeleitet von der Allianz aus Konservativen und Christen, mit vielen Millionen Dollar finanziert. Ein Netzwerk fördert Juristen mit bestimmten Positionen, liefert Listen mit geeigneten Kandidaten und Urteilsbegründungen für politische Ziele.

Ex-Präsident Donald Trump war nur noch der ausführende Teil, als er in seinen vier Jahren Präsidentschaft drei neue Richter vom republikanisch dominierten Senat ins lebenslange Amt heben ließ. An den Berufungsgerichten, der untergeordneten Instanz, ersetzte Trump mehr als ein Viertel aller Richter. Die aktuellen Urteile muten an wie ein konservativer Putsch von oben, Schritt für Schritt vollzogen. Das Abtreibungsrecht war bislang der größte davon. Von Konservativen kommt Applaus, nicht nur von Progressiven der Ruf nach rigorosem Eingreifen des Kongresses, während US-Präsident Joe Biden und die Demokraten der Mitte sich auf hilflose Appelle zurückziehen, weil der legislative Prozess lahmt.

Fast schon nebenbei entzog der Supreme Court zuletzt der Umweltschutzbehörde EPA die Befugnis, Kohlekraftwerken allgemeine Vorschriften zum CO2-Ausstoß zu machen. Der Kongress müsse der Behörde einen expliziten Auftrag dafür erteilen, oder für jedes Kraftwerk einzeln vorgehen. Und das, obwohl zur Einhaltung der Umweltgesetze – in diesem Fall des Clean Air Act – die EPA bereits von einem früheren Kongress beauftragt worden war. Die Richter wissen um den gelähmten Kongress, schützen mit ihrer Entscheidung also die fossile Industrie, erschweren den Kampf gegen den Klimawandel und gefährden obendrein die öffentliche Gesundheit.

Die parlamentarischen Manöver der Demokraten haben bei den umstrittenen Fragen nichts erreicht. Das Klimaprogramm für eine grünere Wirtschaft ist gescheitert, eine Wahlrechtsreform ist nicht realistisch, der Gesetzentwurf für die Legalisierung von Abtreibungen wurde im Senat blockiert. Letzteres, obwohl eine Mehrheit der Bevölkerung für das allgemeine Recht auf Schwangerschaftsabbrüche ist. Stattdessen können nun konservative Regierungen der Bundesstaaten ihrer Bevölkerung strengste Gesetze aufzwingen.

Ist bislang ohne Gegenmittel: US-Präsident Joe Biden.

Ist bislang ohne Gegenmittel: US-Präsident Joe Biden.

(Foto: REUTERS)

Die Folgen von all dem zeichnen sich in Umfragen bereits ab. Die Menschen zweifeln grundlegend an ihrem Land. Das ohnehin geringe Vertrauen in die Institutionen ist in diesem Jahr auf breiter Front abgestürzt und erreicht neue Rekordtiefstwerte. Nur noch 31 Prozent vertrauen religiösen Gemeinschaften, 7 Prozent dem Kongress, 16 Prozent Zeitungen, 11 Prozent Nachrichtenfernsehen, 28 Prozent öffentlichen Schulen, 23 Prozent der Präsidentschaft und 45 Prozent der Polizei. Das juristische System insgesamt ist nur noch für 14 Prozent vertrauenswürdig, der Supreme Court für 25 Prozent.

Weitere richtungsweisende Urteile

Es könnte noch schlimmer werden. In diesem Jahr will der Supreme Court darüber urteilen, wer in Zukunft bei der Organisation landesweiter Wahlen das letzte Wort hat. Der Supreme Court könnte sich und die unteren Instanzen im extremsten Fall selbst entmachten und die Entscheidungsgewalt, unter anderem über die Gestaltung der Briefwahl und die Zertifizierung der Ergebnisse, an die gewählten Regierungen der Bundesstaaten abgeben. Ein legales Chaos bei Präsidentschafts- und Kongresswahlen wäre die Folge, der Prozess würde noch mehr politisch überladen.

Ebenfalls zur Entscheidung steht die sogenannte affirmitive action von Hochschulen. Diese quotieren für Studienbewerber häufig den Zugang nach ethnischer Zugehörigkeit, was Chancengleichheit erhöhen und Diskriminierung verringern soll. Das Gericht wird sich auch mit Rechten homosexueller Paare auseinandersetzen. Eine Webdesignerin will den Auftrag für die Hochzeitsseite eines homosexuellen Paares wegen deren sexueller Orientierung nicht annehmen, was ein Gesetz im Bundesstaat Colorado jedoch untersagt.

Warum gibt es diese Urteilswelle an oberster Stelle? Mehrere konservative Oberste Richter sind Anhänger des sogenannten "Originalism", und glauben, dass die Verfassung wortwörtlich ausgelegt und im Zweifel nicht im aktuellen gesellschaftlichen Kontext neu bewertet werden sollte. Auf dieser Basis werden teils abenteuerliche Vermutungen darüber angestellt, was die Autoren im 18. Jahrhundert wohl beabsichtigten, und daraus ein Urteil abgeleitet. Dies bietet Raum für politisch motivierte Interpretationen, den nach Meinung der Mehrheit die Richter auch ausnutzen: Im vergangenen Monat sagten 57 Prozent der US-Bürger in einer Umfrage, die Abschaffung des allgemeinen Rechts auf Abtreibung wäre "politisch motiviert und nicht gesetzlich motiviert". Offenbar macht sich in weiten Teilen der Bevölkerung das Gefühl breit, dass etwas völlig aus dem Ruder gelaufen ist.

Ein anderes Beispiel ist das Waffenrecht, bei dem es auch um ein Komma geht, das vor hunderten Jahren im Entwurf und in finaler Fassung unterschiedlich gesetzt wurde. Die Versionen lassen unterschiedliche Auslegungen über die Absicht der damaligen Autoren offen. Sollen nur organisierte Milizen Waffen tragen dürfen? Oder jeder Einzelne? War es womöglich grammatisches Unvermögen? So können dann Juristen mit Sprachwissenschaftlern darüber diskutieren, wie im 18. Jahrhundert die Zeichensetzung verwendet wurde.

Überdrehte Konflikte

Die zahlenmäßige Minderheit in ländlichen Gegenden fühlt sich davon besser repräsentiert, nicht überrollt von den gesellschaftlichen Veränderungen der kosmopolitischen Städter, die ihre Lebensrealität wiederum durch die rückwärtsgewandten Urteile nicht abgebildet sehen. So wächst auf beiden Seiten die Wut, die Lager zementieren sich, Kompromissfähigkeit wird zur Schwäche erklärt. Dazu mangelndes Vertrauen in Präsidentschaft, Gerichte und das politische System und die Probleme im Kongress. Eine explosive Mischung.

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Statt Lösungen zu finden, werden gesellschaftliche Konflikte überdreht und Politik zur Glaubensfrage. Zum Beispiel gibt es keine Belege für eine Wahlmanipulation 2020, aber Trumps verlorene Wahl wird von Republikanern als Betrug empfunden. Fast ein Drittel der US-Amerikaner ist davon überzeugt, dass Joe Biden nicht rechtmäßig ins Weiße Haus eingezogen ist. Unter Republikanern sind es sogar 70 Prozent.

In der Theorie kann der Kongress den Supreme Court in seine Schranken weisen, Richter wieder des Amtes entheben oder sogar die Anzahl der Sitze erhöhen, um ein Ungleichgewicht auszubalancieren. Doch auch hier gilt: Die Mehrheiten lassen es nicht zu. Es bräuchte dafür zwei Drittel der Stimmen im Senat. In den vergangenen zwei Jahren ist das Vertrauen der US-Bevölkerung deutlich geschrumpft. Nur noch 30 Prozent glauben, das amerikanische politische System würde mit ein paar Verbesserungen gut funktionieren, nur 6 Prozent denken, dies sei jetzt schon der Fall. Im Februar 2020 waren es noch 46 und 9 Prozent. Im Land des Individualismus, wo jeder machen können soll, was er will, und glücklich werden, weil es genug für alle gibt, ist für eine gemeinsame demokratische Idee immer weniger Platz.

Quelle: ntv.de

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