Liberale werden zum Königsmacher Großbritannien ohne Mehrheit
07.05.2010, 10:11 Uhr
Brown möchte die Downing Street nicht verlassen.
(Foto: AP)
Hängepartie in Großbritannien: Die Konservativen verfehlen bei den Wahlen die absolute Mehrheit, die Parteien steuern auf ein Patt zu. Das könnte Premier Brown sein Amt retten, an das er sich mit aller Macht klammert. Allerdings braucht er dafür die Liberalen, die trotz ihres enttäuschenden Abschneidens zum Königsmacher auf der Insel werden.
Der Poker um die Macht in Großbritannien ist eröffnet: Die oppositionellen Konservativen können sich nach einer langen Wahlnacht zwar als stärkste Partei positionieren - allerdings kommen sie nach Auszählung der meisten Wahlkreise nicht auf die nötige absolute Mehrheit der Parlamentssitze. Premierminister Gordon Brown klammert sich derweil an die Macht, obwohl seine Labour-Partei auf eines ihrer schlechtesten Ergebnisse in der Nachkriegsgeschichte zusteuert.
Erstmals seit 36 Jahren könnte es nun im Königreich wieder eine Koalitions- oder Minderheitsregierung geben. Ob dann Tory-Chef David Cameron neuer Premier ist oder Brown weiter in der Downing Street bleibt, ist noch völlig offen. Entscheidend sind in jedem Falle die Liberaldemokraten, die allerdings weit hinter den hohen Erwartungen zurückgeblieben sind. Sie wollen erst am Samstag darüber beraten, wie sie weiter vorgehen.
Grüne gewinnen erstmals Sitz
Das offizielle Endergebnis weist 306 Sitze für die Konservativen aus. Labour erringt 258 Sitze, die Liberaldemokraten 57. Für die absolute Mehrheit sind 326 Sitze im Parlament nötig. Zum Zünglein an der Waage könnten diesmal sogar kleine Regionalparteien, etwa aus Schottland, Wales oder Nordirland werden.
Erstmals überhaupt zieht mit der Europaparlamentarierin Caroline Lucas eine Abgeordnete der Grünen ins britische Unterhaus ein. Verstärktes Augenmerk richtete sich auch auf die Rolle der Königin. Sie empfängt üblicherweise am Tag nach der Wahl den neuen Premierminister. In der nun noch undurchsichtigen Lage hält sich Elizabeth II. ausdrücklich zurück.
Parteien erheben Machtanspruch
Die Konservativen beanspruchen die Macht bereits für sich. Cameron betonte noch in der Nacht, dass die Wähler Labour "klar das Mandat zum Regieren" entzogen hätten. Brown wiederum sagte, er werde seinen Beitrag zu einer "starken, stabilen und richtungsweisenden" Regierung leisten.
Weil erstmals seit 1974 keine der Parteien eine absolute Mehrheit im Unterhaus haben, wird es so genanntes "Hung Parliament" geben. In Großbritannien hat der amtierende Premierminister dann das Recht - sogar die Pflicht - so lange im Amt zu bleiben, bis feststeht, welche Partei oder Koalition die meiste Unterstützung im Parlament hat. Er darf dabei auch als erster eine Regierungsbildung angehen.
Trotzdem lässt Premierminister Gordon Brown den oppositionellen Konservativen den Vortritt bei Koalitionsgesprächen mit den Liberal-Demokraten. Beide Parteien müssten die Zeit für solche Beratungen erhalten, sagte Brown am Freitag nach der Wahlschlappe seiner Labour-Partei. Sollten diese Gespräche keine Einigung bringen, sei er seinerseits zu Gesprächen mit den Liberal-Demokraten über die Bildung einer Regierung bereit.
Liberale müssen entscheiden
Unklar ist jedoch auch noch, ob Labour überhaupt zusammen mit den Liberaldemokraten auf eine klare Mehrheit kommt. Am Vormittag zeichnete sich ein Patt ab. Der Parteichef der "Lib Dems", Nick Clegg, hält sich noch bedeckt. Er sagte lediglich: "Das war eine enttäuschende Nacht. Wir haben einfach nicht das erreicht, was wir uns erhofft haben." Clegg plädierte in für ein besonnenes Vorgehen. "Ich denke, es wäre am besten, wenn sich jeder ein bisschen Zeit nähme, damit die Menschen die gute Regierung bekommen, die sie in diesen sehr schweren und ungewissen Zeiten verdienen."
Die Liberaldemokraten hatten in den Umfragen vor dem Urnengang teilweise auf Platz zwei hinter den Konservativen und vor der regierenden Labour-Partei gelegen. Bei den Sitzen dürfte die Partei nach Nachwahlbefragungen und ersten Auszählungsergebnissen aber weniger Sitze als bisher im britischen Unterhaus erreichen.
Brown ist seit drei Jahren Premier. Er hatte das Amt 2007 von Tony Blair übernommen, der zehn Jahre regiert hatte. Noch in der Nacht brachen Spekulationen los, wer Brown als Parteichef nachfolgen könnte, falls er gehen müsste.
Wahlpannen und Bombenfund
Derweil bahnt sich in einigen Stimmbezirken ein juristisches Nachspiel an. Hunderte Wähler, die sich rechtzeitig in den Schlangen vor den Wahllokalen angestellt hatten, waren nicht mehr zum Zuge gekommen und wurden weggeschickt. In anderen Wahllokalen gingen wegen des Andrangs die Stimmzettel aus. Mehrfach wurde die Polizei gerufen, um wütende Wähler zu besänftigen. Die Wahlkommission erklärte, sie sei "ernsthaft besorgt" über die Vorwürfe, und kündigte eine genaue Prüfung der Beschwerden an.
Vor einem Wahllokal in Nordirland entschärfte die britische Armee nach Angaben der Polizei zudem eine Autobombe. In einem gestohlenen Auto vor dem Templemore-Freizeitzentrum in Londonderry, der zweitgrößten Stadt Nordirlands, habe sich ein funktionsfähiger Sprengsatz befunden. Das Freizeitzentrum, in dem die Stimmen der Wahlkreise Foyle und East Londonderry für das neue britische Unterhaus ausgezählt wurden, sei daher evakuiert worden.
Quelle: ntv.de, tis/dpa/AFP/rts