Europäer bieten Kiew "Truppe" anIn Berlin kippt die Stimmung - zu Putins Nachteil
Von Sebastian Huld
Das kam unerwartet: In Berlin nähern sich Trumps wichtigste Verhandler, der ukrainische Präsident Selenskyj und die Europäer binnen weniger Stunden einander an. Das Ergebnis: gemeinsame Vorschläge für einen Waffenstillstand in der Ukraine, zu denen Bundeskanzler Merz tatkräftig beigetragen hat.
Dieses breite Lachen im Gesicht von Friedrich Merz, als er Steve Witkoff und Jared Kushner vor dem Kanzleramt begrüßt: Dem deutschen Regierungschef ist da etwas gelungen, von dem die Welt in diesen Minuten noch nichts weiß. Etwas, von dem auch Merz nicht sagen kann, ob es von Dauer oder erfolgreich sein wird. Doch im Kanzleramt in Berlin stehen an diesem Montagabend die beiden wichtigsten außenpolitischen Verhandler von US-Präsident Donald Trump plötzlich Seite an Seite mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenksyj. Dazu kommen zehn europäische Staats- und Regierungschefs sowie der Nato-Chef, der EU-Ratspräsident und die Kommissionspräsidentin. Und noch wichtiger: Sie alle stehen hinter einer gemeinsamen Erklärung voller konkreter Vorschläge für einen Waffenstillstand in der Ukraine.
"Zum ersten Mal wird die Möglichkeit eines Waffenstillstands vorstellbar", sagt Merz am Nachmittag während einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem ukrainischen Präsidenten im Kanzleramt. Beide äußern sich da erstmals zu den Ereignissen der vorangegangenen 24 Stunden in Berlin. Selenskyj mag gar nicht genug erklären, wie zufrieden er damit ist, endlich mit Trumps Sondergesandten Witkoff und Trumps Schwiegersohn Kushner persönlich gesprochen zu haben. "Danke dafür, Friedrich", sagt Selenskyj. So wie er sich überhaupt sehr viel bedankt an diesem Tag bei Deutschland, seinen Menschen und seiner Regierung.
Merz, der Möglichmacher
Merz und der deutschen Bundesregierung kommt in diesen Tagen klar die Rolle der Möglichmacher zu: In die Ukraine mochten Witkoff, der sich seiner exzellenten Beziehungen zu Russlands Machthaber Wladimir Putin rühmt, und Kushner nicht reisen. So stellt es zumindest der ukrainische Staatschef in Berlin dar. Also sprach man stattdessen am deutschen Regierungssitz. Die Bundesregierung ebnete die Kommunikation und übernahm die Organisation. Das alles muss eine sehr eigene Dynamik bekommen haben seit Beginn der Gespräche am Sonntag.
Auf dem Bild vom Verhandlungsbeginn im kleinen Kabinettssaal des Kanzleramts am Sonntag jedenfalls sitzen Merz und seine Berater noch neben Selenskyj und seiner Delegation. Die Amerikaner sind ihnen gegenüber platziert. Es wirkt sehr frontal alles, nicht so, als ob ausschließlich Unterstützer der ukrainischen Freiheit und Souveränität im Raum säßen. Doch Bilder können täuschen. Schon Montagmittag zirkeln durch das politische Berlin Informationen, wonach die US-Seite mehr mitgebracht habe als nur ein offenes Ohr für Kiews Belange. Dabei wäre auch das schon viel angesichts der immer wieder erstaunlichen Übereinstimmung zwischen Washington und Moskau.
Und tatsächlich: Die US-Vertreter sind konkrete Sicherheitsgarantien zu geben bereit. Und die sind für Selenskyj das A und O, wie er im Kanzleramt, neben seinem Freund "Friedrich" stehend, erläutert: "Bevor wir irgendwelche Schritte auf dem Schlachtfeld gehen, müssen wir sehr klar sehen, welche Sicherheitsgarantien es gibt." Und Merz sieht das ganz genauso, wie er deutlich macht: "Wir werden die Fehler von Minsk genau an dieser Stelle nicht wiederholen", sagt der Kanzler mit Blick auf das immer wieder gebrochene Abkommen von 2015, benannt nach der belarussischen Hauptstadt, wo es noch unter Beteiligung Angela Merkels geschmiedet wurde. Merz will es besser machen als die Vorvorgängerin.
Bundeswehr in Ukraine wird Möglichkeit
Einer am selben Abend von den Europäern veröffentlichten Erklärung zufolge sind die Amerikaner bereit, einen "Mechanismus zur Waffenstillstandsüberwachung und -verifikation" anzuführen. Zudem hat die US-Regierung demnach zugestimmt, eine von Europa geführte "multinationale Truppe für die Ukraine" zu unterstützen. Mehrere europäische Staaten erklären sich bereit, die Ukraine mit eigenen Streitkräften zu Boden, zu Land und zu Wasser zu unterstützen. Wenn es so kommt, wären Deutschland und die Bundeswehr unweigerlich mit im Boot- auch wenn das an diesem Abend so noch nicht offiziell ist. Beide Punkte sind denkbar weitreichend und zeichneten sich am Vortag so nicht ab, zumindest nicht öffentlich.
"Das sieht gar nicht so schlecht aus", sagt Selenskyj am Nachmittag noch etwas kryptisch über die da noch unveröffentlichten Zusagen aus Washington und Europa. Merz spricht von einer "wirklich weitreichenden, substantiellen Vereinbarung, die wir bisher nicht hatten". Von Nato-ähnlichen Sicherheitsgarantien ist die Rede. Denn klar ist: Eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine auszuschließen, gehört für Putin zu den Prämissen jedweder Vereinbarung.
Dass der Kreml aber europäische oder amerikanische Soldaten auf der ukrainischen Seite der russisch-ukrainischen Grenzen akzeptiert, beziehungsweise entlang einer Waffenstillstandlinie, scheint ebenfalls höchst fraglich: Im Februar hatte der russische Außenminister Sergej Lawrow die Stationierung von Truppen aus Nato-Ländern als "inakzeptabel" bezeichnet.
Eine noch größere Hürde: Russlands Forderung nach einer vollständigen Überlassung des Donbass, also auch jener noch nicht von Moskau eroberten Gebiete der Region Donezk. Die territoriale Frage bezeichnet Selenskyj in Berlin als "sehr schwierig". Merz betont, nur die Ukraine könne über Gebietsverzichte entscheiden, darüber herrsche Einigkeit. Selenskyj sagt: "Ich sehe es nicht so, dass die USA etwas verlangt haben." Die USA träten nur als Vermittler auf, die die Standpunkte zwischen Moskau und Kiew übermittelten.
Mal potenzielle Schutzmacht, mal Vermittler: Es bleibt an dem diesem Montag in der Vorweihnachtswoche unklar, in welcher Beziehung die US-Regierung gerade zur Ukraine steht. Klar scheint nur: Sie steht nicht fest an der Seite Putins, wenn es darum geht, unbedingt einen Waffenstillstand und etwaige Geschäftsmöglichkeiten durchzusetzen und die Europäer von den Verhandlungen fernzuhalten. Der Eindruck eines "Deals" zwischen Putin und Trump über die Köpfe der Europäer und insbesondere der ukrainischen Regierung hinweg hatte sich zuletzt aufgedrängt und wenig Hoffnung auf einen würdevollen Frieden für die Ukraine gegeben.
"Würde" ist ein Wort, das Selenskyj sowohl im Kanzleramt als auch zuvor bei seinem Auftritt im deutsch-ukrainischen Wirtschaftsforum wiederholt benutzt. "Die Würde der Ukraine wahren, das ist hier wichtig", sagt Selenskyj, dessen Truppen seit Monaten vor allem eine Richtung kennen: langsam und unter hohen Verlusten rückwärts.
Merz macht Europäern Druck
So groß der Erfolg der Verhandlungen in Berlin ist, so fraglich bleibt, ob er zu konkreten Fortschritten führt, gar zu einem baldigen, dauerhaften Waffenstillstand. Merz weiß das und kündigt an: "Deswegen werden wir Europäer den Druck auf Russland weiter erhöhen." Beim Gipfeltreffen der europäischen Staats- und Regierungschefs am Donnerstag in Brüssel will er eine Einigung über die Verwendung der rund 210 Milliarden Euro russischen Vermögens erzielen, die in der EU eingefroren sind - das allermeiste davon in Belgien. Die Regierungen Belgiens, Italiens, Maltas und Bulgariens haben lautstark Zweifel angemeldet. Mit den Regierungen der Slowakei und Ungarns herrscht in Sachen Ukraine-Unterstützung eh Uneinigkeit.
Merz kündigt in Berlin an, per Mehrheitsentscheidung werde das "russische Staatsvermögen dauerhaft immobilisiert". Der Schritt gilt als rechtliche Grundlage für den Plan, die russischen Vermögenswerte für einen Kredit an die Ukraine zu nutzen. Merz sagt, es gehe darum, das "Geld nutzbar zu machen, um die Ukraine mindestens die nächsten zwei Jahre zu unterstützen, wenn das denn nötig sein sollte". Sollte hierüber keine Einigung herbeigeführt werden, demonstriere Europa der Welt seine "Handlungsunfähigkeit", wenn es darauf ankomme, die eigenen Interessen zu verteidigen. Starke Worte, mit denen Merz nach Brüssel zieht und es auf einen Showdown anlegt, dessen Ergebnis Eindruck machen soll auf Putin. Merz wird seinen Plan am Mittwoch dem Bundestag erläutern müssen, wenn er eine Regierungserklärung abgibt.
Im Bundestagsplenum wird er naturgemäß nicht das letzte Wort haben. Im Bundeskanzleramt hat Merz es auch nicht. Gefragt, ob eine Waffenruhe vor Weihnachten möglich sei, appelliert der Bundeskanzler an Putin, er möge den Menschen in der Ukraine wenigstens über Weihnachten Ruhe geben. "Vielleicht hat die russische Staatsführung einen Rest von Anstand", so Merz. Da macht der schon im Gehen begriffene Selenskyj kehrt und spricht in das noch offene Mikrofon: "Solche Reste gibt es nicht. Aber alles ist möglich."