Politik

Turbulente Sitzung im Bundestag Hartz-IV-Reform beschlossen

Kanzlerin Merkel zeigt ihrem Außenminister Karikaturen über ihr beiderseitiges Verhältnis. Eine davon war vor ein paar Tagen Titelbild der "taz".

Kanzlerin Merkel zeigt ihrem Außenminister Karikaturen über ihr beiderseitiges Verhältnis. Eine davon war vor ein paar Tagen Titelbild der "taz".

(Foto: dapd)

Nach einer Unterbrechung der Sitzung beschließt der Bundestag mit den Stimmen der Koalition die Hartz-IV-Reform. In zwei Wochen steht die Entscheidung im Bundesrat an. Nach der Debatte im Bundestag darf eine Zustimmung dort als unwahrscheinlich gelten.

In der Debatte des Bundestages über die Hartz-IV-Reform ist die Sitzung nach einem heftigen Schlagabtausch zwischen Koalition und Opposition für eine halbe Stunde unterbrochen worden. Die SPD hatte mit einem ungewöhnlichen Schritt die Regierungsfraktionen provoziert: Sie ersetzte den letzten Redner auf ihrer Liste kurzfristig durch Parteichef Sigmar Gabriel. Dieser attackierte Arbeitsministerin Ursula von der Leyen, die bereits gesprochen hatte.

"Sie packen nur ein Päckchen von 740 Millionen Euro", schimpft SPD-Chef Gabriel.

"Sie packen nur ein Päckchen von 740 Millionen Euro", schimpft SPD-Chef Gabriel.

(Foto: dpa)

Die Ministerin verbreite die Unwahrheit, wenn sie behaupte, Rot-Grün habe nichts für Kinder getan. Das Gegenteil sei der Fall: Die damalige Regierung habe vier Milliarden Euro für das Ganztagsschulprogramm und auch Geld für ein Schulstarterpaket bereitgestellt.

Gabriel warf von der Leyen vor, sie schnüre als "Verpackungskünstlerin" Bildungs- und Teilhabepäcken für Kinder, löse damit aber keine Probleme. "Investiert das Geld in die Schulen und nicht in solche Päckchen", rief der SPD-Chef. Notwendig seien mehr Erzieher und Sozialpädagogen an den Schulen. "Verkleckern Sie das nicht mit Mini-Bildungspäcken, die niemandem wirklich helfen", rief Gabriel.

Zweiter Auftritt von der Leyen

Die Unionsfraktion tauschte daraufhin ihren letzten Redner ebenfalls aus, um von der Leyen ein zweites Mal die Gelegenheit zu geben, an das Rednerpult zu treten - dieses Mal nicht als Ministerin, sondern als Abgeordnete. Sie nannte Gabriels Äußerungen ein "Armutszeugnis". Alles, was er gefordert habe, hätte die SPD in den elf Jahren ihrer Regierungszeit auf den Weg bringen können.

Für ihre zweite Rede erhielt von der Leyen, die danach statt auf der Regierungsbank in der ersten Reihe der Unionsfraktion Platz nahm, minutenlang Applaus von Union und FDP.

Merkel schickt von der Leyen nach ihrer zweiten Rede weg von der Regierungsbank zur Unionsfraktion.

Merkel schickt von der Leyen nach ihrer zweiten Rede weg von der Regierungsbank zur Unionsfraktion.

(Foto: dpa)

Bei der Opposition stieß ihr Auftritt dagegen auf erkennbaren Unmut. Die Linksfraktion beantragte eine Sitzungsunterbrechung, weil von der Leyen zum zweiten Mal das Wort ergriffen hatte. Damit müsse nach dem üblichen parlamentarischen Verfahren die Debatte neu eröffnet werden, sagte die parlamentarische Geschäftsführerin der Linken, Dagmar Enkelmann.

Der Vizepräsident des Bundestages, Hermann Otto Solms (FDP), rief daraufhin den Ältestenrat zusammen. Dieser verständigte sich einvernehmlich darauf, dass die Debatte um 20 Minuten verlängert wird. Schließlich stimmte der Bundestag mit der Mehrheit der Koalition für den Gesetzentwurf. Der Bundesrat stimmt am 17. Dezember ab. In der Länderkammer hat die Koalition keine Mehrheit.

"Kommen Sie ins Boot"

Von der Leyen hatte zum Auftakt der Debatte an die Opposition appelliert, die zum Jahreswechsel geplante Einführung des Bildungspaketes für Kinder aus Hartz-IV-Familien nicht zu blockieren. "Kommen Sie ins Boot, machen Sie mit", sagte die CDU-Politikerin im Parlament.

Die Kritik der Opposition an der Berechnung der Hartz-IV-Regelsätze, die im Zuge der Reform um fünf Euro steigen sollen, wies sie zurück. Die Opposition kritisiere zwar das Berechnungsverfahren, sage aber nie konkret, was sie haben wolle. "Soviel Transparenz wie heute war noch nie", befand von der Leyen.

SPD fordert Mindestlohn

Die SPD macht ihre Zustimmung von einem Einstieg in einen gesetzlichen Mindestlohn abhängig. Anderenfalls werde die SPD dem Paket im Bundesrat nicht zu einer Mehrheit verhelfen, machte Vizefraktionschefin Elke Ferner deutlich.

Ferner geht davon aus, dass der Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat angerufen wird. Wenn die schwarz-gelbe Koalition in dem Gremium nicht bereit sei, einen verfassungskonformen Regelsatz, ein echtes Teilhabepaket und einen Einstieg in den Mindestlohn zu machen, "werden Sie auch da keine Zustimmung von uns kriegen".

Linken-Fraktionschef Gregor Gysi nannte die Neuregelung der Hartz-IV-Regelsätze verfassungswidrig. Sie sei nicht verfassungskonform, sondern "haushaltskonform zurechtgetrickst worden". Das ganze Vorhaben sei "grob ungerecht".

Richter befürchten Klagewelle

Auch bei Rechtsexperten wecken die Gesetzespläne der Bundesregierung Zweifel. "Es wurden mittlerweile so viele verfassungsrechtliche Bedenken erhoben, dass mit Sicherheit eine ganze Reihe neuer Verfahren bei den Gerichten eingehen wird", sagte der Vorsitzende des Bunds deutscher Sozialrichter, Hans-Peter Jung, der "Süddeutschen Zeitung". Die Verfahren würden sich sowohl gegen die Höhe der Regelleistungen als auch gegen deren Berechnung richten.

Auch der hessische Sozialrichter Jürgen Borchert bezweifelt, dass das Gesetz verfassungsgemäß ist. Borchert sagte der "Berliner Zeitung", die Forderung des Bundesverfassungsgerichts nach transparenter Berechnung des Hartz-IV-Regelsatzes werde nicht erfüllt. "Es wurde offenbar versucht, die Zahlen nach unten zu rechnen", so Borchert, der in der Öffentlichkeit wiederholt Kritik an den Hartz-IV-Regelung geübt hat. "Auf jeden Fall kann man davon ausgehen, dass über kurz oder lang ein Sozialgericht einen Fall wieder dem Bundesverfassungsgericht vorlegt."

Fünf Euro mehr, zehn Euro für Sport

Den Plänen zufolge soll der Hartz-IV-Regelsatz zum 1. Januar von 359 auf 364 Euro steigen. Auch ohne die Zustimmung des Bundesrats haben rund zwei Millionen Kinder in Hartz-IV- und Geringverdienerfamilien ab Jahresanfang Anspruch etwa auf einen Zuschuss zum Schulessen und zum Nachhilfeunterricht. Für eintägige Schulausflüge gibt es 30 Euro im Jahr. Sportverein und Musikschule werden mit 10 Euro im Monat bezuschusst. Das Bundesverfassungsgericht hatte verlangt, die Leistungen bis Ende 2010 neu zu berechnen und Bildungsausgaben für Kinder stärker zu berücksichtigen.

Quelle: ntv.de, hvo/AFP/rts/dpa

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