Politik

Gegen den Strich Für eine echte Wahlrechtsreform

Bis zum 30. Juni muss die Regierung das Wahlrecht überarbeiten. Konzepte liegen bisher nicht vor. Dabei ist es höchste Zeit, zu einem Mehrheitswahlrecht überzugehen. Außerdem sollte eine Wahlpflicht diskutiert werden - könnten eine Strafe von 100 Euro und ein öffentlicher Aushang die Motivation erhöhen?

Das Bundesverfassungsgericht hat die Politik im Jahr 2008 aufgefordert bis zum 30. Juni dieses Jahres das nicht verfassungskonforme deutsche Wahlrecht zu überarbeiten. Rund zehn Tage vor Ablauf der Frist steht die Koalition ohne mehrheitsfähiges Konzept da. Das ist ein doppelter Skandal. Erstens, weil die Politiker riskieren, dass Deutschland, gleich einer Bananenrepublik, ab dem 1. Juli ohne verfassungsfesten Abstimmungsmodus dasteht - und deshalb etwaige vorgezogene Neuwahlen keine rechtliche Grundlage mehr hätten. Zweitens, und das ist schlimmer, weil die Politik leichtfertig die Chance vertan hat, in den drei Jahren seit dem Karlsruher Urteilsspruch endlich das in vielerlei Hinsicht nicht mehr vertretbare deutsche Wahlrecht zu modernisieren.

Schwarz-Gelb hat nur noch wenige Tage Zeit, um die Vorgaben aus Karlsruhe zur Beseitigung von Ungerechtigkeiten im Zusammenhang mit den Überhangmandaten zu erfüllen.

Schwarz-Gelb hat nur noch wenige Tage Zeit, um die Vorgaben aus Karlsruhe zur Beseitigung von Ungerechtigkeiten im Zusammenhang mit den Überhangmandaten zu erfüllen.

(Foto: picture alliance / dpa)

Die in Deutschland praktizierte Form einer Kombination von Verhältniswahlrecht, Parteilisten und Wahlkreis führt rein mathematisch zu höchst undemokratischen Ergebnissen. Das weiß man schon, seit der Mathematiker Condorcet 1785 in der bis heute gültigen Beweisführung des sogenannten "Condorcet-Paradox" zeigte, dass bestimmte Abstimmungsverfahren strategisch so missbraucht werden können, dass etwas anderes herauskommt, als die Mehrheit eigentlich will.

Das deutsche repräsentative System hat hier besondere Schwächen. Ausschlaggebend für die Zusammensetzung im Bundestag sind im Wesentlichen die parteiintern ausgekungelten Landeslisten. Abgeordnete, die über Mehrheitswahlrecht statt organisierter Verantwortungslosigkeit die Parteilisten ins Parlament einziehen, haben natürlich eine besondere Loyalität gegenüber der Partei; der Wähler ist für sie am Ende des Tages nicht wirklich entscheidend. Deshalb gilt es, die Überhangmandate abzuschaffen, aber auch am besten gleich die geschlossenen Landeslisten in offene, vom Wähler beinflussbare Listen zu ändern.

Wovor haben die Parteien Angst

Zudem begünstigt das deutsche Wahlrecht eine Zersplitterung der Parlamente und damit den Abschied von stabilen Mehrheiten. Die jüngsten Wahlergebnisse in den Bundesländern bilden nur den Auftakt für eine Epoche mit unübersichtlichen Mehrheitsverhältnissen und mit Minderheitsregierungen.

Für Deutschland ist es höchste Zeit, zu einem Mehrheitswahlrecht überzugehen. Und entgegen allen landläufigen Vorurteilen ist dafür noch nicht einmal eine Verfassungsänderung notwendig. Ein Gesetz reicht. Dies kann der Bundestag mit einfacher Mehrheit auf den Weg bringen. Aber ausgerechnet die beiden großen Volksparteien waren die Ersten, die – nach der Hessenwahl, als das Thema kurzzeitig aufkam – ein Mehrheitswahlrecht kategorisch ausschlossen. Warum eigentlich? Haben sie Angst davor, durch eine absolute Mehrheit in die Verlegenheit zu kommen, das, was sie vor der Wahl versprochen haben, tatsächlich auch eins zu eins umsetzen zu müssen? Da lebt es sich für die Politiker in der organisierten Verantwortungslosigkeit einer Koalition doch bequemer.

Das Bundesverfassungsgericht hat eine Überarbeitung des Wahlrechts gefordert.

Das Bundesverfassungsgericht hat eine Überarbeitung des Wahlrechts gefordert.

(Foto: picture-alliance/ dpa)

Eine solche Wahlrechtsreform wird auch in der Bevölkerung zu Diskussionen führen – ohne Frage. Gerade in einer Phase, in der die kleinen Parteien hierzulande besonders im Fokus sind. Die Grünen, weil sie so rasant an Sympathie gewonnen haben. Die FDP, weil sie sich so rasant entzauberte und innerhalb eines Jahres vom strahlenden Überflieger zum bemitleidenswerten "Underdog" wurde. Kurzfristig würde die Öffentlichkeit die Einführung eines Mehrheitswahlrechts als unfairen Akt von CDU und SPD gegen die kleinen Parteien werten. Spätestens wenn ernsthaft der Einzug einer rechtspopulistischen Partei in den Bundestag droht, werden die meisten Menschen erkennen, dass das Mehrheitswahlrecht als aggregationsverstärkende Mechanik den Zusammenhalt der Nation fördert – und unserem Land in schweren Zeiten ein handlungsfähiges Parlament beschert.

Schließlich geben die stark rückläufigen Wahlbeteiligungen Anlass zur Sorge. Und es ist nicht absehbar, dass kurzfristig mehr Bürger durch gutes Zureden an die Urne gelangen. Gewiss, nicht wenige Parteien sind froh, wenn bestimmte Kreise nicht zur Wahl gehen. Mit Verlaub, das ist aber keine Kategorie in einem demokratischen System. Wer den Souverän ernst nimmt, muss auch das Anliegen verfolgen, die Stimme(n) des Souveräns möglichst vollzählig an der Urne einzusammeln.

Wahlpflicht: viele Länder arbeiten mit Sanktionen

Vor diesem Hintergrund ist über die Einführung einer Wahlpflicht in Deutschland nachzudenken. Bei der Ausgestaltung gibt es mehrere Varianten. In den meisten Ländern, deren Gesetze eine Wahlpflicht vorsehen, wird mit Sanktionen gearbeitet. In Italien riskiert ein Nicht-Wähler, dass sein Name öffentlich ausgehängt wird. In manchen Ländern sehen die Gesetze sogar Gefängnisstrafen von bis zu zwölf Monaten vor. Andere Staaten erheben Geldbußen beziehungsweise Nicht-Wahl-Steuern. So droht in Australien beispielsweise eine Buße von 50 Dollar. Anders war es im antiken Athen. Da wurden Wähler für das Erscheinen an der Urne mit Geld belohnt. Die Zahlungen an die Wähler waren der größte Posten im Haushalt des Stadtstaates. In jüngerer Zeit arbeitete Kalifornien mit positiven Anreizen, so erhielten die Wähler Gutscheine für bestimmte Leistungen.

Prof. Dr. Klaus Schweinsberg

Prof. Dr. Klaus Schweinsberg

Die Durchsetzung der Wahlpflicht wird in den meisten Ländern recht lax gehandhabt. Gleichwohl kommen Länder mit Wahlpflicht in der Regel durchschnittlich auf eine zehn bis 15 Prozentpunkte höhere Wahlbeteiligung als Staaten ohne Wahlpflicht.

Angesichts der leeren Kassen kommt für Deutschland das athenische Modell wohl nicht infrage. Nachzudenken ist, ob die Einführung der Wahlpflicht mit einer Geldbuße von 100 Euro plus öffentlichen Aushang einen Motivationsschub bei Nicht-Wählern auslösen könnte.

Die Zeit läuft gegen sie

Kurzum: Das vom Bundesverfassungsgericht monierte Thema Überhangmandate wäre die Gelegenheit gewesen, das deutsche Wahlrecht den Herausforderungen der Zeit anzupassen. Die Abkehr von den starren Landeslisten, ein Übergang zum Mehrheitswahlrecht und die Einführung einer Wahlpflicht sind Themen, über die es zu diskutieren gilt. Stattdessen spielen die etablierten Parteien auf Zeit. Was sie nicht erkennen: Die Zeit läuft in diesem Spiel gegen sie.

Prof. Dr. Klaus Schweinsberg ist Gründer des Centrums für Strategie und Höhere Führung und Vorstand der INTES Stiftung für Familienunternehmen. Der Volkswirt und Publizist arbeitet als persönlicher Berater für große Unternehmen und Top-Manager.

Quelle: ntv.de

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