

Gefeiert als "Gorbi", der die deutsche Einheit ermöglichte, verhasst als der Reformer, der das Ende der Sowjetunion einläutete: Das ist das Vermächtnis des Michail Gorbatschow. Der Staatsmann und letzte Präsident des untergegangenen Sowjetreichs, Michail Gorbatschow, ist tot.
Am 11. März 1985 wird Michail Gorbatschow Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) und damit zum mächtigsten Mann des flächenmäßig größten Staates der Erde. Er sollte später einen maßgeblichen Anteil an der Beendigung des Kalten Krieges zwischen Ost und West und der Beseitigung des so genannten Eisernen Vorhangs in Europa haben.
Der neue starke Mann der UdSSR ist bei seinem Amtsantritt gerade einmal 54 Jahre alt. Seine Ernennung zum Parteichef bedeutet eine tiefe Zäsur für die sowjetische Politik. Keiner ahnt, dass Gorbatschow der letzte Kommunistenchef in der Sowjetunion sein wird. Während seiner Amtszeit wird die Supermacht von der Bildfläche verschwinden; das sowjetische Imperium wird zusammenbrechen.
Im Westen gilt der Mann aus dem südrussischen Dorf Priwolnoje (Region Stawropol) bereits längere Zeit als heißer Tipp für die KPdSU-Führung. Seit 1952 Parteimitglied, agiert Gorbatschow 22 Jahre lang als Funktionär in Stawropol. Der Agrarwirtschaftler wird 1971 Mitglied des Zentralkomitees der KPdSU und 1980 Mitglied des Politbüros - dem engsten Führungszirkel der Partei.
Michail Gorbatschow übernimmt ein Riesenreich mit großen ökonomischen Problemen. Die Sowjetunion hat auf diesem Gebiet einen hoffnungslosen Rückstand zur anderen Supermacht USA. Ganze Wirtschaftszweige sind in der Krise; die Produktivität ist deutlich geringer als im Westen.
Seit Jahren werden die Betriebe auf Verschleiß gefahren. Die Investitionen sind zu gering. Die UdSSR ist zwar reich gesegnet an Bodenschätzen wie Erdöl, Erdgas und Edelmetallen. Aber die Förderanlagen sind weitgehend veraltet.
Zudem führt die Sowjetunion seit Ende 1979 einen zermürbenden Krieg in Afghanistan. Mit allen Mitteln soll ein moskauhöriges Regime in Kabul an der Macht gehalten werden. Dieser Krieg, der fast neun Jahre andauern soll, verschlingt Unsummen an Geld und Ressourcen.
Viele sowjetische Soldaten verlieren im südlichen Nachbarland ihr Leben. Nur mit großer Mühe können die afghanischen Aufständischen niedergehalten werden. Die Moral der Armeeangehörigen sinkt rapide.
Innenpolitisch herrschen Eiszeit und Stagnation. Die Alleinherrschaft der KPdSU ist in der Verfassung festgeschrieben. Das starre sowjetische System verhindert die Entwicklung von Kreativität; Unternehmergeist ist nicht gefragt.
Dies wirkt sich negativ auf die Versorgungslage aus. Waren des täglichen Bedarfs sind schwer zu bekommen. Das Einkaufen in der Sowjetunion ist eine Tortur. Nur außergewöhnliche Ereignisse, wie die Olympischen Spiele 1980 in Moskau, bringen auf diesem Gebiet etwas Linderung.
Die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln kann mit nur allergrößter Anstrengung aufrechterhalten werden. An manchen Tagen sind die Tiefkühlfächer leer. Der Kauf von Fleisch und Wurst erweist sich als sehr schwierig, manchmal sogar als unmöglich - ein Armutszeugnis für eine Großmacht. Diese Misere ist allerdings systembedingt.
Die massive Aufrüstung belastet den sowjetischen Staatshaushalt enorm. Der Militärisch-industrielle Komplex verschlingt Unsummen. Das Wettrüsten mit den Vereinigten Staaten verschärft die Lage weiter. Die Lage der Wirtschaft wird immer desolater. Die zentrale Verwaltungswirtschaft - auch Planwirtschaft genannt - stößt an ihre Grenzen.
Gorbatschow ist der achte Chef der sowjetischen Kommunisten. Gründer der Partei und auch der Sowjetunion ist Wladimir Uljanow, besser unter seinem Kampfnamen Lenin bekannt. Lenin übernimmt nach Monaten politischer Wirren am 7. November 1917 die Macht. Die von ihm angeführten Bolschewiki putschen in der sogenannten Großen Sozalistischen Oktoberrevolution die provisorische Regierung von Alexander Kerenski aus dem Amt.
Lenin installiert in Sowjetrussland die Diktatur des Proletariats. Die Bolschewiki behaupten im Bürgerkrieg von 1918 bis 1921 die Macht. Nach Ende des Krieges wird am 30. Dezember 1922 die Sowjetunion gegründet. Allerdings ist Lenin zu dieser Zeit bereits schwer krank. Er stirbt am 21. Januar 1924. Sein Nachfolger wird Josef Stalin. Dieser setzt sich nach einem innerparteilichen Machtkampf gegen Leo Trotzki durch.
Stalin übernimmt bereits 1922 das neu geschaffene Amt des Generalsekretärs. Noch zu Lenins Lebzeiten baut er die Macht innerhalb der Kommunistischen Partei Russlands (Bolschewiki) (KPR (B)) aus. Ab 1925 wird die KPR (B) in Kommunistische Partei der Sowjetunion (Bolschewiki) (KPdSU (B)) umbenannt. Stalin stattet das Amt mit dikatorischen Machtbefugnissen aus.
Mit aller Gewalt setzt der Georgier die Industrialisierung und Kollektivierung der Landwirtschaft durch. Verbunden ist dies mit einer massiven Hungersnot in den 1920er Jahren. Millionen Menschen finden den Tod. In den 1930er Jahren entledigt sich Stalin der innerparteilichen Opposition. Nach dem gewonnenen 2. Weltkrieg steigt die Sowjetunion unter Stalins Führung zur Weltmacht auf.
Nach Stalins Tod im März 1953 tobt innerhalb der Partei, die seit 1952 den Namen Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) trägt, ein Machtkampf um die Führung. Daraus geht Nikita Chruschtschow als Sieger hervor. Er setzt sich gegen den nur neun Tage als KPdSU-Chef amtierenden Georgi Malenkow durch. Legendär ist Chruschtschows Geheimrede auf dem XX. Parteitag 1956. In ihr rechnet er mit der Stalin-Ära ab. Chruschtschow kündigt Reformen an.
An der KPdSU-Alleinherrschaft rüttelt Chruschtschow jedoch nicht. Auch den Ländern innerhalb des sowjetischen Herrschaftsbereichs werden keine Freiheiten gewährt. Die Aufstände in der DDR (1953) und in Ungarn (1956) werden von sowjetischen Truppen gewaltsam niedergeschlagen. Unter Chruschtschow steigt die UdSSR zur führenden Macht in der Raumfahrt auf. Ökonomische Reformen versanden allerdings; an der zentralen Planwirtschaft wird nicht gerüttelt.
Im Oktober 1964 wird Chruschtschow gestürzt. Leonid Breschnew wird Erster Sekretär (ab 1966 Generalsekretär) des Zentralkomitees der KPdSU. Er verfolgt Chruschtschows Versuch der Entstalinisierung nicht weiter. Im Gegenteil: Unter Breschnew wird die ohnehin geringe Meinungsfreiheit in der Sowjetunion weiter eingeschränkt. Die Ära Breschnew geht als Phase der Stagnation in Partei und Staat in die Geschichte ein.
In den 1970er Jahren versucht Breschnew (hier mit Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher) eine Verbesserung der Beziehungen zum Westen. Mit den USA werden Abrüstungsabkommen geschlossen. Dem kurzzeitigen Tauwetter - Breschnew unterzeichnet für die UdSSR 1975 die Schussakte von Helsinki - schließt sich gegen Ende des Jahrzehnts eine neue Eiszeit in den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen an.
Am 10. November 1982 stirbt Breschnew. Er hinterlässt ein militärisch starkes, aber ökonomisch marodes Land. Sein Nachfolger wird Juri Andropow (vorne rechts), unter Breschnew Chef des Komitees für Staatssicherheit (KGB). Andropow sieht seine Hauptaufgabe in der Bekämpfung der grassierenden Korruption. Zudem plant er eine größere Eigenständigkeit der Betriebe, ohne allerdings die Planwirtschaft in Frage zu stellen. Andropow gilt als Ziehvater von Gorbatschow.
Sowjetische Quellen sprechen allerdings von einer Entfremdung Andropows von Gorbatschow. Fakt ist, dass Andropow kurzzeitig für frischen Wind in der KPdSU und damit auch in der Sowjetunion sorgt. Er plant zudem drastische Maßnahmen gegen die wachsende Trunksucht in der sowjetischen Bevölkerung. Diese sollen von Gorbatschow später ohne großen Erfolg weiterverfolgt werden. Allerdings bleiben auch unter Andropow politische Reformen aus.
Die Ära Andropow ist sehr kurz. Bereits zum Amtsantritt als KPdSU-Generalsekretär ist er schwer krank. Er stirbt am 9. Februar 1984. Bereits zuvor tritt Andropow monatelang nicht mehr auf. So werden mit seinem Namen nur vorsichtige Reformschritte verbunden, die zudem nur in kleinen Ansätzen realisiert werden.
Nach Andropow übernimmt der Breschnew-Vertraute Konstantin Tschernenko die Macht. Mit dem konservativen Hardliner setzt sich im innerparteilichen Machtkampf noch einmal die alte Garde durch. Unter seiner Führung verharrt die Sowjetunion im Stillstand. Sowohl innen- als auch außenpolitisch werden unter Tschernenko keine Maßnahmen von Bedeutung eingeleitet.
Im Gegenteil: Die Beziehungen zum Westen verschlechtern sich weiter. Die vorsichtigen Reformversuche Andropows werden unter dem schwer kranken Tschernenko nicht weiterverfolgt. Ingesamt wirft die einjährige Amtszeit Tschernenkos die UdSSR ökonomisch weiter zurück. Abrüstungsverhandlungen mit den Amerikanern liegen auf Eis. In Westeuropa findet die Nachrüstung mit Pershing-II-Raketen und Cruise Missiles statt.
Tschernenko, der an einem Lungenemphysem leidet, stirbt am 10. März 1985. Bereits kurz vor Ende seiner Amtszeit verschiebt sich das Machtgefüge in der KPdSU-Spitze. An Gorbatschow führt nun kein Weg mehr vorbei. Folglich wird die Machtfrage nach Tschernenkos Ableben schnell geklärt. Bereits am 11. März übernimmt Gorbatschow die Führung der Partei.
Durch Reisen ins Ausland ist Gorbatschow bei seinem Amtsantritt kein Unbekannter mehr. Wegen seines jungen Alters richtet sich der Westen auf eine lange Ära Gorbatschow ein. Erste Äußerungen des neuen KPdSU-Chefs, die innenpolitische Reformen andeuten, werden mit großem Interesse aufgenommen.
Mit Gorbatschow wird die Phase politischen Siechtums in Moskau beendet. Innerhalb von zweieinhalb Jahren waren mit Breschnew, Andropow und Tschernenko drei Generalsekretäre gestorben. Das KPdSU-Politbüro ist vergreist. Als erste Maßnahme muss der neue Generalsekretär eine Verjüngung der Parteispitze in Angriff nehmen.
Zuerst stellt Gorbatschow den gefährlichsten Widersacher in der KPdSU, Grigori Romanow, kalt. Romanow - von Andropow von Leningrad ins Politbüro geholt - gehört der konservativen Fraktion an und hegt ebenfalls Hoffnungen auf das Amt des Generalsekretärs. Zudem ist er mit der sowjetischen Rüstungsindustrie eng verquickt.
Mit einem geschickten Schachzug wird Gorbatschow Romanow los. Er nutzt dabei eine Verleumdungskampagne gegen den früheren Leningrader Parteichef. Ansonsten agiert Gorbatschow in den ersten Tagen als Parteichef vorsichtig. Einige Politbüromitglieder werden durch jüngere ersetzt. Andere bleiben bzw. werden in repräsentative Ämter "weggelobt".
Einer von ihnen ist der "ewige Außenminister" Andrej Gromyko (vordere Reihe/3. von rechts). Der zu dieser Zeit 75-Jährige wird Vorsitzender des Obersten Sowjets der UdSSR, also Staatsoberhaupt ohne große Kompetenzen. Mit diesem Schachzug sichert sich Gorbatschow erst einmal die Unterstützung der konservativen Kräfte innerhalb der KPdSU.
Im Ausland begreift man schnell, dass Gorbatschow ein KPdSU-Chef neuen Typs ist. Ausdruck dessen sind Auslandsreisen mit seiner Ehefrau Raissa. Andere sowjetische Parteichefs - eine Ausnahme bildet Chruschtschow - waren ohne familiären Anhang aufgetreten. Raissa Gorbatschowa ist auch eine wichtige Beraterin ihres Mannes in politischen Fragen.
Raissa Gorbatschowa unterrichtet bis zum Machtantritt ihres Mannes an der Moskauer Lomonossow-Universität Philosophie und Soziologie. Ihr liegt unter anderem die schwierige Lage der sowjetischen Landbevölkerung am Herzen. Später engagiert sie sich für soziale Kinderprojekte und setzt sich für die Förderung kultureller Einrichtungen ein.
Ihr Mann steht großen innen- und außenpolitischen Herausforderungen gegenüber. "Viel in unserem Land ist faul", äußert er vor seinem Machtantritt gegenüber dem damaligen georgischen KP-Chef Eduard Schewardnadse, der Außenminister wird. Er benötigt für die Durchsetzung von Reformen einen breiten Rückhalt in der Parteispitze. So ist er auch auf die Unterstützung konservativer Politiker wie Gromyko und Jegor Ligatschow (rechts) angewiesen.
Gorbatschow begreift, dass er bei der Durchsetzung seiner Politik die sowjetischen Völker mitnehmen muss. Glasnost (Transparenz) und Perestroika (Umgestaltung) werden die Schlagwörter in der UdSSR. Vielen KPdSU-Spitzenfunktionären geht Gorbatschows Politik zu weit. Sie halten sich allerdings bis zum Ende der 1980er Jahre zurück.
Gorbatschow weiß, dass zur Ankurbelung der maroden sowjetischen Wirtschaft eine Zusammenarbeit mit dem ökonomisch stärkeren Westen nötig ist. Auch drückt die Last hoher Ausgaben für das Militär. Eine Verständigung mit den westlichen Ländern ist notwendig, um die Sowjetunion aus der Sackgasse zu führen. Bereits vor seinem Amtsantritt trifft er im Oktober 1984 in London auf die britische Premierministerin Margaret Thatcher.
Diese erkennt sehr schnell, dass mit Gorbatschow Entspannungspolitik machbar ist. "Mit dem Mann kann man Geschäfte machen", sagt die konservative Politikerin. Thatcher führt stundenlange kontroverse Gespräche mit Gorbatschow über den Kommunismus sowie Wirtschafts- und Abrüstungsfragen. Thatcher, die über gute Verbindungen zu US-Präsident Ronald Reagan verfügt, entwickelt sich zu Gorbatschows Fürsprecherin.
In den USA bleibt man zunächst vorsichtig. Präsident Ronald Reagan registriert zwar die Veränderungen in Moskau. Allerdings signalisiert er zunächst Härte in Rüstungsfragen. Reagan verfolgt das Raketenabwehrsystem SDI, das Moskau ein Dorn im Auge ist. Hinter den Kulissen werden aber Kontakte geknüpft. Diese sind Ausdruck des flexibleren Herangehens Moskau beim Thema Abrüstung.
Auch in der Bundesrepublik Deutschland herrscht in Bezug Gorbatschow große Zurückhaltung. Bundeskanzler Helmut Kohl lässt sich in Interview mit dem US-Magazin "Newsweek" sogar zu einem Vergleich von Gorbatschow mit dem ehemaligen Nazi-Propagandaminister Joseph Goebbels hinreißen. Später bereut der CDU-Politiker seine Äußerung zutiefst. Zwischen Kohl und Gorbatschow sollte sich eine vertrauensvolle Zusammenarbeit entwickeln.
Unterdessen kämpft Gorbatschow um die Zustimmung der Bevölkerung in seinem Land. Neue Bilder sind im sowjetischen Fernsehen zu sehen: Der KPdSU-Generalsekretär im Gespräch mit den Bürgern. Unverblümt werden dabei Probleme aufgezeigt; Gorbatschow bekommt auch Unangenehmes zu hören.
In der Außenpolitik setzt Gorbatschow neue Akzente. Er beruft Eduard Schewardnadse zum neuen Außenminister. Damit schlägt Gorbatschow zwei Fliegen mit einer Klappe. Einerseits bringt er neuen Schwung in die unter Andrej Gromyko festgefahrene sowjetische Außenpolitik. Andererseits erhält ein Angehöriger einer kleinen Sowjetrepublik ein wichtiges Staatsamt.
Zudem verlagert sich die politische Entscheidungsgewalt zunehmend in das Parlament (Oberster Sowjet). Dieses ist bis zum Machtantritt Gorbatschows ohne Macht und tritt nur selten zusammen. Der Oberste Sowjet ist bislang ausführendes Organ der Parteispitze. Dort gefasste Beschlüsse werden im Parlament ohne großen Widerstand "abgenickt". Auch wird der Kongress der Volksdeputierten öfter einberufen.
Der Vorsitzende des Obersten Sowjets, Gromyko, ordnet sich Gorbatschow unter. Sein Stillhalten ist für die erste Phase der neuen Ära bedeutsam, ist Gromyko doch ein Mann der alten KPdSU-Nomenklatura. Innenpolitisch tritt er als formelles Staatsoberhaupt nicht mehr in Erscheinung.
Denn die Macht ist jetzt woanders. Neben dem Parlament bekommt auch die sowjetische Regierung mehr Befugnisse. Im April 1985 löst Nikolai Ryschkow den greisen Nikolai Tichonow als Vorsitzenden des Ministerrats ab. Der zu dieser Zeit 55-jährige Ryschkow gilt als Technokrat. Er ist die rechte Hand Gorbatschows bei der Durchsetzung wirtschaftlicher Reformen.
Gorbatschow stützt sich in seinen ersten Amtsjahren überwiegend auf Reformkräfte. So avanciert Alexander Jakowlew zum engen Berater Gorbatschows. Der ehemalige UdSSR-Botschafter in Kanada hat gute Verbindungen zu westlichen Politikern. Er gilt als Architekt der Perestroika. 1987 zum KPdSU-Politbüromitglied ernannt, tritt Jakowlew nach dem Ende der Sowjetunion aus der Partei aus.
Von 1985 bis 1987 herrscht in der UdSSR Aufbruchstimmung. Gorbatschow ist in der sowjetischen Bevölkerung sehr populär. Seine Demokratisierungsbemühungen stoßen auf Wohlwollen. In Betrieben, Universitäten und Behörden wird intensiv Glasnost praktiziert. In der Sowjetunion setzt man große Hoffnungen in die Perestroika. Die Menschen erwarten eine Verbesserung ihrer Situation. Dennoch ist die Versorgungslage nach wie vor äußerst angespannt.
Aber man gibt der Führungsspitze um Gorbatschow und Ryschkow Zeit. Die gewonnenen politischen Freiheiten stellen die Menschen erst einmal zufrieden. Gorbatschow verspricht die Reform des bestehenden politischen Systems. Die Führung der sowjetischen Gesellschaft durch die KPdSU steht für ihn aber nicht zur Disposition. Das System wird sich allerdings als nicht reformierbar erweisen.
Gorbatschow kämpft an mehreren Fronten. Vor den ökonomischen setzt er politische Reformen um. Die Menschen benötigten die Demokratie wie die Luft zum Atmen, sagt er einmal. Allerdings herrscht in weiten Teilen der sowjetischen Bevölkerung das über Jahrzehnte praktizierte indoktrinierte Denken weiter. "Die da oben haben immer recht", heißt es. Damit will Gorbatschow Schluss machen. Er fordert mehr politische Meinungsbildung und eine kritische Überprüfung der Politik.
Innenpolitisch sendet Gorbatschow unmissverständliche Signale in Richtung Liberalisierung. Er hebt im Dezember 1986 die Verbannung des Dissidenten Andrej Sacharow und seiner Ehefrau Jelena Bonner auf. Gorbatschow bittet den Atomphysiker, nach Moskau zurückzukehren und seine politische Arbeit fortzusetzen.
Drei Jahre später wird Sacharow sogar parteiloses Mitglied des Kongresses der Volksdeputierten. Er schließt sich den Radikalreformern an. Sacharow kritisiert im Kongress offen Gorbatschows Kurs und wirft ihm vor, die Reformen nicht entschieden genug voranzutreiben. Allerdings ist das Wirken des Friedensnobelpreisträgers nur von kurzer Dauer. Sacharow stirbt am 14. Dezember 1989.
Auch innerhalb der KPdSU melden sich Funktionäre zu Wort, denen Gorbatschows Reformen nicht weit genug gehen. Einer von ihnen ist Boris Jelzin. Er ist seit Oktober 1985 Parteichef von Moskau und gleichzeitig Kandidat des KPdSU-Politbüros. Jelzin weiß eine große Anhängerschaft hinter sich und provoziert den Konflikt mit Gorbatschow und konservativen KPdSU-Funktionären.
Gorbatschow stellt Jelzin kalt. Im November 1987 verliert dieser das Amt des Moskauer Parteichefs. Kurze Zeit später fliegt Jelzin aus dem Politbüro. Es beginnt die Phase einer persönlichen Feindschaft zwischen beiden Politikern. Im Mai 1989 wird Jelzin Mitglied des Rates der Volksdeputierten. Er geht in Opposition zu Gorbatschow.
Die Durchsetzung von Glasnost und Perestroika erweist sich als schwierig. Am 26. April 1986 - Gorbatschow ist seit mehr als einem Jahr im Amt - kommt es zur Reaktorkatastrophe im ukrainischen Tschernobyl. Tagelang wird das Unglück von den sowjetischen Medien totgeschwiegen. Die eigene Bevölkerung und das Ausland werden im Unklaren gelassen. Erst am 29. April sprechen sowjetische Quellen von einer "Katastrophe" und von zwei Todesopfern.
Informationen über das Unglück werden nur scheibchenweise freigegeben. Die alte sowjetische Desinformationspolitik lebt bei Tschernobyl fort - ein Desaster für Gorbatschow. Dabei müssen mehr als 350.000 Menschen umgesiedelt werden. Eine nicht genau benannte Zahl von Menschen stirbt; Tausende leiden an den Folgen der Katastrophe. Auch die Wirtschaft erleidet einen herben Schlag; Hunderttausende Hektar Land können nicht mehr wirtschaftlich genutzt werden.
Dieses Unglück verdeutlicht zudem die Situation der sowjetischen Atomindustrie. Grundlegende Mängel am Reaktor und Bedienungsfehler bewirken diesen Super-GAU. Beim Umgang mit den Folgen ist die Sowjetunion überfordert. Technologische und finanzielle Hilfe des Auslands ist zum Bau einer neuen Schutzhülle um den Reaktor notwendig. Spätestens im Fall Tschernobyl wird deutlich, dass die UdSSR keine ökonomische Großmacht ist.
Gorbatschow verstärkt seine Reformbestrebungen. Auf dem XXVII. KPdSU-Parteitag rechnet er mit Fehlern und Versäumnissen ab. Er will den realen Sozialismus retten. Nach dem Konvent versucht Gorbatschow eine Antialkoholismus-Kampagne, die aber kläglich scheitert. Im Gefolge wird er in weiten Teilen der Bevölkerung "Mineralsekretär" genannt.
Trotz neuer Töne aus dem Kreml ändert sich die Lage der Menschen kaum. Noch glaubt der größte Teil der Bevölkerung, dass Gorbatschow die Reform des kommunistischen Systems schafft - ein Irrglaube, wie sich später herausstellen wird. Im Gegenteil, die Perestroika dauert zu lange und wird die Konflikte zwischen Bevölkerung, KPdSU und Staat sogar noch verschärfen.
Außenpolitisch bewegt der neue Generalsekretär dagegen mehr. Im November 1986 trifft Gorbatschow in Genf zum ersten Mal mit US-Präsident Reagan zusammen. Die beiden mächtigsten Männer der Welt nutzen die Unterredung zum gegenseitigen Kennenlernen. Das Gespräch in der Schweiz bedeutet aber einen Beginn des Tauwetters in den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen.
Beim Treffen in der isländischen Hauptstadt Reykjavik im Oktober 1987 kommen sich beide Politiker näher. Reagan und Gorbatschow stehen in Fragen der atomaren Abrüstung vor einem Durchbruch. Beide wollen die Halbierung der Menge aller Atomwaffen und die Abschaffung der ballistischen Raketen. Aber es kommt zu keiner Einigung, denn Reagan hält am SDI-Programm fest.
Beide Staatsmänner verhehlen nach dem Treffen ihre Enttäuschung nicht. Dennoch markiert Reykjavik einen Durchbruch. Gorbatschow erweist sich dabei - auch aus innenpolitischen Gründen - als äußerst flexibel. Er macht nicht mehr ein Gesamtpaket einschließlich der US-Abkehr von SDI zur Vorbedingung.
Ergebnis ist der INF-Vertrag zwischen der UdSSR und den USA, der am 8. Dezember 1987 von Gorbatschow und Reagan in Washington unterzeichnet wird. Der Vertrag beinhaltet die Vernichtung aller sowjetischen und US-amerikanischen Waffen kürzerer und mittlerer Reichweite. Es ist kein Kontroll-, sondern ein realer Abrüstungsvertrag. Der Kalte Krieg steuert auf sein Ende zu.
Das Eis ist gebrochen. Vom 29. Mai bis zum 2. Juni 1988 kommt es zum vierten Gipfel - diesmal in Moskau. Reagan und Gorbatschow tauschen dabei die Ratifizierungsurkunden zum INF-Vertrag aus. Es ist das letzte offizielle Treffen beider Politiker. Ab Januar 1989 wird es Gorbatschow mit dem neuen US-amerikanischen Präsidenten George Bush zu tun haben.
Zur Entspannung zwischen der UdSSR und den USA trägt auch der Rückzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan bei. Dieser war seit Jahren von den US-Amerikanern gefordert worden. Gorbatschow kommt mit diesem Schritt auch Forderungen aus der eigenen Bevölkerung nach. Das militärische Engagement im südlichen Nachbarland ist unpopulär. Grund ist der Tod von tausenden sowjetischen Soldaten in diesem sinnlosen Krieg.
Aufgebrachte Afghanen verbrennen 1986 in Kabul eine Gorbatschow-Puppe. Trotz großer Anstrengungen gelingt es den sowjetischen Truppen nicht, Afghanistan vollständig zu kontrollieren. Im Gegenteil: Ihre Verluste steigen; die oppositionellen Mudschaheddin-Kämpfer kontrollieren große Teile des Landes.
Gorbatschow zieht die Notbremse. Im Mai 1988 werden die Truppen aus Afghanistan abgezogen. Die sowjetisch gestützte Regierung unter Präsident Nadschibullah kann sich noch bis 1992 halten. Dann wird sie von den Mudschaheddin gestürzt.
Unterdessen bröckelt auch das sowjetische Imperium in Osteuropa. Seit Jahren sieht sich Polens starker Mann, Wojciech Jaruzelski, einer erstarkten Demokratiebewegung gegenüber. Er ist zum Lavieren gezwungen. Trotz Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 wirkt die Gewerkschaft Solidarnosc im Untergrund weiter und muss im April 1989 wieder anerkannt werden.
Gorbatschow verkündet 1988 die Aufgabe der Breschnew-Doktrin. Die UdSSR mischt sich nun nicht mehr in die inneren Angelegenheiten der verbündeten Staaten ein. Davon profitieren auch die Ungarn (Foto: Ministerpräsident Miklos Nemeth mit Helmut Kohl), die ihrerseits auf Rekormkurs gehen. Die neuen Freiheiten führen zu einer Reihe überwiegend friedlicher Revolutionen in Osteuropa.
In Rumänien stößt Gorbatschows Reformpolitik allerdings auf heftigen Widerstand. Der dortige Staats- und Parteichef Nicolae Ceausescu verschließt sich notwendigen Veränderungen in seinem Land. Folge ist ein blutiger Umsturz im April 1989, der Ceausescu aus dem Amt fegt.
Die Beziehungen der Sowjetunion zur zweiten kommunistischen Großmacht China verbessern sich dagegen. Am 16. Mai 1989 kommt es zum Treffen mit Chinas KP-Chef Zhao Ziyang in Peking. Nur einige Tage später wird allerdings die chinesische Demokratiebewegung niedergeschlagen. Zhao, der einen moderaten Kurs gegenüber den Demonstranten verfolgt, wird seines Amtes enthoben.
Das Verhältnis Gorbatschows zu DDR-Staatschef Erich Honecker ist äußerst schwierig. Der SED-Generalsekretär lehnt Reformen in der DDR ab. Dabei behandelt Honecker Gorbatschow herablassend. Honecker wird nicht müde zu betonen, dass die Probleme, vor denen die Sowjetunion stehe, in der DDR bereits gelöst seien. Honecker spürt, dass politische Reformen das Ende der DDR sein könnten. Er sollte in diesem Punkt Recht behalten.
Im Zuge des Reformprozesses in der Sowjetunion rückt Ende der 1980er Jahre auch die deutsche Frage in den Vordergrund. Reagan fordert am 12. Juni 1987 von Gorbatschow die Öffnung des Brandenburger Tores. Noch scheut sich der Russe; für ihn ist die DDR ein wichtiger Pfeiler im sowjetischen Herrschaftsbereich.
Reagan weiß um die riesigen wirtschaftlichen Probleme der Sowjetunion. Ein weiterer Rüstungswettlauf ist von der UdSSR nicht zu bewerkstelligen. Der US-amerikanische Präsident nutzt diese Tatsache medienwirksam aus und erhöht den politischen Druck auf Moskau. Allerdings geht Reagan nicht von einem Fall der Berliner Mauer bereits im November 1989 aus.
Gorbatschow braucht dringend wirtschaftliche und finanzielle Unterstützung für sein Land. Er intensiviert die Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland. Im Juni 1989 trifft er in Bonn mit Kohl zusammen. Dieser Besuch erweist sich als äußerst hilfreich für die Gestaltung politischer Prozesse in der nahen Zukunft. Kohl und Gorbatschow fassen in Vier-Augen-Gesprächen Vertrauen zueinander.
In Ostberlin sorgt die sowjetisch-westdeutsche Annäherung für Alarmstimmung. Der "Verkauf" der DDR wird befürchtet. Die SED-Führung sieht sich einer Fluchtwelle von DDR-Bürgern gegenüber und reagiert darauf hilflos. Innenpolitisch zieht sie die Zügel an. Das sowjetische Magazin "Sputnik" wird aus dem Handel genommen. Ein Tiefpunkt in den "brüderlichen Beziehungen" zwischen der UdSSR und der DDR ist erreicht.
Daran ändert auch der Besuch des KPdSU-Chefs anlässlich des 40. Jahrestages der DDR nichts. Gorbatschow versucht im Vorfeld der Feierlichkeiten in Ostberlin ein letztes Mal, die DDR-Führung zu Reformen zu bewegen. Honecker lässt seinen Gast allerdings abblitzen. Seiner Meinung nach sind in der DDR Reformen nicht notwendig.
Zur Schau gestellter Bruderkuss. "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben", schreibt Gorbatschow der SED-Führung ins Stammbuch. Der Großteil der DDR-Bevölkerung versteht Gorbatschow dagegen und feiert den sowjetischen Gast.
Militärparade auf der Karl-Marx-Allee am 7. Oktober 1989. Es sollte Honeckers letzte sein. Auch hier tönen von den Zuschauern "Gorbi"-Rufe, die Honecker desavouieren. Nach den Feierlichkeiten wird das Ende der SED-Herrschaft und danach auch das Verschwinden der DDR von der politischen Weltbühne eingeleitet. Die Internsität dieses Prozesses und seine Schnelligkeit überraschen dann aber auch Gorbatschow.
In mehreren DDR-Städten gehen die Menschen - wie hier in Leipzig - auf die Straße. Noch wollen sie einen Sozialismus mit menschlicherem Antlitz. Als Zeichen dessen werden Gorbatschow-Bilder hochgehalten. Die Demonstrationen haben Erfolg. Honecker tritt am 17. Oktober 1989 ab.
Großdemonstration am 4. November auf dem Berliner Alexanderplatz. Der Geist von Freiheit und Demokratie ist aus der Flasche. Diesmal kommen keine sowjetischen Truppen den SED-Führern zur Hilfe. Die Ereignisse von 17. Juni 1953 wiederholen sich nicht.
Die Öffnung der Berliner Mauer am 9. November 1989 sorgt bei Gorbatschow für Verstimmung. Er sorgt sich um die Sicherheit der sowjetischen Truppen in der DDR. Zudem muss er sicherstellen, dass die sowjetischen Kommandeure nicht die Nerven verlieren. Gorbatschow ist in ständigem Kontakt mit Kohl. Der Kanzler verspricht, zur Deeskalation der Lage beitragen zu wollen.
Die neue DDR-Führung setzt weiter auf die Unterstützung Gorbatschows. Honecker-Nachfolger Egon Krenz reist im November nach Moskau. Gorbatschow stellt die Existenz der DDR (noch) nicht in Frage. Anfang Dezember 1989 verschwindet Krenz von der politischen Bühne. Gorbatschows Gesprächspartner ist nun Ministerpräsident Hans Modrow.
Gorbatschow kann und will Modrow nicht mehr helfen. Der Zug in Richtung Vereinigung Deutschlands kommt in Fahrt. Modrow ist auch für die sowjetische Führung nur noch ein Konkursverwalter. Bei einem Treffen am 30. Januar 1990 in Moskau sagt Gorbatschow Modrow, dass die "Vereinigung der Deutschen" von ihm nicht in Zweifel gezogen werde. Das ist der endgültige Sargnagel für die DDR.
Für Gorbatschow ist in der Deutschlandfrage nur noch Kohl der kompetente Gesprächspartner. Bei einem Treffen im Februar 1990 in Moskau sagt Gorbatschow, dass nur die Deutschen für ihre eigenen Geschicke verantwortlich seien. Die endgültige Weichenstellung für die deutsche Einheit wird im Juli 1990 bei einem Treffen in Gorbatschows Heimat am Kaukasus gestellt.
Kohl und Gorbatschow vereinbaren wichtige Punkte, wie die NATO-Zugehörigkeit des vereinten Deutschlands und finanzielle Hilfe der Bundesrepublik für die Sowjetunion in Milliardenhöhe. Zudem wird eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Deutschland und der UdSSR vereinbart.
Zudem gibt es eine Vereinbarung über den Abzug der auf dem Gebiet der DDR stationierten sowjetischen Soldaten. Diese soll 1994 abgeschlossen sein. Weder Gorbatschow noch Kohl ahnen, dass es zu diesem Zeitpunkt die Sowjetunion nicht mehr geben wird. Deutschland verpflichtet sich, bei der Errichtung von Wohnungen für die Soldaten und deren Familien zu helfen.
Parallel dazu laufen die sogenannten Zwei-plus-Vier-Gespräche zwischen den vier Siegermächten des 2.Weltkriegs und den beiden deutschen Staaten. Sie münden in einen Vertrag, der am 12. September 1990 im Beisein von Gorbatschow in Moskau unterzeichnet wird. Der Vereinigung Deutschlands steht nun nichts mehr im Weg.
Am 3. Oktober 1990 hört die DDR auf zu existieren und tritt nach Artikel 23 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland bei. Ohne das konstruktive Wirken Gorbatschows wäre das Ereignis nicht möglich gewesen. Deshalb ist Gorbatschow bis heute in Deutschland ein gerne gesehener Gast.
In der Sowjetunion sieht das ganz anders aus. Die Reformen geraten ins Stocken; die Lage im Riesenreich spitzt sich zu. Gorbatschow verliert dramatisch an Zuspruch. Während der traditionellen Parade am 1. Mai 1990 werden Gorbatschow und die sowjetische Staatsführung gnadenlos ausgepfiffen. Zuvor kündigt Gorbatschow den Übergang zur "regulierten Marktwirtschaft" an.
Am 15. März 1990 wird Gorbatschow zum ersten Präsidenten der Sowjetunion gewählt. Zuvor setzt er freie Wahlen für einen Teil der Abgeordneten durch. Aber die wirtschaftlichen Reformen halten mit den politischen nicht Schritt. Innerhalb der KPdSU gewinnen die rückwärtsgewandten Kader wieder an Boden. Diese können sich im Politbüro und im Zentralkomitee wieder etablieren. Gorbatschow verdirbt es sich damit mit den Reformern.
Außenminister Eduard Schewardnadse erkennt die Gefahr. Er tritt im Dezember 1990 zurück. Er verurteilt Gorbatschows Lavieren und warnt vor einem reaktionären Putsch. Er wird vom 20. November bis 21. Dezember noch einmal Außenminister der Sowjetunion. Sein Verhältnis zu Gorbatschow ist bis zum heutigen Tag zerrüttet.
Das Festhalten an den Leninschen Prinzipien der Führung von Partei und Staat durch Gorbatschow erweist sich als großer Fehler. Zu spät erkennt er, dass das sowjetische System nicht reformierbar ist. Zwar spricht sich der XXVIII. KPdSU-Parteitag für die Fortsetzung des Reformkurses aus. Dieser führt allerdings zu keinem Erfolg.
Die Versorgungslage in der Sowjetunion ist dramatisch. Die Menschen bekommen mitunter nicht einmal das Notwendigste. Der Westen muss mit Hilfslieferungen einspringen, um die Lage wenigstens etwas zu entspannen. Eine Demütigung für die Weltmacht. Die Wut auf Gorbatschow wächst.
Unterdessen steht der sowjetische Präsident vor weiteren schwierigen Problemen. Das Sowjetreich läuft seit Ende der 1980er Jahre Gefahr, auseinanderzufallen. 1986 kommt es zu Zusammenstößen zwischen russischen und jakutischen Studenten. Massenunruhen werden auch aus Kasachstan gemeldet; dort bekämpfen sich mehrere Clans. Die entscheidenden Krisen sollten aber danach folgen.
Im April 1989 kommt es zu Demonstrationen in der georgischen Hauptstadt Tiflis (Foto). Die Demonstranten skandieren Parolen wie "Unabhängigkeit für Georgien" oder "Nieder mit dem Russischen Reich". Die Armee wird eingesetzt. 16 Menschen werden getötet. Anfang 1990 kommt es auch zu Auseinandersetzungen in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku.
Die kaukasischen Sowjetrepubliken Aserbaidschan und Armenien befinden sich seit geraumer Zeit im Kriegszustand. Dabei geht es um die in Aserbaidschan gelegenen autonome Region Berg-Karabach, die überwiegend von Armeniern bewohnt wird. Selbst das Erdbeben Ende 1988 in Armenien sorgt für keine Pause in diesem Konflikt. Die Zentralregierung in Moskau ist hilflos. Es rächt sich, dass unter Stalin die Grenzen willkürlich gezogen wurden.
Das Erdbeben verschärft die Situation in Armenien noch (Foto aus der zerstörten Stadt Leninakan). Rund 25.000 Menschen finden den Tod. Erstmals lässt Moskau ausländische Helfer ins Land.
Auch im Baltikum brodelt es. Im Januar 1991 kommt es in Litauen zu Protesten gegen die Zentralgewalt in Moskau. Sammelpunkt ist die Bewegung "Sajudis", die in Vilnius mittlerweile an der Macht ist. Ursprünglich hat sich sich die Unterstützung der Perestroika auf die Fahne geschrieben. "Sajudis" wendet sich aber zu einer Gruppierung, die sich für den Austritt Litauens aus der UdSSR einsetzt.
Gorbatschow erkennt die Gefahr. Bereits 1990 eilt er nach Vilnius und spricht mit den Litauern - vergeblich. Die im Gefolge des Hitler-Stalin-Pakts annektierten baltischen Länder Litauen, Lettland und Estland wollen raus aus der Sowjetunion. Die Geschichte fordert ihr Recht ein. Zudem erhoffen sich die Menschen von der Abspaltung der Union einen höheren Lebensstandard.
Im Januar 1991 kommt es zum "Blutsonntag" von Vilnius. Sowjetische Einheiten versuchen vergeblich, die Unanbhängigkeitsbewegung niederzuschlagen. Nach dem Einmarsch 1940 müssen die sowjetischen Truppen nun Litauen verlassen. Nach mehr als 50 Jahren erringen die baltischen Länder wieder ihre Unabhängigkeit. Das Baltikum ist für die Sowjetunion verloren.
Gorbatschows Gegenspieler in Litauen, Vytautas Landsbergis, wird Präsident. Der Chef von "Sajudis" erkennt frühzeitig, dass die Perestroika in der Sowjetunion gescheitert ist. Sein Enschwenken auf einen gegen Moskau gerichteten nationalistischen Kurs hat Erfolg.
Gorbatschow kämpft vergeblich um den Erhalt der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken. Bereits vor dem "Blutsonntag" in Vilnius, am 3. April 1990, wird ein Gesetz über den Austritt aus der Union verabschiedet. Sein Ziel ist jedoch nicht die Auflösung der Sowjetunion, sondern deren Erneuerung. Gorbatschow verkalkuliert sich allerdings völlig.
Denn in der größten Sowjetrepublik, der Russischen Föderation, wird am 12. Juni 1990 eine Erklärung über die staatliche Unabhängigkeit der RSFSR verabschiedet. Diese veranlasst andere Republiken, ihrerseits ihre Souveränität einzufordern. Sogar in Russland befindliche autonome Republiken (ASSR) verfassen solche Erklärungen. Die Sowjetunion beginnt zu zerfallen.
Boris Jelzin wittert die große Chance, Gorbatschow endgültig ins politische Abseits zu stellen. Jelzin wird am 29. Mai 1990 gegen den Willen Gorbatschows Präsident des russischen Parlaments. Der Radikalreformer setzt sich dabei gegen Gorbatschows Favoriten Alexander Wlassow durch. Im Juni 1991 wird Jelzin bei freien Wahlen zum Präsidenten der Russischen Föderation gewählt. Er besitzt nun im Gegensatz zu Gorbatschow die Legitimation des Volkes.
Die USA erkennen, dass Gorbatschow ernsthaft in Gefahr ist. Präsident George Bush versucht, den sowjetischen Staatschef bei dessen Visite vom 31. Mai bis 3. Juni 1990 in Washington nicht als Verlierer erscheinen zu lassen - ein wahrer Drahtseilakt.
Noch setzen die Amerikaner auf Gorbatschow. Allerdings strecken sie ihre diplomatischen Fühler schon in Richtung Jelzin aus. Trotzdem spricht Bush mit Gorbatschow auch über Wirtschaftsfragen. Die Vereinigten Staaten signalisieren indirekt, dass sie an einem Erhalt der Sowjetunion interessiert sind.
Aber die Tage von Gorbatschow als UdSSR-Präsident sind gezählt. Am 10. Dezember 1990 erhält er den Friedensnobelpreis; dies findet in seinem Land aber nur geringe Beachtung. Auch die Erweiterung seiner Befugnisse durch den sowjetischen Rat der Volksdeputierten kann sein politisches Überleben nicht mehr retten.
Gorbatschow zieht die letzte Karte. Er versucht, die UdSSR mit Hilfe eines neuen Unionsvertrages zu retten. Seinem Plan zufolge soll die Sowjetunion als eine eher lose Konföderation weiter bestehen. Den Republiken werden dabei weitreichende Zugeständnisse gemacht. Gorbatschow nimmt dabei eine weitgehende Schwächung der Zentralgewalt in Kauf.
Aber Gorbatschow scheitert auch mit diesem Plan. Die Ukraine will raus aus der Union. Ohne deren Mitgliedschaft sieht auch Russland keine Veranlassung mehr, Bestandteil der Sowjetunion zu bleiben.
Gorbatschow ist damit bereits Mitte 1991 ein Präsident ohne Land. Ihm gehen nun auch die zentralasiatischen Republiken von der Sowjetfahne. Die dortigen Parteichefs wollen so ihre lokale Macht retten. Gorbatschow ist allein.
Nach dem Scheitern Gorbatschows starten Hardliner von KPdSU und Militär einen letzten Versuch zur Rettung der Sowjetunion. Sie putschen im August 1991 gegen den Präsidenten. Ihr Ziel ist der gewaltsame Erhalt der Union. Auch Gorbatschows moderate Außenpolitik ist ihnen ein Dorn im Auge. Aus ihre Sicht sind Glasnost und Perestroika Schuld an der desolaten Lage des Riesenreichs. Das Rad der Geschichte soll zurückgedreht werden.
Gorbatschow, seine Familie und seine Leibwächter stehen drei Tage lang in einer Datscha auf der Halbinsel Krim unter Hausarrest. Den Putschisten stellt sich aber die Moskauer Bevölkerung entgegen. Mit so einem starken Widerstand haben sie nicht gerechnet. Zudem rumort es in der Roten Armee; die Soldaten wollen nicht auf das Volk schießen.
Insgesamt ist der Putsch schlecht vorbereitet. An der Spitze der Aufrührer steht Vizepräsident Gennadi Janajew. Bereits am ersten Tag wird klar, dass es keinen konkreten Plan zur Machtübernahme gibt. Peinlich sollte Janajews Auftritt vor der Presse werden; dort verliest er mit zitternden Händen die Erklärung der Putschisten.
Zu den Putschisten gehört auch Verteidigungsminister Dmitri Jasow (hier mit seinem US-Amtskollegen Richard Cheney). Die Ereignisse des August 1991 verdeutlichen, dass Jasow nicht mehr die vollständige Kontrolle über die Armee besitzt.
Zu den reaktionären Kräften gehört auch Walentin Pawlow, der Nachfolger von Nikolai Ryschkow im Amt des sowjetischen Ministerpräsidenten. Pawlow wandert nach dem Putsch in ein Moskauer Untersuchungsgefängnis. Nach seiner Freilassung im Januar 1993 ist er bis zu seinem Tod 2003 als Banker tätig.
Für den russischen Präsidenten Jelzin schlägt während des Putsches die große Stunde. Auf einem Panzer stehend, ruft er zum Widerstand gegen die Aufrührer auf. Er fordert die Wiedereinsetzung Gorbatschows ins Amt des sowjetischen Präsidenten. Seine Anhänger verschanzen sich im Weißen Haus.
Und Jelzin hat Erfolg. Die Armee greift nicht an. Die Moskauer Bevölkerung und viele Soldaten verteidigen seinen Amtssitz. Jelzin hat hoch gepokert - und gewonnen. Die Putschisten geben auf; eine Rückkehr zur alten Zeit gibt es in der Sowjetunion nicht.
Damit kann Gorbatschow am 22. August 1991 nach Moskau zurückkehren. Allerdings findet er ein völlig verändertes Land vor. Der Machtverfall der KPdSU und der Zerfall der Sowjetunion sind nicht mehr aufzuhalten.
Der sowjetische Staat löst sich auf. Der neue starke Mann ist Boris Jelzin. Er lässt es sich nicht nehmen, Gorbatschow vor dem russischen Parlament vorzuführen. Der ganze angestaute Hass Jelzins bricht sich Bahn.
Vor den Augen der Abgeordneten unterbricht Jelzin die weltweit übertragene Rede Gorbatschows. Er nutzt die Pause zur Verkündung eines Erlasses zum Verbot der Tätigkeit der KPdSU auf russischem Boden. Diese demütigende Machtdemonstration Jelzins gegenüber dem sowjetischen Präsidenten beschleunigt den Abspaltungsprozess der übrigen Republiken.
Jetzt werden Nägel mit Köpfen gemacht. Der ukrainische Parlamentspräsident Leonid Krawtschuk (hier mit US-Außenminister James Baker) will ebenfalls den Austritt seiner Republik aus der Sowjetunion.
Gemeinsam mit seinem weißrussischen Amtskollegen Stanislaw Schuschkjewitsch (Foto) und Jelzin legt er den Grundstein für die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), die an die Stelle der UdSSR treten soll.
Sie überreden auch den starken Mann Kasachstans, Nursultan Nasarbajew, zum Beitritt. Damit ist das Ende der Sowjetunion besiegelt.
Gorbatschow wird nunmehr nur noch die Nachricht überbracht, dass er als Präsident zurücktreten soll. Sein Amt als KPdSU-Generalsekretär hat Gorbatschow nach dem Verbot in Russland bereits niedergelegt. Ein Staat wird abgewickelt.
Am 25. Dezember 1991 übergibt Gorbatschow die Verfügungsgewalt über die Nuklearwaffen an Jelzin. Nach fast sieben Jahren verlässt er als geschlagener Mann den Kreml. Im Ausland wird er geliebt und im Inland gehasst. Die Perestroika ist Geschichte.
Am Abend des 25. Dezember 1991 wird über dem Kreml die sowjetische Fahne eingeholt und durch die russische Flagge ersetzt. Die Sowjetunion haucht ihr Leben aus. Ohne es zu wollen, wird Gorbatschow zu ihrem Totengräber. Danach wird diskutiert, ob es richtig war, die politischen den wirtschaftlichen Reformen vorzuziehen. Als Gegenbeispiel gilt China, wo ökonomische Reformen ohne Preisgabe der politischen Macht der Kommunistischen Partei erfolgreich durchgeführt werden.
Fakt ist: In seinem Land ist Michail Gorbatschow gescheitert. Ihm wird später Konzeptionslosigkeit vorgeworfen. Außenpolitisch sorgt er für den Wegfall des Eisernen Vorhangs und das Zusammenwachsen Europas. Andererseits hinterlässt er Republiken, die wirtschaftlich am Boden liegen. Die Russen wollen von ihm nichts mehr wissen.
Im Ausland wird Gorbatschow dagegen weiter gefeiert. Mit seinem ehemaligen Amtskollegen George Bush ist er später befreundet. Gorbatschow tritt in unzähligen Talkshows auf und verdient viel Geld mit Vorträgen. Seine Meinung ist im Westen gefragt.
Gorbatschow - hier mit seiner Frau Raissa, Jane Fonda und Ted Turner - gründet am 20. April 1993 im japanischen Kyoto das Internationale Grüne Kreuz. Die Umweltschutzorganisation setzt sich für Nachhaltigkeit und eine sichere Zukunft ein. 2009 hat sie Unterorganisationen in 31 Ländern.
Allerdings kann Gorbatschow nicht von der Politik lassen. Gegen den Rat seiner Frau Raissa kandidiert er 1996 gegen Jelzin für das Präsidentenamt. Sein Ergebnis ist niederschmetternd: Er erhält nur 0,5 Prozent der abgegebenen Stimmen. Jelzin bleibt an der Macht.
Drei Jahre später muss Gorbatschow einen großen privaten Rückschlag verkraften: 1999 stirbt seine Frau. Am 23. September nimmt Gorbatschow Abschied von ihr.
Für die Deutschen ist Gorbatschow ein Idol. Anlässlich des 20. Jahrestages des Mauerfalls nimmt er gemeinsam mit Helmut Kohl und George Bush an den Feierlichkeiten der Konrad-Adenauer-Stiftung teil. In seinen Ausführungen macht Gorbatschow deutlich, dass sein Ja zur deutschen Wiedervereinigung in Bezug auf die europäische Einigung richtig war. Er warnt den Westen allerdings auch vor einer Isolierung Russlands.
Schon seinen 90. Geburtstag am 2. März 2021 muss er im Krankenhaus verbringen. Nun ist er nach langer schwerer Krankheit gestorben. (Text: Wolfram Neidhard)