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Göring-Eckardt im Interview "Dieser Krieg ist auch für uns sehr gefährlich"

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Am Dienstag besuchte Katrin Göring-Eckardt ein Dorf in der Region Tschernihiw, wo mehr als 300 Einwohner während der rund vierwöchigen Besatzung in einem Keller ausharren mussten.

Am Dienstag besuchte Katrin Göring-Eckardt ein Dorf in der Region Tschernihiw, wo mehr als 300 Einwohner während der rund vierwöchigen Besatzung in einem Keller ausharren mussten.

(Foto: dpa)

Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt war von Montag bis Freitag in der Ukraine und in Moldau unterwegs, sie traf verwundete Soldaten und von Russland verschleppte Kinder. "Die Angst, dass Russland den Krieg gewinnt und sich die Ukraine unterjocht, ist für viele sogar noch größer, als dass russische Bomben das eigene Haus zerstören", sagt sie im Interview mit ntv.de.

ntv.de: Vorletzte Nacht mussten Sie zwei Stunden im Schutzkeller ausharren, weil in Kiew Luftalarm war. Was ist Ihnen durch den Kopf gegangen?

Katrin Göring-Eckardt: Wir saßen in einem sicheren Luftschutzkeller, da hatte ich keinen Moment Angst. Ich habe mir eher vorgestellt, was mit denen ist, die nicht mehr in Schutzräume gehen. Vitali Klitschko, der Bürgermeister von Kiew, hatte mir berichtet, dass zu viele Leute die Warnungen gar nicht mehr so ernst nehmen und in ihren Wohnungen bleiben, weil eine gewisse Gewöhnung eingetreten ist. Oder wie es Eltern jetzt geht, die kleine Kinder haben, und sie mitten in der Nacht wecken müssen. Selbst die Kinder sind inzwischen an den ständigen Luftalarm gewöhnt. Das finde ich dramatisch, nicht, selbst ein paar Stunden in einem sicheren Schutzraum sitzen zu müssen.

Sie waren vier Tage in der Ukraine, haben unterschiedlichste Menschen gesprochen. Welche Sätze Ihrer Gegenüber werden sich Ihnen ins Gedächtnis brennen?

Es gab einige sehr emotionale Begegnungen. Am Mittwoch habe ich in einem Reha-Zentrum Soldaten getroffen, die Arme oder Beine verloren haben, und die trotzdem sagten: Mein Platz ist an der Front. Oder eine Frau, die sagte: Ich habe am meisten Angst davor, dass die Russen kommen, dass Russland gewinnt und wir einverleibt werden in ein Land, das uns bekämpft, das uns unsere Identität wegnehmen will. Die Angst, dass Russland den Krieg gewinnt und sich die Ukraine unterjocht, ist für viele sogar noch größer, als dass russische Bomben das eigene Haus zerstören.

Sie haben auch Kinder getroffen, die zurück in die Ukraine geholt werden konnten, nachdem sie nach Russland verschleppt worden waren. Welche Ausmaße haben diese Verbrechen?

Man kennt die Namen von etwa 20.000 Kindern, die nach Russland entführt wurden. Nur ein paar hundert von ihnen sind wieder nach Hause zurückgekommen. Wir wissen nicht genau, wie das passiert ist, wir wissen nur, dass es gelungen ist. Aber die knapp 20.000 Kinder sind nur die, die man kennt. Experten schätzen, dass viele tausend weitere Kinder aus den besetzten Gebieten verschleppt wurden, von denen man nichts weiß.

Wie ging es den Kindern, die Sie trafen?

Die beiden Jugendlichen, die wir gestern erlebt haben, waren unheimlich beeindruckend. Sie haben eine extreme Kraft ausgestrahlt. So viel Mut. Dass sie es in Russland geschafft haben, sich ihre ukrainische Identität zu bewahren, kann ich mir nur als enormen Kraftakt vorstellen. Dem Mädchen, das ihren kleinen Bruder aus russischer Geiselhaft herausgeholt hat, war völlig klar, was Russland den Kindern antun will. Für mich ist das eines der schlimmsten Kriegsverbrechen, über das viel zu wenig gesprochen wird. Russland versucht, die Ukraine um ihre nächste Generation zu bringen, inklusive einer Gehirnwäsche, die man sich kaum vorstellen kann. Das ist brutal - gegen die Kinder und gegen die Ukraine.

Mein Eindruck ist, dass viele Ukrainer den letzten Winter als härter empfunden haben als den jetzigen - dass sie zugleich aber sagen, die Stimmung sei heute schlechter als vor einem Jahr.

Der letzte Winter war kälter, es gab häufiger Stromausfälle. Trotzdem hatten alle das Gefühl: Wir können das hinkriegen, die Unterstützung kommt. Im Herbst hatte die ukrainische Armee Cherson befreit, kurz davor Charkiw. Aber es gab schon damals auch viel Müdigkeit. Für die Ukraine läuft der Krieg ja nicht erst seit dem 24. Februar 2022, sondern seit mittlerweile zehn Jahren. Viele haben Angehörige, die vor zehn Jahren als Soldaten gefallen sind. Einige Soldaten, die heute gegen Russland kämpfen, waren schon damals an der Front. Gleichzeitig gibt es keinen Zweifel an der Entschlossenheit.

Trotz der widrigen Umstände? Woher nehmen die Menschen, mit denen Sie sprachen, diese Entschlossenheit?

Jeder hier in der Ukraine weiß: Wenn Putin mit dem Kämpfen aufhört, verliert er halt diesen Krieg. Aber wenn die Ukraine sich nicht mehr verteidigt, dann gibt es die Ukraine nicht mehr. Das weiß jeder, von der Oma auf dem Dorf bis hin zu den politisch Verantwortlichen in Kiew.

In Europa wird gerade viel über die fehlende Munition aus den USA gesprochen. Wie sehr nehmen die Leute hier, mitten im Krieg, diese Gefahren wahr?

Ich spüre die Sorge, im Stich gelassen zu werden. Wenn die US-Hilfen ausbleiben, wird es für die Ukraine noch sehr viel schwieriger, sich zu verteidigen. Die Ungewissheit ist auch für uns in Deutschland ein Auftrag, alles zu tun, was wir können. Durch die lange Zeit des Krieges stellt sich vielen Menschen hier in der Ukraine auch die Frage, wie es mit der Mobilisierung von Soldaten weitergeht - könnte es mich selbst treffen, meinen Bruder, meinen Cousin, meinen Ehemann?

Sie sind zum dritten Mal in der Ukraine, seit Beginn der Invasion 2022. Wie können Sie dem angegriffenen Land helfen?

Zuhören hilft und Aufmerksamkeit schaffen - zum Beispiel für die entführten Kinder, für die Soldaten, die Leib und Leben in diesem Krieg hergeben. Wir sollten nicht vergessen, dass dieser Krieg nicht weit entfernt ist, dass er nichts Abstraktes ist, sondern sehr konkret. Im Fernsehen sieht man oft die zerschossenen Wohnungen. Aber in diesen Wohnungen haben Menschen gelebt. Ich bin schon ziemlich lange Politikerin und weiß, dass gerade außenpolitische Fragen sehr komplex sind. Hier ist die Komplexität noch einmal erhöht: Die USA ziehen sich womöglich ganz oder wenigstens teilweise aus der Unterstützung der Ukraine zurück, wir als Deutschland befinden uns in einer schwierigen Haushaltssituation. Aber wenn es einerseits um Hilfe für dieses unheimlich tapfere Land geht, andererseits aber auch um unsere eigene Sicherheit, dann müssen wir tun, was zu tun ist.

Und das heißt?

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Aktuell heißt das: den Taurus zu liefern, die Munitionsproduktion anzuschieben, sehr schnell Geld freizumachen, damit Munition auch woanders gekauft werden kann. Diese Debatte wird gerade geführt, in der Ampel und auch von der Union. Das finde ich gut. Am allermeisten würde ich mir wünschen, dass es einen parteiübergreifenden Konsens der Demokraten gibt. Dass wir einen Konsens darüber herstellen können, auf welche Weise wir das benötigte Geld freimachen und liefern können, was gebraucht wird. Denn es geht hier auch um Schnelligkeit. An der Front fragen sich die Soldaten, ob sie Munition einsetzen, um einen Panzer abzuschießen - oder sie die Geschosse lieber aufsparen, weil eine noch gefährlichere Situation kommen könnte. Wer in Deutschland sagt: Dieser Krieg ist weit weg, der irrt. Von hier nach Deutschland sind es keine 1000 Kilometer. Dieser Krieg ist auch für uns sehr gefährlich.

Mit Katrin Göring-Eckardt sprach Frauke Niemeyer

Quelle: ntv.de

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