Kampfabstimmung Andreae gegen Göring-Eckardt Die grüne Chaostheorie
08.10.2013, 07:01 Uhr
(Foto: picture alliance / dpa)
Bei den Grünen wird um den Fraktionsvorsitz gestritten. Während der Parteilinke Hofreiter als gesetzt gilt, ist das Rennen zwischen Göring-Eckardt und Andreae offen. Die kuriosen Parteiregeln können die politische Zukunft Deutschlands beeinflussen.
Der "Schmetterlingseffekt" steht in der Chaostheorie für die Annahme, dass kleinste Ursachen ungeahnte Verwerfungen zur Folge haben können. Der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien könne einen Tornado in Texas auslösen, mutmaßte der Vater der Chaostheorie, Edward Lorenz. Wenn sich heute die neue Bundestagsfraktion der Grünen trifft und mit den Flügeln schlägt, könnte auch das Auswirkungen haben, die weit über interne Parteifragen hinaus reichen.
Im Zentrum dabei steht die Frage, ob die Realos die Annäherung an den linken Flügel weitertreiben oder sich wieder dem bürgerlichen Profil der Partei widmen. Seit der Wahl sprechen die Grünen darüber. Nun müssen sie sich zum ersten Mal in einer Abstimmung für eine Richtung entscheiden: Wählen sie die etablierte Katrin Göring-Eckardt oder die bisher eher unbekannte Kerstin Andreae?
Wird Göring-Eckardt gewählt, wäre das ein Zeichen für Kontinuität und Konsens: Unter den Spitzenvertretern des Realo-Flügels steht sie am weitesten links und vertrat im Wahlkampf glaubhaft die Steuererhöhungen, die andere Realos jetzt als Sündenfall darstellen. Göring-Eckardt könnte der Fraktion also viel Geschlossenheit bringen. Ein Generationenwechsel wäre ihre Wahl aber nicht.
Andreae denkt anders als ihre Gegenkandidatin wirtschaftsliberal: Sie spricht davon, auf Unternehmer zuzugehen, würde gerne Wähler ansprechen, die von der FDP enttäuscht sind. Sie kommt aus dem erfolgreichsten aller grünen Landesverbände – nämlich aus Baden-Württemberg, wo die Grünen mit Winfried Kretschmann den Ministerpräsidenten stellen. Der Misserfolg des linken Bundestagswahlkampfes hat den Realo-Landespolitiker Kretschmann noch weiter gestärkt. Es ist kein Geheimnis, dass er ein schwarz-grünes Experiment unterstützen würde. Als Fraktionsvorsitzende würde Andreae diese Linie in die Bundespolitik tragen.
Erst einmal scheint es so, als würde die Wahl Kerstin Andreaes die Grünen näher an eine Regierungsbeteiligung bringen, weil sie die Brücke zur Union besser bauen kann. Andererseits: Sie würde unter den linken Abgeordneten für Unruhe sorgen und damit den Flügelkampf in der Fraktion befördern. Die Grünen wären erst einmal weiter mit sich selbst beschäftigt – und damit weniger regierungsfähig.
Mehr als eine parteiinterne Querele
Wer von beiden sich durchsetzt, ist schwer vorherzusagen. Die Regeln bei den Grünen sind kompliziert: So besteht der Fraktionsvorsitz aus zwei Personen, davon mindestens eine Frau. Die Doppelspitze führt dazu, dass sich die Parteiflügel nicht auf einen Kandidaten einigen müssen, sondern jede Seite das Anrecht auf einen der Plätze hat. Die Linken haben sich schon auf Anton Hofreiter verständigt, der sich auch der Unterstützung seines Vorgängers Jürgen Trittin sicher sein kann.
Einigen sich die Realos nun auf eine Kandidatin, würden die Linken auch diese mittragen. Unter den 34 Realos in der Fraktion hätte wohl Andreae die meisten Unterstützer, da sie für Erneuerung und eine Abkehr von der linken Steuererhöhungspolitik steht, die viele als Ursache des schlechten Wahlergebnisses ausgemacht haben.
Die Unterstützer Andreaes müssten dazu aber Göring-Eckardt zur Rücknahme ihrer Kandidatur bewegen und damit Geschlossenheit unter den Realos herstellen. Denn wenn es zu einer Kampfabstimmung kommt, entscheiden die Stimmen der Linken. Und dann hat Andreae, die vor einigen Jahren noch Werbung für die radikal-liberale "Initiative neue Soziale Marktwirtschaft" machte, wohl schlechte Chancen.
Der Machtkampf unter den grünen Realos ist mehr als eine parteiinterne Querele. Er könnte das Schicksal des Landes erheblich beeinflussen. Denn die Grünen stehen vor der Entscheidung, mit CDU und CSU ernsthaft über eine gemeinsame Regierung zu verhandeln. Vorbereitet sind sie darauf nicht. Auf Landesebene gab es bislang zwei schwarz-grüne Versuche: im viertkleinsten Land Hamburg und im zweitkleinsten Land Saarland, dort zusammen mit der FDP. Beide Bündnisse scheiterten vorzeitig. Als Vorbereitung auf eine Koalition im Bundestag taugt das nicht. Und im Bund müssten die Grünen nicht nur mit der CDU, sondern auch mit der noch weniger geliebten CSU koalieren. Trotzdem liegt die Option wegen des Wahlergebnisses auf dem Tisch.
Würde Andreae wirklich Brücken zur Union bauen können?
Für die kommenden vier Jahre würde Schwarz-Grün ganz neue politische Kämpfe bedeuten. Und auch darüber hinaus würde sich das Parteienschema verändern: Solange die Koalition nicht in einer Katastrophe endet, wäre Schwarz-Grün für viele Jahre immer wieder eine Option. Möglich wäre sogar, dass Union und Grüne im Wahlkampf gemeinsam für die Fortsetzung ihrer Koalition kämpfen.
Aber dürfen die Grünen diesen Schritt überhaupt gehen? Mit Steuererhöhungen Wahlkampf machen und sich dann als die neue FDP der CDU andienen? Der grüne Wahlkampf wurde allgemein als Ausdruck eines Linksrucks wahrgenommen. Wenn die Grünen nun regieren wollen, müssen sie nicht nur zurück zum Profil, das sie davor hatten, sondern noch weiter nach rechts. Sie müssten eine Kanzlerin wählen, die in Fragen der Homo-Ehe bisher nur so viel tat, wie ihr das Bundesverfassungsgericht vorschrieb und die in der EU neue Abgasvorschriften für Autos hinauszögert. Während die Energiewende das wichtigste Thema der Grünen ist, darf sie bei Angela Merkel vor allem nicht zu viel kosten.
Lassen sich die Grünen tatsächlich von Kerstin Andreae in eine schwarz-grüne Koalition führen, verlieren sie mit Kathrin Göring-Eckardt auch eine Spitzenpolitikerin, die wie kaum jemand sonst die Parteiflügel zusammenbringen kann. Noch vor einem Jahr sprach sich die Hälfte der Grünen für ihre Spitzenkandidatur aus. In ihr bisheriges Amt als Bundestags-Vizepräsidentin kann sie wohl nicht zurück: Darauf gibt es bereits eine Kampfkandidatur zwischen Renate Künast und Claudia Roth. Ohne den Fraktionsvorsitz würde Göring-Eckardt in die zweite oder dritte Reihe der Partei zurückrutschen. Nur bei den Sondierungsgesprächen würde sie dann noch dabei sein – gemeinsam mit ihrer Bezwingerin Kerstin Andreae.
Quelle: ntv.de