Putins Krieg, Putins Fehler "Für Russland ist der Krieg der Anfang vom Ende"
14.03.2023, 17:38 Uhr
Am Montag empfing Putin den tschetschenischen Diktator Kadyrow im Kreml.
(Foto: AP)
Russland-Experte Olaf Kühl sieht Russland durch den Krieg gegen die Ukraine im Niedergang begriffen. Er hofft auf eine Niederlage der Russen - darin sieht er für das Land auch eine Chance: "Wenn der Krieg für Russland damit endet, dass es Teile der Ukraine behalten darf, dann wird sich in Russland nichts ändern."
Über das heutige Russland sagt Kühl im Interview mit ntv.de: "Menschen werden vergiftet, in Lager eingesperrt, das Eigentum ist in keiner Weise geschützt. Mord, Gier und Lüge sind an der Tagesordnung." Und er erzählt, wie er Erich Honecker einst in Unterhosen sah.
ntv.de: Sie haben ein Buch über Russland geschrieben, das den Titel trägt "Z: Kurze Geschichte Russlands, von seinem Ende her gesehen". Verzeihen Sie die plumpe Frage: Wie wird Russland enden?
Olaf Kühl: Das weiß niemand, aber es wird auf keinen Fall ein gutes Ende nehmen. Dieser Krieg, glaube ich, ist der Anfang vom Ende des Russlands, wie wir es heute sehen. Ökonomisch geht Russland schon jetzt langsam zugrunde, vielleicht wird es auch politisch zerfallen. Wenn man sieht, wie sich Söldnertruppen bilden - nicht nur Wagner, auch Gazprom rekrutiert offenbar Söldner -, dann erinnert das schon etwas an den russischen Bürgerkrieg nach 1917.

Olaf Kühl arbeitete von Ende der 1980er Jahre bis 2021 für unterschiedliche Regierende Bürgermeister von Berlin, zunächst als Dolmetscher und Übersetzer, später als Russland-Referent. Zudem hat er zahlreiche literarische Werke aus dem Russischen und aus dem Polnischen ins Deutsche übersetzt und selbst Romane geschrieben.
(Foto: Tim Altenhof)
Sie schreiben, für Russland sei es "die einzige Rettung, endgültig besiegt zu werden". Aber wie soll eine Nuklearmacht endgültig besiegt werden?
Frankreichs Präsident Macron hat davon gesprochen, dass Putin eine Möglichkeit haben müsse, sein Gesicht zu wahren. Eine solche Gesichtswahrung würde aber nicht nur Putin, sondern dem ganzen Land die Gelegenheit geben, alles beim Alten zu lassen. Die Russländer - also die Bürger der Russischen Föderation - haben schon die stalinistischen Verbrechen nicht aufgearbeitet. Im Gegenteil: Der Stalinismus wird, von Putin gefördert, heute wieder verklärt. Wenn der Krieg für Russland damit endet, dass es Teile der Ukraine behalten darf, dann wird sich in Russland nichts ändern. Die Nuklearwaffen sind hier allerdings der wunde Punkt. Aber dennoch: Die Sowjetunion ist auch daran zugrunde gegangen, dass sie sich mit dem Afghanistankrieg übernommen hatte. Zudem konnte sie ökonomisch im Wettrüsten mit den USA nicht mithalten. Meine Hoffnung ist, dass es dieses Mal ähnlich sein wird.
Kann es Frieden in der Ukraine geben, solange Putin lebt oder an der Macht ist?
Das halte ich für ausgeschlossen. Dieser Krieg ist zu großen Teilen Folge der Psychopathologie dieses Menschen. Putin hat einen Hass auf die Ukraine, weil sie nicht gefügig war, weil sie nicht zurück ins Großreich der ehemaligen Sowjetunion wollte. Ein Volk, das in unmittelbarer Nachbarschaft zu Russland für seine Freiheit kämpft, ist eine unmittelbare Bedrohung für Putin. Ohne diese persönlichen Motive wäre der Krieg wohl gar nicht begonnen worden, denn unter allen rationalen Gesichtspunkten ist er für Russland ein Fehler.
Glauben Sie, dass Putin 2001 - dem Jahr seines Auftritts im Bundestag - ein anderer war als der Putin von heute?
Er war damals noch entspannter, weil er das Gefühl hatte, dass er auf einer aufsteigenden Welle ist. Ihm kam damals die Entwicklung der Erdgas- und Erdölpreise Anfang der 2000er Jahre zugute: Plötzlich hatte Russland viel Geld, konnte seine Polizisten und seine Lehrer besser bezahlen, alles sah nach Stabilität aus. Mit seiner Rede im Bundestag wollte Putin die Deutschen davon überzeugen, wieder zu einer Zusammenarbeit zu kommen, wie es sie auch im 19. und im 20. Jahrhundert zwischen Russland und Deutschland so oft gegeben hatte. Aber das war kein anderer Putin. Das Einzige, was sich geändert hat, ist, dass er verbittert ist. Er hat gemerkt, dass er mit seiner Politik der russischen Machtausdehnung nicht weiterkommt. Und wie das so ist mit alternden, scheiternden Männern: Die verbittern.
Wie sind die Anschläge auf Wohnhäuser 1999 in den Aufstieg Putins einzuordnen?
Für den russischen Präsidenten Boris Jelzin ging es damals darum, einen Nachfolger zu finden, der seine korrupte Familie in Ruhe ließ und ihm selbst Immunität gewährte. Der Geheimdienst FSB machte ihm drei Vorschläge, die alle nacheinander als Ministerpräsident eingesetzt wurden: Jewgeni Primakow, Sergei Stepaschin und schließlich Putin - alle drei kamen aus dem Geheimdienst. Als Putin im August 1999 Ministerpräsident wurde, war er so gut wie völlig unbekannt. Um ihn aufzubauen, wurde viel Geld in eine Medienkampagne gesteckt. Und es gab diese Operationen, die höchstwahrscheinlich staatlich gesteuert waren: Im September 1999, wenige Monate vor der Präsidentschaftswahl, flogen mehrere Wohnhäuser in Moskau und im Süden Russlands in die Luft. Insgesamt starben dabei 300 Menschen. Im Keller der Häuser waren jeweils Säcke mit dem Sprengstoff Hexogen deponiert worden. Einer dieser Anschläge scheiterte, weil Anwohner in Rjasan südlich von Moskau drei Personen dabei beobachteten, wie sie Säcke in den Keller eines Hauses trugen.
Säcke mit Hexogen.
Vermutlich. Vor allem rund um diesen gescheiterten Anschlag gibt es viele Hinweise, dass nicht tschetschenische Terroristen dahintersteckten, sondern wahrscheinlich der russische Geheimdienst, möglicherweise in Zusammenarbeit mit tschetschenischen Akteuren. Die Polizei und das örtliche Sprengstoffkommando sagten jedenfalls, dass Hexogen in den Säcken sei. Trotzdem behauptete der FSB später, das sei bloß Zucker gewesen und überhaupt habe es sich nur um eine Übung gehandelt.
Kurz nach dem Vorfall in Rjasan verkündete Putin im russischen Fernsehen, dass die russische Luftwaffe damit begonnen hatte, die tschetschenische Hauptstadt Grosny zu bombardieren. Die Anschläge auf die Wohnhäuser halfen ihm, sich als starker Mann zu inszenieren.
Damals war Nikolai Patruschew FSB-Chef, er ist bis heute einer der engsten Vertrauten Putins. Was sagt das über das System Putin?
Es sagt, dass Putin selbst vielleicht gar nicht alles unter Kontrolle hat. Putin steckt in einem Netz von Geheimdienstleuten, mit denen er seit Beginn seiner Laufbahn in Petersburg, damals Leningrad, verstrickt ist. Patruschew war Putins unmittelbarer Nachfolger als FSB-Chef, die Anschläge auf die Hochhäuser begannen direkt nach Putins Amtszeit. Man kann also davon ausgehen, dass die beiden Komplizen sind, auch gegenseitig erpressbar.
Dass der FSB wahrscheinlich hinter den Anschlägen steckt, ist, wie viele Details aus dem System Putin, seit Jahren, seit Jahrzehnten bekannt. Wie kann es sein, dass wir im Westen das alles wussten und trotzdem ignoriert haben?
Das ist die große Frage. Auch das schier unermessliche Ausmaß der Korruption in Russland war bekannt, hat hierzulande aber niemanden gestört - weder Gerhard Schröder noch Angela Merkel. Der ursprüngliche Auslöser für mein Buch war eine Äußerung von Papst Franziskus. Der hatte gesagt, beim Krieg in der Ukraine gebe es "keine metaphysischen Guten und Bösen". Da habe ich mich gefragt: Wie kann ein Papst angesichts dessen, was in Russland passiert, so etwas sagen? Die russische Ideologie, die ja weitgehend von der russisch-orthodoxen Kirche getragen wird, verkündet immer wieder, dass Russland die traditionellen christlichen Werte vertrete, die im Westen den Bach runtergehen würden. Der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill sagte in einer Predigt, Russland habe die Ukraine überfallen, um die Gläubigen vor Gay-Pride-Paraden zu schützen. Ich fand, man sollte Russland mal an seinen eigenen Kategorien überprüfen. Wie steht es in Russland um die Einhaltung von Geboten wie "du sollst nicht töten", "du sollst nicht stehlen" und "du sollst nicht lügen"?
Und?
Menschen werden vergiftet, in Lager eingesperrt, das Eigentum ist in keiner Weise geschützt. Mord, Gier und Lüge sind an der Tagesordnung. Warum man davor im Westen so lange die Augen verschlossen hat, ist mir ein Rätsel. Ist es das Bedürfnis nach Bequemlichkeit? Sind es alte Stereotype, die man in Russland sieht?
Wann hat es angefangen, dass Mord, Gier und Lüge die russische Politik bestimmen?
Das geht zurück auf die 1980er Jahre. Als Gorbatschow mit seiner Perestroika anfing, merkte der KGB schnell, dass das alles im Chaos enden könnte. Sie fingen deshalb an, das Kapital der KPdSU in den Westen zu bringen - wie die SED das in kleinerem Maßstab nach der Wende ja auch versucht hat. Bei dieser Verlagerung von Kapital kamen dem KGB mafiöse Strukturen zu Hilfe - Catherine Belton hat das in ihrem Buch hervorragend beschrieben. So entstanden damals die ersten Verbindungen zwischen dem Geheimdienst und der organisierten Kriminalität.
Ursprünglich hatte der KGB unter der Kontrolle des Politbüros gestanden. Diese Kontrolle entfiel, als die KPdSU erst entmachtet und dann verboten wurde. Der KGB hatte nun freie Bahn. Und anders als in anderen postsowjetischen Ländern gab es in Russland keine Überprüfung von ehemaligen KGB-Angehörigen. Die Abgeordnete Galina Starowoitowa, die ein solches Lustrationsgesetz mehrfach in die Duma einbrachte, wurde 1998 ermordet.
Haben Sie seit Kriegsbeginn eigentlich noch Kontakt zu Freunden in Russland?
Nur eingeschränkt. Die Menschen trauen sich nicht mehr, frei zu sprechen. Eine Freundin hat mir neulich erzählt, dass Freundinnen von ihr ein Kaffeekränzchen ausgerichtet haben. Zu Gast waren gebildete Frauen, Ärztinnen im Alter von fünfzig, sechzig Jahren. Von neun waren sieben für den Krieg. Das würde zu den Zahlen des Umfrageinstituts Lewada passen, nach denen 75 Prozent der Russen den Krieg unterstützen. Ich glaube, den Krieg als solchen wollen die Russen nicht. Aber wenn er schon angefangen hat, wollen sie, dass er siegreich beendet wird.
Kritik am Krieg beschränkt sich auf eine schmale Schicht. Wenn ich früher liberale Politiker aus Russland gefragt habe, ob sie die Krim zurückgeben würden, dann haben die immer abgewiegelt. Selbst liberale Russen sind infiziert vom imperialen Denken, das in Russland herrscht. Sie wollen, dass ihr Land groß und stark ist, ihr individuelles Wohlergehen spielt nur eine untergeordnete Rolle. Dieses Denken ist das Haupthindernis für eine Verhandlungslösung. Russland will die totale Zerschmetterung der Ukraine.
Können Sie einschätzen, wie stark Russland vom Putinismus durchdrungen ist, wie der Historiker Karl Schlögel die in Russland herrschende Ideologie nennt?
In Russland war es immer so, dass die Menschen den Zaren und den Herrscher verehrt haben, der gerade an der Macht war. Wenn Putin gestürzt werden sollte, dann wäre möglicherweise auch der Putinismus weg. Was aber nicht weg wäre, ist die Obrigkeitshörigkeit. Man kann den Russen diese Mentalität natürlich nicht pauschal und schon gar nicht ethnisch unterstellen, aber anders als die Menschen in der Ukraine oder in Kirgistan hat diese Obrigkeitshörigkeit in Russland eine gewisse Tradition. Ich fürchte, dass die Russen nach dem Sturz oder nach dem Tod Putins einfach ihr Fähnchen wechseln werden.
Eine Frage muss ich noch stellen, die mit Russland nur bedingt zu tun hat: Sie haben 1992 Erich Honecker in Unterhosen gesehen. Wie kam es dazu?
1992 war ich im Sprachendienst der Berliner Senatskanzlei beschäftigt und bekam einen Anruf vom Polizeipräsidium, ob ich am nächsten Tag einen Einsatz machen könnte. Ich habe nachgefragt: Worum geht's denn? Die Antwort: Das können wir Ihnen am Telefon nicht sagen. Da war ich natürlich neugierig und habe zugesagt. Am nächsten Tag fuhr ich mit einem Kriminalrat zum Flughafen Tegel. Da stand diese Tupolew-Maschine, einziger Passagier war Erich Honecker, der von Moskau zurück nach Deutschland überstellt worden war. Meine Aufgabe war es, die russische Besatzung des Flugzeugs zu fragen, ob Honecker während der Reise irgendwelche Suizid-Absichten geäußert hatte. Man hatte Angst, dass er sich auf dem Weg nach Moabit, ins Gefängnis, das Leben nimmt. Eine Ärztin, die ebenfalls hinzugezogen worden war, bat Honecker, sich auszuziehen - sie sollte prüfen, ob er eine Giftpille oder dergleichen dabeihätte.
Wirkte er suizidgefährdet?
Überhaupt nicht. Obwohl die Situation für ihn eigentlich entwürdigend war, war Honecker völlig entspannt und machte die ganze Zeit Witze. Ich musste darauf achten, dass ich nicht zu viel lächelte, weil ich dachte, ich kann ja jetzt nicht mit Erich Honecker lachen. Aber ein bisschen habe ich wahrscheinlich doch gegrinst. Es war wirklich erstaunlich, dass dieser Mann, der in den Medien immer so trocken und langweilig rüberkam, als Mensch in seiner Nacktheit plötzlich Größe bewies. Das war ein Erlebnis für mich.
Mit Olaf Kühl sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de