
Der türkische Präsident Erdogan blockiert die NATO-Erweiterung. Die Gründe sind vielfältig.
(Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa)
Trotz Zugeständnissen blockiert die Türkei weiterhin den NATO-Beitritt von Schweden und Finnland. Die Gründe sind vielfältig, bestimmt wird der Konflikt vom ambivalenten Verhältnis von Präsident Erdogan zum Bündnis. Dabei brauchen sich beide Seiten gegenseitig.
Gehofft hatten Finnland und Schweden auf einen schnellen Prozess zum NATO-Beitritt. Doch die historische Entscheidung der beiden Länder, nach dem russischen Überfall auf die Ukraine ihre militärische Neutralität aufzugeben, hat sich zu einer quälenden Hängepartie entwickelt. Der Frust wächst, auch wenn sich Finnland, Schweden sowie das NATO-Hauptquartier einig sind, dass der Beitritt früher oder später kommen wird.
Seit der Unterzeichnung der Beitrittsprotokolle am 5. Juli vergangenen Jahres haben 28 der 30 NATO-Mitglieder die Erweiterung um die beiden nordeuropäischen Staaten ratifiziert. Doch während Ungarn dem Beitritt offen gegenübersteht und die bereits einmal verschobene Abstimmung nun für Februar angekündigt hat, droht die Türkei weiter mit einer Blockade.
"Wir sind noch nicht bei der Hälfte angelangt, wir stehen erst am Anfang", sagte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu kurz vor Weihnachten über den Stand der Dinge - angesichts monatelanger Verhandlungen und Zugeständnissen kam das einer Brüskierung gleich. Entsprechend gereizt reagierte vor allem Schweden, an das sich die türkischen Forderungen hauptsächlich richten: "Die Türkei hat bestätigt, dass wir getan haben, was wir ihnen versprochen haben", sagte Ministerpräsident Ulf Kristersson kürzlich. "Aber sie sagen auch, dass sie Forderungen haben, die wir nicht erfüllen können und wollen. Und jetzt liegt die Entscheidung bei der Türkei."
"Es gibt eine zunehmende Frustration über die Dauer des Prozesses", sagt Minna Ålander vom Finnish Institute of International Affairs (FIIA) ntv.de. Zunehmend sehe es so aus, dass Finnland und Schweden trotz Zugeständnissen derzeit nicht wirklich etwas erreichen können, weil sich die Bedingungen der Türkei immer wieder ändern. "Die Frustration kommt vor allem daher, dass man immer mehr merkt, dass es der Türkei weniger um Finnland oder Schweden geht, sondern Ankara die NATO-Erweiterung zur Verhandlungstaktik nutzt", sagt Ålander.
Drei Gründe für Erdogans Blockadehaltung
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan weiß um die Macht, die ihm der Beitrittsprozess an die Hand gibt. Und er spielt sie geschickt aus. "Die Beharrungskraft des türkischen Präsidenten ist größer als vermutet", sagt Sicherheitsexperte Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) ntv.de. "In früheren Fällen konnten türkische Blockaden innerhalb der NATO geräuschlos abgeräumt werden." Das funktioniere diesmal nicht. "Wir müssen uns darauf einrichten, dass bis zu den Wahlen in der Türkei am 14. Mai nichts passieren wird." Entscheidend sei dann das Zeitfenster bis zum NATO-Gipfel am 11. und 12. Juli in Vilnius.
Vor allem Stockholm ist in der Frage von Rüstungsexporten der Türkei bereits weit entgegengekommen. Für strengere Anti-Terror-Gesetze wurde sogar die Verfassung geändert. Doch Ankara blockt weiter, verlangt Auslieferungen. Schon seit Jahrzehnten ist Schweden ein Rückzugsort für Menschen, die in der Türkei verfolgt werden. Es geht um Personen aus dem Umfeld der kurdischen PKK, die auch in der EU als Terrororganisation eingestuft wird, aber auch um Mitglieder der sogenannten Gülen-Bewegung, die Erdogan für den Putschversuch 2016 verantwortlich macht. Die von Ankara geforderte Auslieferung des Journalisten Bülent Kenes hat ein schwedisches Gericht zurückgewiesen - das habe die "positive Atmosphäre vergiftet", sagte Außenminister Cavusoglu.
Türkei-Experte Kristian Brakel sieht im Kampf gegen den Terrorismus - beziehungsweise dem, was die türkische Regierung Terrorismus nennt - nur eines von drei Hauptmotiven für das Verhalten Erdogans. Hinzu kämen die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Mai. "Erdogans Vorgehen ist eine Möglichkeit, sich vor der Wählerschaft als starker Mann zu inszenieren, der andere Staaten zu Zugeständnissen zwingen kann. Bei vielen Wählenden kommt das gut an", sagt Brakel, der das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul leitet.
Zudem gehe es Ankara darum, Druck auf andere Staaten auszuüben. Brakel nennt hier vor allem den Streit der Türkei um die Lieferung neuer F-35-Kampfjets aus den USA. Diese wurde aus Sicherheitsgründen storniert, nachdem Ankara russische Flugabwehrraketen gekauft hat. Als Kompromiss könnte die Türkei ein Upgrade für die bestehende F-16-Flotte erhalten, wenn der US-Kongress dem zustimmt - noch am Mittwoch gab es bei einem Außenministertreffen in Washington dabei aber keinen Durchbruch. "Neben diesen drei offensichtlichen Gründen könnte aber auch eine Rolle spielen, dass die Russen die NATO-Erweiterung verhindern wollen und Erdogan ihnen da entgegenkommt", sagt Brakel. Beweisen lasse sich das allerdings nicht.
Mehr Druck? Wenig zielführend
"Es ist immer schwierig zu sagen, was an der türkischen Linie Taktik ist und was wirkliche Überzeugung", fasst Brakel die komplexe Lage zusammen. Für die türkische Außenpolitik sei es nicht ungewöhnlich, dass sie versucht, den Preis hochzutreiben. Als einen Grund dafür sieht er ein unterschiedliches Staatsverständnis: "In der Türkei regiert der Präsident bis ins Detail einfach durch. Daher kommt die Überzeugung, dass es in anderen Staaten auch so laufen müsste." Den Verweis westlicher Staaten wie Schweden auf Pressefreiheit, Menschenrechte oder den Rechtsstaat - etwa in der Frage von Abschiebungen - halte man in Ankara deshalb für vorgeschoben, so Brakel.
Was also tun? Mehr Druck auf die Türkei halten die Experten für wenig zielführend, zumindest bis zu den türkischen Wahlen. "Druck ist vielleicht auch gar nicht notwendig, weil Finnland und Schweden faktisch ja bereits unter dem Sicherheitsschirm der NATO stehen", erklärt Brakel. Sollte Erdogan die Wahlen gewinnen und danach kein Umschwenken stattfinden, werde sich der Druck aber erheblich erhöhen. "Ich könnte mir gut vorstellen, dass dann auch die Amerikaner den Holzhammer auspacken."
Gereizte Töne gebe es nicht nur in Schweden, sondern hinter vorgehaltener Hand auch in vielen anderen westlichen Hauptstädten, erklärt Experte Markus Kaim. Da werde schon gefragt, was die Türkei eigentlich für ein Verbündeter ist. "Erdogan verlangt einen hohen Preis und stellt den inneren Zusammenhalt der NATO in Frage, obwohl die Geschlossenheit im Moment besonders wichtig ist." Trotzdem seien viele Verbündete zurückhaltend, "weil Erdogan - neben US-Präsident Joe Biden - der letzte westliche Gesprächspartner ist, den Putin ernst nimmt". Wenn man perspektivisch diesen Krieg zu Ende bringen wolle, dann werde Erdogan dabei eine wichtige Rolle spielen, so Kaim.
Doch auch aus strategisch-militärischer Sicht sei die Türkei ein wichtiger Partner, nicht nur wegen ihrer Lage am Schwarzen Meer. "Die türkische Rüstungsindustrie hat einen enormen Aufschwung erlebt, gerade im Bereich Drohnen", so Kaim. "Eine große Sorge der NATO ist deshalb, dass die Türkei sich vom Westen wegbewegt, hin zu Russland und - zugespitzt formuliert - zum Handlanger von Präsident Putin innerhalb der NATO wird."
Für Erdogan hat der Westen abgewirtschaftet
Und was hält die Türkei von der NATO? "Ideologisch ist Erdogan nicht von der NATO überzeugt, weil er der Ansicht ist, dass der Westen abgewirtschaftet hat und eine neue Zeit mit einer neuen Weltordnung anbricht", sagt Brakel. Der Präsident sehe die Türkei nicht mehr als Teil des Westens, sondern als Staat, der je nach Lage mal mit den Russen, mal mit dem Westen kooperiert. Andererseits gebe es im Militär wichtige Kräfte, die die NATO-Mitgliedschaft nie in Frage stellen würden.
"Im Prinzip bleibt der Umgang der NATO mit der Türkei ein sehr schwieriger Balanceakt", so Brakel, denn die NATO sei für das Land ebenfalls unverzichtbar. "Auch wenn man Kontakte zu den Russen hat, ist klar, dass man sie nur auf Distanz halten kann, solange man in der NATO ist. Das könnte die türkische Armee allein nicht bewältigen." Zu den möglichen Krisenherden zwischen beiden Ländern zählt er den Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan, unterschiedliche Interessen in Syrien und die Vorherrschaft im Schwarzen Meer. "Für all diese Konfliktzonen braucht die Türkei den NATO-Sicherheitsschirm."
Es ist dieses ambivalente Verhältnis der Türkei zur NATO, das den Beitritt Schwedens und Finnlands verzögert. Weitere Gespräche gibt es nicht. "Sowohl Finnlands Außenminister als auch Schwedens Premierminister haben gesagt, dass es derzeit nichts zu bieten und nichts zu besprechen gibt. Der Ball liegt also bei Erdogan", sagt Minna Ålander. Wegen einer Erdogan-Puppe, die Unbekannte in Stockholm aufgehängt haben, platzte zudem ein Besuch der Parlamentssprecher Finnlands und Schwedens in der Türkei. Dass der Beitritt irgendwann stattfinden wird, "möglichst beide Länder im Gleichschritt", daran gebe es aber keinen Zweifel.
Ohnehin ist die Debatte mittlerweile nicht mehr so brisant wie noch im vergangenen Frühjahr, kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine. "Die Stimmung hat sich ein bisschen gelegt. Man hat gemerkt, dass Russland nicht in der Lage ist, entschieden gegen den finnischen NATO-Beitritt vorzugehen", sagt Ålander. Das Land habe sich auf alles Mögliche vorbereitet, etwa auf russische Störversuche. "Allerdings ist die Lage unerwartet entspannt geblieben. Auch an der Grenze ist die Situation ruhig." Russland sei in der Ukraine so gebunden, dass es offensichtlich keine Kapazität hat, Finnland und Schweden unter Druck zu setzen.
Quelle: ntv.de