
Präsident Donald Trump am 26. Oktober 2020 mit Amy Coney Barrett, nach ihrer Vereidigung als Oberste Richterin.
(Foto: AP)
Konservative in den USA haben eine triumphale Woche voller Urteile in ihrem Sinne hinter sich. Das liegt auch am langen Atem eines christlichen Lobbyisten. Und an Donald Trump. Für die Mehrheit der US-Bevölkerung bleibt ein Hoffnungsschimmer.
Am vergangenen Freitag war es so weit. Das landesweite Recht auf Abtreibung gilt nicht mehr, die US-Bundesstaaten können nun machen, was sie wollen. In verschiedenen Städten der USA gingen die Menschen nach dem höchst umstrittenen Urteil des Supreme Court auf die Straße, es gab Verletzte, die Polizei nahm Demonstranten fest. "Der Supreme Court ist im Krieg mit dem fortschrittlichen Amerika", urteilte eine US-Kolumnistin. Dabei hat der Oberste Gerichtshof die ersten Schlachten erfolgreich im Sinne vieler Konservativer geschlagen.
Mit einer Woche richtungsweisender Urteile löste der Supreme Court in weiten Teilen der Vereinigten Staaten blankes Entsetzen aus. Zunächst lockerten die Richter am Dienstag die Trennung von Kirche und Staat, als sie den Bundesstaat Maine verpflichteten, auch religiöse Privatschulen zu fördern. Am Donnerstag hoben sie das Verbot des Bundesstaats New York gegen das Tragen von Waffen außerhalb der eigenen vier Wände auf. Und dann, zum Schluss, kam das Erdbeben: das Ende des fast 50 Jahre alten Präzedenzurteils "Roe gegen Wade". Es hatte das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche praktisch bis Ende der 22. Woche garantiert.
Nach vielen Jahren juristischen Dauerfeuers gegen das allgemeine Abtreibungsrecht treten die USA mit dem Urteil im Fall "Dobbs gegen Jackson Women's Health Organization" in eine neue Ära ein; zurück in die Vergangenheit, obwohl die Bevölkerung dort gar nicht hin will. Eine stabile Mehrheit war seit Jahrzehnten dafür, zumindest teilweise das Abtreibungsrecht aufrechtzuerhalten. Im vergangenen Jahr sprachen sich in einer Umfrage zwei Drittel dafür aus. Nach dem Urteil sagten 59 Prozent zu CBS/Yougov, sie hielten die Entscheidung für falsch. Mehr als die Hälfte bezeichnete sie als "Rückschritt für Amerika".
Die in jedem Bundesstaat anders gestalteten Verbote ziehen eine unbekannte Zahl rechtlicher Folgen und Fragen nach sich. Geht eine Frau zukünftig ins Gefängnis, sollte sie ihr Kind verlieren, womöglich gemeinsam mit ihrem behandelnden Arzt? Ab welcher Woche gilt ein Fötus als Person? Kann er Geld besitzen oder erben? Wird rauchen während der Schwangerschaft strafbar? Übermäßiger Sport? Muss Mord juristisch neu definiert werden? Könnten konservativ regierte Bundesstaaten womöglich sogar Auslieferungsabkommen für Schwangere abschließen?
Das Gericht traf seine Entscheidung wie es sie traf, weil es derzeit konservativ ausgerichtet ist. Nur noch drei der neun Richter am Supreme Court gelten als liberal, oder anders gesagt, als progressiv. Das hat ein wenig mit Zufall zu tun, aber vor allem damit, dass die unverhältnismäßige Macht der Minderheit eben System hat, und es einen christlichen Strippenzieher gibt, der sich geschickt darin bewegt. Dazu kommen fragwürdige Verfassungstreue und Geld aus dunklen Kanälen.
Macht der Minderheit
Zunächst der Zufall. Ein Richter war zurückgetreten, zwei waren gestorben. Also konnte Präsident Donald Trump in seiner Amtszeit drei neue Richter auf Lebenszeit vorschlagen, ganz nach dem Gusto des konservativen Flügels, der sie im Senat bestätigte. Damit hört der Zufall aber auch schon auf, denn allein dass Trump im Amt war, ist Kritikern schon ein Dorn im Auge. Ihm reichte 2016 eine knappe Minderheit der Wählerstimmen, weil das indirekte Wahlleutesystem die Mehrheitsverhältnisse verzerrt: Ländliche Bundesstaaten, wo die Republikaner viele Unterstützer haben, werden dabei bevorteilt.
Als Trump dann im Weißen Haus saß, schlug er über seine Amtszeit von vier Jahren die drei Kandidaten dem Senat vor. Dort hatten die Republikaner zu dieser Zeit eine nominale Mehrheit - vertraten aber auch hier eine Bevölkerungsminderheit, weil die Bundesstaaten unabhängig von ihrer Einwohnerzahl jeweils zwei Senatoren entsenden - und hoben die Richter auf Lebenszeit ins Amt. Die Demokraten versuchten unter Präsident Joe Biden noch, das Abtreibungsrecht gesetzlich festzuschreiben, aber die republikanischen Senatoren blockierten es. "Minority Rule", nennen Kritiker diese systemische Fehlrepräsentation in der US-Demokratie.
Trump und die Republikaner hatten zusätzlich tatkräftige Hilfe, die von lange vorbereitet worden war. Während des Wahlkampfes 2016 hatte das Team des späteren Präsidenten eine Liste mit Juristen als Kandidaten für die Richterposten veröffentlicht. Die Liste kam von Leonard Leo. Der römisch-katholische Jurist war Berater Trumps und Strippenzieher hinter sämtlichen Obersten Richtern, die unter George W. Bush und Trump an den Gerichtshof rückten. Zugleich ist er in einer Myriade religiöser Interessensgruppen aktiv, sowie führendes Mitglied der Federalist Society. Schon seit Anfang der 80er Jahre bilden praktizierende Christen und Republikaner eine Interessensallianz.
Sieg der christlich-konservativen Allianz
Die komplette konservative Mehrheit für das Ende des allgemeinen Abtreibungsrechts wurde von Leo in jahrzehntelanger Arbeit organisiert. Er hatte an einer der Elite-US-Hochschulen Jura studiert und dort 1989 den studentischen Arm der Federalist Society gegründet. Danach wechselte er in die Zentrale der Organisation und wurde Helfer an einem Berufungsgericht. Zu dieser Zeit freundete er sich auch mit Clarence Thomas an und half ihm, vom Senat als Oberster Richter bestätigt zu werden. Er wiederholte dies erfolgreich bei John Roberts und Samuel Alito, unter Trump bei Neil Gorsuch, Brett Kavanaugh und Amy Coney Barrett. Alle stimmten für das Ende von "Roe gegen Wade".
Die Federalist Society tritt als Lobby-Speerspitze der sogenannten Originalists für eine möglichst originäre Interpretation von Gesetzen und vor allem der Verfassung ein. Aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen werden dabei größtenteils ignoriert. Dabei installieren sie ihre eigenen Juristen auf verschiedenen Ebenen. Mit ihrer Hilfe ersetzte Trump in seiner Präsidentschaft auch an den Bundesberufungsgerichten, unterhalb des Supreme Court, mehr als ein Viertel aller Richter. Fast alle davon waren Mitglied der Federalist Society.
Leo hat darüber hinaus Einfluss. Der siebenfache Vater bewegt sich in einem Geflecht religiöser Lobbygruppen, die Spenden für ihre Aktivitäten einsammeln und gezielt zusammenführt. So ist eine der Organisationen größter Geldgeber für die "Republicans Attorneys General Association" (RAGA), die auf bundesstaatlicher Ebene für die Wahl von republikanischen Oberstaatsanwälten eintritt. Seit 2014 erhielt RAGA nur durch dieses Netzwerk mehr als 17 Millionen Dollar, schreibt die "New York Times". Andere durch Leos Netzwerk mitfinanzierte Gruppen legen diesen Richtern und Staatsanwälten dann mögliche juristische Begründungen für Urteile konservativer Schlüsselprozesse vor. Prominentestes Beispiel dafür? Das aktuelle Abtreibungsurteil.
Die Oberstaatsanwältin von Mississippi ist Lynn Fitch. Die Republikanerin führte den Fall, der "Roe gegen Wade" in die Geschichtsbücher verbannte. Fitch war bei ihrer Wahl 2018 von RAGA unterstützt worden; 18 republikanische Oberstaatsanwälte anderer Bundesstaaten sowie zwölf republikanische Gouverneure setzten sich für ihren Erfolg ein. Deshalb verbietet Mississippi nun Abbrüche nach der 15. Woche und auch dann, wenn die Schwangerschaften auf Vergewaltigungen und Inzest folgen. In mehreren Bundesstaaten sind sofort strengere Gesetze in Kraft getreten, weitere werden aller Voraussicht nach folgen. In Texas etwa liegt die Abtreibungsgrenze bei sechs Wochen; da wissen manche noch gar nicht, dass sie schwanger sind.
Düstere Aussichten und ein Hoffnungsschimmer
Seit 2011 wurden in den USA Hunderte Anti-Abtreibungsgesetze verabschiedet, die aber wegen "Roe gegen Wade" alle keinen Bestand hatten. Das ist vorbei. Die US-Amerikaner gehen davon aus, dass sie noch mehr ihrer persönlichen Rechte verlieren werden. 57 Prozent der US-Amerikaner glauben, dass in Zukunft gleichgeschlechtliche Ehen eingeschränkt werden. Fast ebenso viele, 55 Prozent, äußerten sich so über Verhütungsmethoden. Richter Thomas hatte in seiner Ansicht seine Kollegen aufgefordert, die entsprechenden Präzedenzurteile neu zu bewerten, denn die Begründung dafür könnte sehr ähnlich ausfallen. In der Verfassung ist nicht davon die Rede, und sie sind ebensowenig wie das Recht auf Abtreibung tief in der Geschichte und Tradition des Landes verwurzelt (deeply rooted in this Nation’s history and tradition), wie es in der Urteilsbegründung heißt.
Für gesellschaftliche Veränderungen ist das konservative Lager am Supreme Court damit eine gefallene Schranke, die Leonard Leo und übrige Originalists über viele Jahre sorgsam in Position gebracht hatten. Die Folgen werden das Land womöglich über Jahrzehnte prägen. Seit den 70er Jahren liegt die durchschnittliche Amtszeit eines Obersten Richters bei über einem Vierteljahrhundert. In den kommenden Jahren könnten die Konservativen die Schranke gar zur Mauer ausbauen: Sollte Trump wie erwartet wieder antreten und tatsächlich 2025 ins Weiße Haus zurückkehren, könnte er mit einem republikanisch dominierten Senat weitere Richter von Leos Liste ins Amt hieven. Der liberale Stephen Breyer ist jetzt schon 83 Jahre alt, seine Kollegin Sonia Sotomayor 67 Jahre.
Die derzeitige Situation ist für die Demokraten wie ein Albtraum. Sie haben im Senat keine Mehrheit, um ein Gesetz zu verabschieden. Bidens Umfragetief hat sich verstetigt. Und die Wahlaussichten für die Kongresswahl im November waren schon vor dem Urteil überaus düster. Sollte im kommenden Jahr ein republikanisch kontrollierter Kongress ein gesetzliches Abtreibungsverbot verabschieden, könnte der Präsident zwar noch sein Veto einlegen und das Gesetz nicht unterzeichnen. Aber wie lange sitzt Biden oder ein anderer Demokrat noch im Weißen Haus?
Ein Hoffnungsschimmer, mit dem sich die Demokraten Mut machen, ist die mögliche Mobilisierungskraft des Urteils. Denn wenn die Mehrheit es für falsch hält, kann es die Leute in Scharen an die Wahlurnen treiben. "Der Kongress kann (...) ein Legalisierungsgesetz für Abtreibungen verabschieden. Dafür brauchen wir zwei weitere Senatoren der Demokraten und müssen das Repräsentantenhaus halten", twitterte etwa David Plouffe, Wahlkampfchef von Ex-Präsident Barack Obama. Aber selbst wenn dies gelingen sollte, müssten die Demokraten danach alle an einem Strang ziehen. Die christlichen Konservativen, die Republikaner und Trump haben es vorgemacht.
(Dieser Artikel wurde am Dienstag, 28. Juni 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de