Interview mit Jürgen Lieser "Distanz zum Militär"
27.01.2010, 10:23 UhrDie nichtstaatlichen Helfer in Afghanistan legen Wert auf Abstand zum Militär. "Hilfe ist kein Instrument der Aufstandsbekämpfung", betont Jürgen Lieser. Lieser ist stellvertretender Vorsitzender des Verbands Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisationen, VENRO.
n-tv.de: Wie ist das Verhältnis zwischen den Nichtregierungsorganisationen und der Bundeswehr in Afghanistan? Warum lehnt der Verband Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisationen (VENRO) die Wiederaufbauteams ab, die unter dem Dach der ISAF arbeiten?
Jürgen Lieser: Es geht nicht um unser Verhältnis zur Bundeswehr, wir gehen freundlich miteinander um, nicht nur in Afghanistan gibt es regelmäßig Gespräche mit der Bundeswehr. Es geht eher um die Frage, wie die zivil-militärische Zusammenarbeit politisch zu bewerten ist. Wir halten diese Form der Zusammenarbeit für falsch, weil sie die humanitäre Hilfe und die Entwicklungszusammenarbeit instrumentalisiert, für politische oder militärische Zwecke missbraucht. Die PRTs, die Wiederaufbauteams, sind ja nur ein Modell zivil-militärischer Zusammenarbeit. Hilfe ist eben kein Instrument der Aufstandsbekämpfung. Humanitäre Hilfe muss unabhängig sein, muss neutral sein und darf sich nicht an militärischen Zielen ausrichten.

Jürgen Lieser kennt Afghanistan aus eigener Anschauung. Er ist stellvertretender Vorsitzender des Verbands Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisationen (VENRO) und stellvertretender Leiter von Caritas International.
(Foto: Caritas)
Ihr Verband, die Caritas, betreut zwei Projekte in Afghanistan, eine psychosoziale Beratung in Kabul und Aufbauhilfe in Zentralafghanistan. Gibt es da Kontakte zur ISAF?
In Hazarajat in Zentralafghanistan haben wir damit überhaupt keine Probleme, da gibt es keine Präsenz von ISAF-Truppen. Dort bewegen wir uns in einem Gebiet, in dem man sehr gut arbeiten kann. Auch bei der psychosozialen Beratung gibt es im Prinzip keine Berührungspunkte mit den Militärs. Es wird immer wieder gesagt, dass Entwicklungsorganisationen nur unter militärischem Schutz arbeiten könnten. Das stimmt so nicht.
Wie ist das mit anderen Mitgliedsorganisationen von VENRO, wie viele arbeiten unter militärischem Schutz?
Soweit ich weiß, überhaupt keine, weil wir uns einig sind, dass militärischer Schutz keine wirkliche Antwort ist und auch unsere Sicherheit nicht unbedingt erhöht, sondern eher ein Problem für viele Hilfsorganisationen ist. Insbesondere in Afghanistan suchen die Entwicklungsorganisationen daher die Distanz zum Militär, zum Teil auch die räumliche Entfernung. Viele versuchen, dort zu arbeiten, wo sie keinen militärischen Schutz brauchen.
Führt das nicht dazu, dass in Regionen, in denen die Taliban stark sind, keine Entwicklungsarbeit stattfindet?
Wir können nur dort arbeiten, wo man uns lässt, wir sind darauf angewiesen, dass man uns den humanitären Raum zugesteht, den wir brauchen, um die Bedürftigen zu erreichen. Wenn es große Sicherheitsprobleme gibt, weil radikale Taliban die Arbeit von Entwicklungsorganisationen behindern oder die Mitarbeiter bedrohen oder gar ermorden, dann müssen wir uns natürlich fragen, ob wir es noch verantworten können, Mitarbeiter dorthin zu schicken. Einige Hilfsorganisationen haben ihre Programme in Afghanistan ja eingestellt, nachdem Mitarbeiter ermordet wurden.
Wie gefährlich ist es für die Hilfsorganisationen in Afghanistan?
Es gibt ständig Anschläge und Überfälle, insofern ist die Gefahr durchaus konkret - nicht nur für unsere internationalen, auch für unsere afghanischen Mitarbeiter. Wir reagieren darauf, indem wir sehr strikte Sicherheitsvorkehrungen haben: Nachts macht man keine Überlandfahrten, in bestimmten Gegenden bewegt man sich nicht allein und so weiter. Mit der Gefahr müssen wir aber leben, denn die Alternative wäre, die Programme einzustellen.

"Die Gefahr ist durchaus konkret". Bei diesem Anschlag auf das Diplomatenviertel von Kabul kamen am 15. Dezember 2009 acht Menschen ums Leben.
(Foto: picture alliance / dpa)
Wie ist die Akzeptanz für Sie als christliche Organisation in Afghanistan - die Caritas ist schließlich ein Verband der katholischen Kirche?
Das ist kein Problem. Wir missionieren ja nicht. Wir knüpfen unsere Hilfe nicht an die Bedingung, dass die Leute die Bibel lesen oder unseren Glauben annehmen. Die Menschen, zumindest viele, wissen, dass wir eine christliche Organisation sind, aber in der alltäglichen Arbeit spielt das keine Rolle.
Entwicklungsminister Dirk Niebel hat angekündigt, dass der" Schwerpunkt deutlich verlagert wird in Richtung ziviler Aufbaumaßnahmen". Das müsste doch in Ihrem Sinne sein.
Grundsätzlich ist das zu begrüßen, das ist eine alte Forderung von uns. Dass der militärische Aspekt zu stark betont wird, haben wir immer kritisiert. Wir haben immer gefordert, dass der zivile Aufbau Vorrang haben muss vor dem militärischen Engagement. Insofern kann man dieser Idee nur zustimmen. Das Problem bei dem neuen Entwicklungsminister ist nur, dass er den zivilen Aufbau sehr stark mit dem militärischen Engagement verknüpfen will: Der Aufbau soll dort stattfinden, wo die Bundeswehr stationiert ist. Wir sagen, nein, der zivile Aufbau muss sich am Bedarf orientieren, er muss dort stattfinden, wo die Armut am größten ist. Der Minister hat den Hilfsorganisationen recht unverhohlen gedroht, dass wir kein Geld aus seinem Hause mehr bekommen, wenn wir nicht mit der Bundeswehr zusammenarbeiten wollen. Das ist ein völlig neuer Ton, der da in die Debatte reingekommen ist.
Was kann, was soll die Bundesregierung tun?
Es gibt eine Reihe von Forderungen, die wir als VENRO formuliert haben: Dazu gehört, mehr für den zivilen Wiederaufbau zu tun, die Qualität der Entwicklungshilfe zu verbessern, den Kampf gegen die Korruption und gegen den Drogenhandel endlich ernst zu nehmen. Wir haben den Eindruck, dass da bisher viel zu wenig getan wurde. Dazu gehört auch, solange die NATO-Streitkräfte noch in Afghanistan sind, die Zivilbevölkerung bei Militäroperationen besser zu schützen als es bisher der Fall war.
Wie könnte eine Exit-Strategie für die NATO in Afghanistan aussehen?
Aus unserer Sicht ist völlig klar, dass wir sagen, die Stationierung von ausländischen Truppen sollte sobald wie möglich beendet werden. Nur wann ist "sobald wie möglich"? Man kann die Uhr ja auch nicht zurückdrehen. Dass es Überlegungen für einen Abzug der Truppen gibt, begrüßen wir. Wir haben immer gesagt, militärisch sind die Probleme in Afghanistan nicht zu lösen. Ob man einen Zeitpunkt benennen sollte oder kann, ist eine Frage, die andere beantworten müssen.
Mit Jürgen Lieser sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de