Politik

Mindestens vier Demonstranten erschossen Gewalt in Kairo eskaliert

Auch in der Nacht gehen die Auseinandersetzungen in Ägypten weiter.

Auch in der Nacht gehen die Auseinandersetzungen in Ägypten weiter.

(Foto: AP)

Die Gewalt in Ägypten nimmt neue Dimensionen an: Im Zentrum Kairos fallen in der Nacht Schüsse, Augenzeugen berichten von mehreren Toten. Angeblich werden die Schüsse von Anhängern des ägyptischen Präsidenten Mubarak abgefeuert. Das Militär hält sich offenbar zurück und greift nicht ein. Offenbar hat sich die Lage zum Tagesanbruch etwas beruhigt.

Der Tarhir-Platz im Zentrum Kairos: Tausende Anhänger und Gegner Mubaraks prügeln aufeinander ein.

Der Tarhir-Platz im Zentrum Kairos: Tausende Anhänger und Gegner Mubaraks prügeln aufeinander ein.

(Foto: dapd)

Die Lage auf dem Tahrir-Platz in Kairo hat sich in der Nacht dramatisch zugespitzt. Vier Menschen sollen durch Schüsse ums Leben gekommen sein, berichtete der arabische Nachrichtensender Al-Dschasira. Mehrere Menschen seien verletzt worden. Augenzeugen beklagten, dass die Armee nicht eingegriffen habe. Angeblich haben Anhänger von Präsident Husni Mubarak Gegner des Präsidenten beschossen. Es seien auch Schüsse aus schweren Maschinengewehren abgefeuert worden, hieß es bei CNN. Offenbar hat sich die Lage zu Tagesanbruch wieder etwas beruhigt.

Was genau geschehe, sei nicht zu sagen, sagte eine Al-Dschasira-Korrespondentin. Nach Angaben des US-Senders CNN erlitt ein Mann offensichtlich einen Bauchschuss. US-Außenministerin Hillary Clinton verurteilte die "schockierende" Gewalt.

Bereits vorher waren auf Fernsehbildern Demonstranten zu erkennen, die sich mit Molotow-Cocktails, Steinen und anderen Gegenständen gegenseitig bewarfen. Ein Gebäude in der Nähe des Ägyptischen Museums auf dem zentralen Tahrir-Platz stand teilweise in Flammen, berichtete der US-Sender CNN.

Manche Demonstranten ritten mit Kamelen oder Pferden in die Menge.

Manche Demonstranten ritten mit Kamelen oder Pferden in die Menge.

(Foto: AP)

Am Mittwoch waren bei blutigen Zusammenstößen mindestens drei Menschen ums Leben gekommen. Mehr als 1500 Verletzte habe es gegeben, lautete eine Zwischenbilanz der Übergriffe auf dem Tahrir-Platz. Das Gesundheitsministerium nannte die Zahl von 637 Verletzten. Anhänger des Staatschefs und die Opposition gingen auf dem zentralen Tahrir-Platz mit Fäusten aufeinander los, Steine flogen hin und her. Mehrere Menschen ritten auf Kamelen und Pferden in die Menge und schlugen mit Knüppeln und Eisenstangen auf Regimegegner ein.

Einige Schlägertrupps, die mit etwa 4000 Anhängern von Mubaraks Regierungspartei NDP aus verschiedenen Straßen auf den Tahrir-Platz stürmten, hatten nach Angaben von Augenzeugen auch Messer dabei. Oppositionsgruppen berichteten zudem, Polizisten in Zivil seien auf den Platz vorgedrungen. Auch Barrikaden wurden errichtet. Der Tahrir-Platz ist seit Tagen zentraler Ort der Massenproteste gegen die ägyptische Führung.

Armee droht Mubaraks Anhängern

Wie Augenzeugen berichteten, hatten Mubarak-Anhänger eine Brandbombe geworfen, woraufhin Soldaten Warnschüsse in die Luft abgaben. Die Angreifer hätten sich dann einen halben Kilometer zurückgezogen. Es hieß, die Armee habe den Mubarak-Anhängern gedroht, Gewalt anzuwenden, falls diese weiterhin versuchen sollten, die Demonstranten in die Flucht zu schlagen.

Stundenlang fliegen die Steine hin- und her.

Stundenlang fliegen die Steine hin- und her.

(Foto: AP)

Nahostexperte Christian-Peter Hanelt sagte bei n-tv, die Gewalt sei vom Regime angezettelt worden, um in der Bevölkerung Ablehnung gegenüber der Opposition hervorzurufen und Präsident Mubarak zugleich zu stützen. "Es gibt eindeutige Beweise, dass die Polizei ihre Männer in Zivilkleidung auf die Demonstranten gehetzt hat", erklärte auch Mohamed el-Baradei. Diese hätten bei den von ihnen festgenommenen Angreifern Ausweise der Polizei, der Staatssicherheit und der Geheimpolizei gefunden, sagte der Oppositionelle im Interview mit dem Fernsehsender Al-Dschasira. Er forderte die Armee auf einzugreifen, um das Leben der ägyptischen Bürger zu schützen.

Appell der Armee: "Geht nach Hause"

Internetseiten sowie das Mobilfunknetz des arabischen Landes sind unterdessen wieder verfügbar. Einen Tag nach den Massenprotesten der Bevölkerung in Kairo hob die ägyptische Regierung die Blockaden wieder auf. Wie das Staatsfernsehen berichtete, wurde außerdem die Ausgangssperre in Kairo und anderen Städten gelockert.

Am Mittwoch hatte sich die Armeeführung an die Bevölkerung gewandt und sie aufgefordert, die Demonstrationen zu beenden. Die Bürger hätten ihre Botschaft überbracht, ihre Forderungen seien gehört worden, nun sei es an der Zeit, wieder zum normalen Leben zurückzukehren, sagte ein Armeesprecher im staatlichen Fernsehen. Das Militär hatte sich beim sogenannten Marsch der Millionen am Dienstag an seine Zusage gehalten, keine Gewalt gegen friedliche Demonstranten einzusetzen, deren Forderungen legitim seien.

Hunderte Menschen werden verletzt.

Hunderte Menschen werden verletzt.

(Foto: REUTERS)

Präsident Husni Mubarak hatte angesichts der Massenproteste erklärt, er verzichte auf eine weitere Amtszeit. Einen sofortigen Rücktritt lehnt er jedoch ab. Vielmehr wolle er bis zur Präsidentschaftswahl im September Verfassungsreformen vorantreiben. Die Reaktion der Demonstranten darauf war geteilt: Während einige damit zufrieden sind, halten andere an ihrer Forderung nach einem sofortigen Rücktritt Mubaraks fest.

Opposition findet gemeinsame Linie

In Kairo verständigten sich Vertreter aller größeren Oppositionsparteien und -bewegungen auf eine gemeinsame Linie. Sie fordern Mubaraks Rücktritt und eine "Regierung der nationalen Allianz". Vorher solle es keine Gespräche mit den Machthabern geben. "Wir erwarten, dass die Führung uns einen Zeitplan für die Umsetzung dieser Forderungen präsentiert. Erst dann sind wir bereit, einen Dialog mit Vizepräsident Omar Suleiman zu beginnen", hieß es. Zu den Forderungen gehört auch die Auflösung der beiden Parlamentskammern sowie der Regionalparlamente. Eine Arbeitsgruppe soll eine neue Verfassung ausarbeiten.

Suleiman reagierte inwzischen mit einer Gegenforderung: Das Ende der regierungskritischen Demonstrationen sei Vorbedingung für einen Dialog mit der Opposition. Die Demonstranten müssten dem Aufruf der Armee Folge leisten, die Ausgangssperre zu achten und nach Hause zu gehen, wurde er von der amtlichen Nachrichtenagentur Mena zitiert.

Parlament arbeitet nicht

Als Reaktion auf diese Forderungen wurde das ägyptische Parlament suspendiert, bis das Ergebnis der umstrittenen Wahl vom Dezember überprüft wurde. Beide Kammern des Hauses hätten ihre Sitzungen "bis auf Weiteres" ausgesetzt, sagte Parlamentspräsident Fathi Surour. Das Ergebnis der Überprüfung könnte die aktuelle Zusammensetzung des Parlaments deutlich verändern. Dies ist entscheidend, weil Präsident Mubarak am Dienstag angekündigte hatte, das Parlament solle demnächst über eine Reform der Verfassung beraten. Bei dieser Reform geht es um die Voraussetzungen für die Kandidatur bei der nächsten Präsidentenwahl.

Mubarak lehnt einen sofortigen Rücktritt ab.

Mubarak lehnt einen sofortigen Rücktritt ab.

(Foto: dpa)

Mubaraks Regierungspartei hatte die Wahl gewonnen, die in der zweiten Runde von den wichtigsten Parteien der säkularen und islamistischen Opposition boykottiert worden war. Sie protestierten damit gegen den Verlauf der ersten Abstimmungsrunde Ende November, die ihrer Ansicht nach von Unregelmäßigkeiten gekennzeichnet war. Nach offiziellen Angaben gingen 424 der 508 Sitze an Mubaraks Nationaldemokratische Partei.

USA brechen mit Mubarak

Nach der Rede Mubaraks hatte US-Präsident Barack Obama seinen einstigen Verbündeten fallengelassen. Obama drängte Mubarak, sofort den Weg zur Demokratie freizumachen. "Ein geordneter Übergang muss bedeutungsvoll sein, muss friedlich sein und muss jetzt beginnen", sagte Obama im Weißen Haus. Er habe dies im Gespräch mit Mubarak verdeutlicht. "Er erkannte an, dass der gegenwärtige Zustand nicht aufrechterhalten werden kann." Ein Präsidialamtssprecher fügte hinzu, dass das halbstündige Telefonat "offen und direkt" gewesen sei.

Unterdessen telefonierte auch US-Außenministerin Hillary Clinton mit dem neuen ägyptischen Vizepräsidenten Omar Suleiman, Verteidigungsminister Robert Gates sprach mit seinem Amtskollegen in Kairo. Die Außenministerin habe dabei abermals die Gewalt verurteilt und die Verantwortung der ägyptischen Regierung betont, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, sagte Außenamtssprecher Philip Crowley. Er wiederholte den Standpunkt der US-Regierung, wonach der politische Übergangsprozess sofort beginnen müsse. "Morgen ist nicht gut genug", sagte Crowley.

Die Kämpfer sind müde.

Die Kämpfer sind müde.

(Foto: dpa)

Kurz zuvor hatten die USA erstmals Kontakt mit Mohammed el-Baradei aufgenommen, dem Hoffnungsträger der Opposition. Obama lobte das ägyptische Militär ausdrücklich dafür, sich während der Massenproteste professionell und patriotisch verhalten zu haben. Er forderte es nachdrücklich auf, sich auch weiterhin für einen friedlichen Verlauf der Demonstrationen einzusetzen. Bei der Vorbereitung freier und fairer Wahlen müsse gewährleistet sein, dass verschiedene Stimmen und Oppositionsgruppen zu Wort kämen, sagte Obama weiter.

Amr Mussa, Generalsekretär der Arabischen Liga, warnte davor, das Angebot Mubaraks gleich vom Tisch zu fegen. "Ich glaube, dass da etwas angeboten wurde, über das man genau nachdenken sollte", sagte er im US-Sender CNN. Mussa kündigte an, er werde möglicherweise selbst für das Präsidentenamt kandidieren.

Auch Bundesaußenminister Guido Westerwelle forderte eine rasche Machtübergabe in Ägypten. Der angekündigte Verzicht von Präsident Mubarak auf eine weitere Amtszeit mache den Weg frei für einen politischen Neuanfang, gleichzeitig sei aber offensichtlich, dass die Menschen den demokratischen Wandel jetzt wollten.

"Diktatoren nicht mehr zuverlässig"

Der Nahost-Experte Michael Lüders sagte bei n-tv, die westliche Politik im Nahen und Mittleren Osten werde sich neu orientieren müssen. "Die Verlässlichkeit von Diktatoren ist nicht länger gewährleistet."

"Der Nahe Osten erlebt gerade einen Frühling der Freiheit", sagte Lüders. Für westliche Regierungen, die in diesen Diktaturen lange Zeit solide Verbündete hatten, die für relative Stabilität sorgen konnten, sei dies bitter. "Aber diese Stabilität glich einer Friedhofsruhe. Jetzt ist der Druck vom Kessel genommen."

Mubarak war drei Jahrzehnte lang einer der engsten Verbündeten der USA in der arabischen Welt, doch angesichts der Gefahr eines Machtvakuums in Ägypten drängt Washington nun auf eine rasche Neuordnung der Machtverhältnisse, damit Ägypten nichts ins Lager der radikalislamischen anti-westlichen Kräfte abdriftet.

Quelle: ntv.de, fma/rpe/sba/hdr/rts/dpa/AFP

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